15 December 2023

Abgehakt

Das Wahlrechts-Reförmchen von 2020 passiert das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat das im Herbst 2020 von der Großen Koalition modifizierte Wahlrecht durchgewunken (Az. 2 BvF 1/21). Die jüngste Wahlrechts-Entscheidung fällt inhaltlich genauso enttäuschend aus wie die Gesetzesänderung, über die das Gericht zu befinden hatte. Das war aus mehreren Gründen erwartbar. Dennoch lässt die Begründung viele Fragen offen.

Erstens ist der Grundsatz der Normenklarheit, auf den die damaligen Oppositionsfraktionen (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, DIE LINKE, FDP) ihren Kontrollantrag maßgeblich gestützt haben, im Unterschied zu den verfassungsrechtlich normierten Wahlrechtsgrundsätzen sehr vage. Je weicher aber der Maßstab, desto stärker die Notwendigkeit einer Abwägung mit den weitreichenden Konsequenzen einer Verfassungswidrigkeit der Sitzzuteilung im Bundestag. In diese Abwägung mag zweitens eingeflossen sein, dass das Wahlrecht zwischenzeitlich von der Ampel-Koalition (SPD, BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN, FDP) bereits wieder geändert wurde, so dass es bei der nächsten Bundestagswahl gar nicht mehr zur Anwendung kommen wird. Zur Anwendung kommen sollte es aber drittens für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht am 19.12.2023 für die noch laufende Legislaturperiode eine partielle Nachwahl in Berlin anordnet. Denn eine Nachwahl hat nach denselben Vorschriften und auf denselben Grundlagen stattzufinden wie die Hauptwahl.

Ob sich die Mehrheit des Senats von diesen praktischen Auswirkungen hat leiten lassen oder ihrer ungeachtet streng dogmatisch entschieden hat, ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Sie wirkt nüchtern, technisch, leidenschaftslos, müde. Ein Gerichtsurteil halt, mögen manche meinen, keine Verfassungsprosa oder gar -lyrik, andere aufatmen. Aber zugleich spürt man doch, welche Mühen der Berichterstatter Müller gehabt haben muss, die Begründung der tragenden Senatsmehrheit gegen seine eigene Überzeugung zu formulieren. Denn wenn es im Wahlrecht auch fast schon die Regel ist, dass Verfassungsgerichtsentscheidungen nicht einstimmig ergehen, ist es doch eine Besonderheit dieses Urteils, dass sich der Berichterstatter mit seiner Auffassung offensichtlich nicht durchsetzen konnte und mit zwei weiteren Richtern stattdessen eine gemeinsame abweichende Meinung formuliert hat. Beide Ausführungen, die der Mehrheit wie die der Minderheit im Senat, lassen indes manche Aspekte und Argumente liegen, die sich für die Beurteilung der Mini- und Interims-Reform des Wahlrechts von 2020 doch geradezu aufdrängen.

Gerichtsinterner Streit über den Maßstab

Zunächst befasst sich das Gericht etwas näher mit dem Maßstab der Normenklarheit. Die folgende Klarstellung war dem Zweiten Senat so wichtig, dass er sie sogar zum Leitsatz der Entscheidung erhoben hat: „Bei dem Gebot hinreichender Bestimmtheit und Klarheit der Gesetze handelt es sich um ein einheitliches Postulat“ mit einem „einheitlichen Maßstab“. Mit diesem Befund distanziert er sich vom Ersten Senat, der in einer Reihe von jüngeren Entscheidungen zwischen der Bestimmtheit und der Normenklarheit unterschieden hat. Während die Bestimmtheit in erster Linie auf die gesetzesgebundene Exekutive und Judikative bezogen sei, stünde bei der Normenklarheit vor allem die inhaltliche Verständlichkeit für die Bürger im Vordergrund stünde, meint der Erste Senat. Wegen ihres unterschiedlichen Adressatenkreises könne eine Norm zwar hinreichend bestimmt, unter Umständen aber nicht ausreichend normenklar sein.

Überzeugt hat diese ebenso weite wie differenzierte Auslegung des Rechtsstaatsprinzips, das seinerseits nicht unmittelbar im Grundgesetz normiert ist, ehrlicherweise nie. Insofern spricht einiges für das einheitliche Verständnis des Zweiten Senats. Aber die gerichtsinterne Auseinandersetzung über das Verhältnis beider Maßstäbe ist mit der jetzigen Entscheidung wohl erst eröffnet, nicht beendet. Der Erste Senat wird schon bald, etwa im Urteil über das novellierte BKAG, Gelegenheit haben, sich zu beiden Grundsätzen und ihrem Verhältnis zueinander zu befassen.

