04 December 2025

Wenn der alte Wein besser schmeckt

Die vergessenen Einsichten einer Diskussion vor fünfzig Jahren zu Praxis-Checks in der Gesetzgebung

Auch in dem Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung findet sich die Forderung nach „Praxis-Checks“ in der Gesetzesvorbereitung wieder. Jedes Bundesministerium würde pro Jahr „mehrere Praxischecks“ bei bestehenden Gesetzen durchführen, um Potentiale für einen Abbau von Bürokratie zu identifizieren (S. 61). Zudem sollen Praxis-Checks durchgeführt werden, bevor neue Gesetze verabschiedet werden. Insbesondere im Bereich der Sozial- oder Gesundheitspolitik soll dies dazu beitragen, unnötige Berichtspflichten und Datenschutzvorschriften zu vermeiden (S. 16 und S. 110).

Dabei scheinen die aktuellen Koalitionäre vergessen zu haben, dass bereits vor fünfzig Jahren Politik und Verwaltung intensiv diskutiert haben, ob Praxis-Checks in der Gesetzgebung eingeführt werden sollten. In der Endphase der sozialliberalen Koalition hatte der damalige Innenminister Gerhard Baum die Crème de la Crème der deutschen Staatsrechtler, Verwaltungswissenschaftler und Organisationssoziologen zu einer „Sachverständigenanhörung“ zu Ursachen der „Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung“ zusammengezogen, die interessante Perspektiven zu Praxistauglichkeitstests erarbeitet haben, die heute aus dem Blick geraten sind. Dieser Beitrag versucht, zumindest drei Gedanken aus der damaligen Diskussion – zu möglichen Formen der Institutionalisierung von Praxis-Checks, zu deren ungewollten Nebenfolgen und zu den möglichen Ursachen ihres Scheiterns – zu bewahren.

Praxis-Checks in der heutigen Debatte

Mit der Ankündigung von regelmäßigen „Praxischecks“ wird den in ihrer Selbstverständlichkeit fast schon irritierend allgemeinen Aussagen zur „guten Gesetzgebung“ im Koalitionsvertrag zumindest die Suggestion einer Konkretisierung gegeben. Nicht wenige Beobachter haben sich darüber lustig gemacht, dass Plattitüden wie „Gesetze, Verordnungen und Regelungen, die nicht gemacht werden müssen, werden wir nicht machen“ oder „Erst der Inhalt, dann die Paragrafen“ Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden haben. Zudem will die Bundesregierung Umsetzungswillen beim Abbau der Bürokratie zeigen: Sie spricht davon, dass „Betroffene sowie Vollzugsexperten“ mit „angemessenen Fristen“ in der Frühphase von Gesetzgebungsverfahren eingebunden werden sollen und in künftigen Gesetzesentwürfen „Organisationsstrukturen, Prozessabläufe und Wirkungsmodelle“ visualisiert werden sollen (S. 59).

Aber schon die unterschiedliche Schreibweise im Koalitionsvertrag – an einigen Stellen handelt es sich um „Praxischecks“, an anderen um „Praxis-Checks“ – zeigt, dass hier in aller Schnelle Überlegungen zum Bürokratieabbau zusammengeklaubt wurden. Die plakative Formel „Erst der Inhalt, dann die Paragraphen“ – hinterlegt mit der Forderung nach einer „bildlichen Darstellung von Problemlagen, Wirkmechanismen und Vollzugsprozessen“ – stammt aus einer Auftragsstudie der Beratungsfirma McKinsey für den Normenkontrollrat. Die Aussage im Koalitionsvertrag, dass Gesetzgebung „gründlich, integrativ und transparent“ zu sein hat, wurde eins zu eins aus einem Positionspapier der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ abgeschrieben.

Die vergessliche Politik

Dieses Zusammenstückeln von Koalitionsverträgen aus unterschiedlichen Versatzstücken ist schon allein aufgrund des Zeitdrucks erklärbar. Auffällig ist aber, wie in der Diskussion des Koalitionsvertrags – aber auch bei der Erstellung der vorgelagerten Gutachten und Positionspapiere – frühere Diskussionen in der bundesdeutschen Politik über die Wirkung von Praxis-Checks ignoriert wurden.

Das systematische Ausblenden früherer Initiativen und Analysen ist für die Politik an sich kein Problem. Ohne zu vergessen, wie frühere Bemühungen scheiterten, hätte man vermutlich auch nicht mehr die Kraft, um den politisch alten Wein in immer neuen Schläuchen anzubieten. Es hat aber doch auch eine gewisse Tragik, wenn alte Debatten übersehen werden. Denn diese waren sowohl in der Analyse der Probleme im Gesetzgebungsprozess als auch in der Abwägung der Formen der Umsetzung von Praxis-Checks weiter als die heutigen Diskussionen. In der aktuellen Diskussion über Praxis-Checks wird nicht nur alter Wein in neuen Schläuchen verkauft, sondern der Wein wurde dabei so verdünnt und gestreckt, dass man sich nach der Qualität des alten Weins zurücksehnt.

Schwachstellen im Gesetzgebungsprozess

Die Klage über die Probleme in der Gesetzgebung hat sich in den letzten fünfzig Jahren kaum verändert. Die Wirksamkeit eines Gesetzes, so die Klage schon damals, hänge maßgeblich davon ab, ob es für die nachgelagerten Vollzugsbehörden auch umsetzbar sei. Dafür reiche es nicht aus, so schon die Auffassung vor fünfzig Jahren, die Wirkung von Gesetzen nach ihrer Umsetzung auszuwerten. Bereits bei in der Entwicklung befindlichen Gesetzen sollte mithilfe von Praxis-Checks ihre Wirksamkeit überprüft werden. Dafür müssten die Gesetzgeber auf Bundesebene intensiv mit den Landesbehörden zusammenarbeiten, die für die Umsetzung zuständig sind. Diese haben dann durch Nachfragen und Nachforschungen die Möglichkeit, mögliche Implementationsdefizite frühzeitig zu identifizieren.1)

Das Problem sei, dass weder Parteibürokratien, Beratungsdienste der Parlamente noch Ministerialverwaltungen über ausreichend eigene Erfahrungen und praktische Kompetenz verfügen, um einschätzen zu können, wie sich Gesetze in der einen Kreisbehörde, Stadtverwaltung oder Gemeindeamt auswirken. Die Schwierigkeit werde, so die damalige Klage, die man auch heute fast in der gleichen Formulierung hört, dadurch verschärft, dass immer weniger Beamte in den für die Gesetzgebung zuständigen Referaten der Ministerien, den Zentralinstanzen des Kanzleramtes oder den wissenschaftlichen Beratungsdiensten des Bundestages Verwaltungserfahrung auf der Gemeinde-, Kreis- oder auch nur Landesebene gesammelt hätten.2) Dieses Defizit müsste durch formal vorgeschriebene Praxis-Checks in Form von Explorationen und Erprobungen kompensiert werden.

Um sicherzustellen, dass diese Praxistests auch berücksichtigt würden, müssten sich die Referentenentwürfe aus den Ministerien explizit auf die Erprobungs- und Evaluierungsergebnisse der Praxis-Checks beziehen. Es sei, so die Forderung schon damals, ausdrücklich zu begründen, wie die Ergebnisse aus den Erprobungen in den nachgeordneten Behörden und Kommunalverwaltungen in die Gesetzesentwürfe eingeflossen seien oder warum sie keine Berücksichtigung gefunden hätten. Nur durch eine solche formale Verankerung im Prozess der Gesetzesvorbereitung könnte sichergestellt werden, dass den Praxis-Checks sowohl bei der Entwicklung neuer Gesetze als auch bei der Auswertung bereits bestehender Gesetze entsprechendes Gewicht gegeben werde.3)

Lektionen auf der Sachverständigenanhörung zu Praxis-Checks

Die ausgeprägte Vergesslichkeit in Bezug auf vergangene Verwaltungsreformbemühungen, darauf weist der Organisationsforscher Nils Brunsson immer wieder hin, ist hochgradig funktional.4) Woher sonst würden Experten in Reformkommissionen, Verhandler von Koalitionsverträgen oder Beamte auf Bürokratierückbaustellen ihre Begeisterung für die Einführung von Praxis-Checks nehmen? Die Auswechslung des Vokabulars in der aktuellen Diskussion – aus „Praxistest“ wird „Praxis-Check“, aus „Planspiel“ wird „Exploration“ und aus „Simulation“ wird „Erprobung“ – hilft dabei, die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit ähnlicher Überlegenheit zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Im Hinblick auf die Vorschläge aus der damaligen Sachverständigenanhörung lohnt sich eine archäologische Forschung in den Reformruinen der letzten Jahrzehnte, weil diese dabei hilft, einige zentrale Probleme der aktuellen Diskussion über die Einführung von Praxis-Checks in der Gesetzgebung zu vermeiden. Gerade die wissenschaftliche Auswertung der Anhörung durch die spätere Direktorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Renate Mayntz, ist aufschlussreich, weil diese zeigt, dass die Experten damals an einer Reihe von Punkten viel weiter waren, als es die heute zum Bürokratieabbau vorgebrachte monotone Forderung nach mehr Praxistauglichkeitstests in der Gesetzgebung vermuten lässt.5) Besonders drei Punkte lohnen sich dabei, hervorgehoben zu werden.

Erstens gab es in der Anhörung eine heute weitgehend ignorierte Debatte über geeignete Formen der Institutionalisierung von Praxis-Checks. Dabei wurden Möglichkeiten der prozeduralen Absicherung, der organisationalen Verankerung und der personalen Expertise gegeneinander abgewogen. Es wurde dabei analysiert, wie auf der Ebene der Ministerialbürokratie Mechanismen etabliert werden können, um eine bessere Gesetzgebung zu erreichen – etwa in Form von vorgeschalteten Analysen, verpflichtenden Erprobungen, festgelegten Berichtspflichten und Ablauffristen für Gesetze. Auf Ebene der organisationalen Einbindung in die Kommunikations- und Entscheidungswege wurden die Vor- und Nachteile von wissenschaftlichen Kommissionen, Expertenbeiräten, speziellen Einheiten in den einzelnen Ministerien und von einem Kompetenzzentrum im Kanzleramt diskutiert. Unter Personalgesichtspunkten wurde diskutiert, ob es nicht neben Juristen auch Experten anderer Disziplinen bräuchte. Gäbe es die Möglichkeit, Juristen so weiterzubilden, dass sie explorieren können, wie bestimmte Regulationen in der Verwaltung wirken? Während sich die aktuelle Diskussion weitgehend auf Forderungen nach einem „Werkzeugkasten für bessere Gesetze“ – also „Wirksamkeitschecks“, „Digital-TÜV“ und „Gesetzgebungslaboren“ – beschränkte, zeigte die Diskussion vor fünfzig Jahren ein sehr genaues Verständnis dafür, wie Praxis-Checks konkret verankert werden könnten: Nämlich indem man sie fest in die Kommunikations- und Entscheidungsprozesse einbaut und die Personalstruktur so anpasst, dass die nötige fachliche Expertise auch personell abgebildet wird.

Zweitens herrschte in der Sachverständigenanhörung ein genaues Gespür für die ungewollten Nebenfolgen von Praxis-Checks. Praxisprüfungen in verschiedenen Kommunalverwaltungen und Beteiligung von Experten unterschiedlicher Fachrichtungen im Vorfeld können die Umsetzbarkeit eines Gesetzes erleichtern. Sie stellen aber gleichermaßen eine bürokratische Verkomplizierung dar, die das Verfahren zwangsläufig verlangsamt. So hat es eine gewisse Ironie, dass heute manchmal im gleichen Atemzug gefordert wird, Mitsprachemöglichkeiten in Genehmigungsverfahren zugunsten schnellerer Verfahren einzuschränken und gleichzeitig aufwendige Praxis-Checks in der Gesetzgebung einzuführen. So wird von der Bundesregierung hervorgehoben, dass man ein „jetzt schon komplexes Gesetzgebungsverfahren“ nicht „mit weiteren Checks“ wie einem „Energiecheck“ oder einem „Sozialcheck“ belasten wolle. Gleichzeitig mahnt sie an vielen Stellen die Einführung von „Praxischecks“ an (so die Initiative für einen handlungsfähigen Staat, S. 110). Die Diskussion vor fünfzig Jahren hat gezeigt, dass verpflichtende Praxis-Checks durchaus organisational und prozessual in den Ministerien verankert werden können, dann aber auch eingepreist werden muss, dass sich der Gesetzgebungsprozess weiter verlängert.

Drittens wurde damals herausgearbeitet, dass die Durchführung von Praxis-Checks nicht bedeutet, dass die Ergebnisse auch tatsächlich im Gesetzgebungsverfahren beachtet werden. Bei einem Pilotprojekt in Stuttgart vor fünfzig Jahren zeigte ein Praxis-Check, dass die von der Stadt geplante Reform des Baustatistikgesetzes den Verwaltungsaufwand versiebenfachen würde. Die Ergebnisse des Praxis-Checks wurden dann aber in den Parlamentsberatungen nicht beachtet, weil vermutet wurde, dass mit diesen Erkenntnissen die Intentionen der Gesetzgeberinitiative unterlaufen werden sollten.6) Es sei naiv, so schon die damalige Erkenntnis, zu glauben, dass Evaluierungen, Praxis-Checks und Reallabore allein durch ihre Resultate eine Wirkmacht entwickelten. Sie werden vielmehr in den Auseinandersetzungsprozessen eines Gesetzgebungsverfahrens als Argument genutzt, wenn sie in die eigene politische Agenda passen.7)

Mikropolitik im Praxis-Check

In der Politik gibt es die je nach Geschmack dem Philosophen Nicolas Chamfort, dem Dichter John Godfrey Saxe, dem Politikwissenschaftler Claudius O. Johnson oder Reichskanzler Otto von Bismarck zugeschriebene Aussage, dass Gesetze wie Würste seien – man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden. Mit diesem Spruch wird darauf hingewiesen, dass ein Gesetz nicht das Resultat eines an Rationalitätskriterien orientierten Suchprozesses, sondern eines durch Interessensgegensätze, Stimmungsschwankungen und Zufälle geprägten Aushandlungsverfahrens ist. Das spricht nicht gegen die Einführung von Praxis-Checks, in denen überprüft wird, wie gut sich Gesetze in digitalisierten Verwaltungsverfahren umsetzen lassen. Aber sie werden nur Erfolg haben, so schon die damalige Einschätzung bei der Sachverständigenanhörung, wenn man ein Gespür dafür hat, wie diese strategisch in den mikropolitischen Spielen des Gesetzgebungsverfahrens eingesetzt werden.

References

References
1 Siehe die Stellungnahme von Konrad Kruis in Bundesminister des Innern (Hrsg.): Sachverständigenanhörung zu Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung sowie zu ausgewählten Vorhaben zur Verbesserung der Verhältnisse von Bürger und Verwaltung am 19. und 20. Juni in Bonn. Teil A – Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen. Bonn 1980, S. 231. Renate Mayntz: Gesetzgebung und Bürokratisierung. Wissenschaftliche Auswertung der Anhörung zu Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung. Köln 1980, S. 96.
2 Siehe dazu Rolf Wandhoff in der Sachverständigenanhörung beim Bundesminister des Innern (wie Anm. 1), S. 233.
3 Siehe dazu Hellmut Wollmann in der Sachverständigenanhörung beim Bundesminister des Innern (wie Anm. 1), S. 303.
4 Siehe nur beispielsweise Nils Brunsson: The Irrationality of Action and Action Rationality: Decisions, Ideologies and Organizational Actions. In: Journal of Management Studies 19 (1982), S. 29 – 44.
5 Renate Mayntz: Gesetzgebung und Bürokratisierung. Wissenschaftliche Auswertung der Anhörung zu Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung. Köln 1980.
6 Siehe dazu Kruis in der Sachverständigenanhörung beim Bundesminister des Innern (wie Anm. 1), S. 166.
7 Siehe dazu auch die frühen Forschungen von Hans-Ulrich Derlien: Die Erfolgskontrolle staatlicher Planung. Baden-Baden 1976.

SUGGESTED CITATION  Kühl, Stefan: Wenn der alte Wein besser schmeckt: Die vergessenen Einsichten einer Diskussion vor fünfzig Jahren zu Praxis-Checks in der Gesetzgebung, VerfBlog, 2025/12/04, https://verfassungsblog.de/burokratieabbau-praxis-checks-gesetzgebung/.

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