Gesetzgeber muss seine eigenen Gesetze verstehen (können)

Erstaunlicherweise lassen aber beide Senate in ihren theoretischen Überlegungen zur Bestimmtheit und Normenklarheit einen Adressaten vollständig außen vor: den Gesetzgeber. Gesetze, so ließe sich doch sowohl aus demokratischer wie rechtsstaatlicher Perspektive argumentieren, müssen doch auch deshalb klar und bestimmt sein, damit sichergestellt ist, dass die Abgeordneten verstehen, was sie beschließen. Ein Mindestmaß an Bestimmtheit (und, wenn man denn überhaupt begrifflich differenzieren will, an Normenklarheit) schützt insofern auch den Gesetzgeber davor, Rechtsfolgen zu bewirken, die er nicht anordnen will.

Wenn die Senatsmehrheit meint, dass die Notwendigkeit der Einschaltung von Dritten für das Verständnis von Gesetzen nicht schädlich sei, ist dies bei genereller Betrachtung natürlich zutreffend. So gut wie kein Gesetz ist aus sich selbst heraus verständlich, sondern bedarf der „Übersetzung“ durch Juristen. Wenn diese „Übersetzung“ aber schon bei für den entscheidenden Beschluss im Bundestag notwendig ist, wenn also der Gesetzentwurf zunächst für die Abgeordneten „übersetzt“ werden muss und das von ihnen verabschiedete Gesetz anschließend der „Rückübersetzung“ bedarf, dann kann sich die legitimierende Kraft des Bundestagsbeschlusses nicht entfalten. Es dürfte jedenfalls von starker Indizwirkung sein, wenn die große Mehrheit der Abgeordneten das Gesetz, das sie verabschieden, nicht verstehen – und vor allem noch nicht einmal verstehen können.

Legitimationsfunktion außer Acht gelassen

Überhaupt vernachlässigen sowohl die Mehrheits- als auch die Minderheitsmeinung im Senat die dem Wahlrecht zukommende Legitimationsfunktion. Vielleicht wird sie mitgedacht, wenn das Urteil von der Integrationsfunktion der Wahl spricht. Doch es hätte nahe gelegen, aus der besonderen legitimationsvermittelnden Bedeutung der Wahl in einer rein repräsentativen Demokratie, die auf Bundesebene keine Formen der direktdemokratischen Mitwirkung kennt, in der also die Übertragung vom Inhaber der Staatsgewalt auf die Organe ihrer Ausübung allein dem Wahlakt vorbehalten ist, auch ein besonderes Bestimmtheitsmaß abzuleiten. Nicht überzeugend ist es jedenfalls, aus dem Vergleich mit den Anforderungen an klassische oder gar noch heimliche Eingriffe auf einen nur abgeschwächten Bestimmtheitsmaßstab für das Wahlrecht zu schließen. Vielmehr hätte das Gericht darüber nachdenken können, die Bestimmtheitsanforderungen unabhängig davon zu definieren, ob die Bürger im Status negativus oder im Status activus betroffen sind.

Maßstab der Normenklarheit nicht scharfgestellt

Ohne die Berücksichtigung der Legitimationsfunktion bleibt es beim Alten: Das Bundesverfassungsgericht – genauer: dessen zweiter Senat, noch genauer: die entscheidungstragende Mehrheit dieses Senats – betont die Bestimmtheit und Normenklarheit zwar als relevanten Maßstab für das Wahlrecht, stellt diesen aber nicht scharf. Wie auch schon in früheren Entscheidungen soll dem Maßstab vielmehr schon dann Genüge getan sein, wenn sich der Inhalt des Gesetzes durch „methodengerechte Auslegung“ ermitteln lasse.

Dass eine „methodengerechte Auslegung“ des Wahlrechts einen hinreichend bestimmten und normenklaren Inhalt ermöglicht, führt die anschließende Begründung der Senatsmehrheit vor Augen. Mit systematischen und teleologischen Buschmessern bahnt sie sich einen Weg durch den Normendschungel, der am Ende als alternativlos – und also als bestimmt – erscheint. Er ist ja auch bereits ausgetreten, denn die Wahlen haben schon stattgefunden. Der alte Bundeswahlleiter und die neue Bundeswahlleiterin warten am Ziel und bestätigen in der mündlichen Verhandlung sich selbst und dem Gericht, den richtigen Weg gegangen zu sein. Es entbehrt zudem nicht der Ironie, dass das Gericht an entscheidenden Stellen ausgerechnet demjenigen Autor eines Kommentars zum Wahlrecht vertraut und folgt, der im Bundesinnenministerium für die Formulierung des Gesetzentwurfs verantwortlich war. Hat er es auch nicht vermocht, dem Gesetz selbst Klarheit einzutrichtern, gibt er mit der Kommentierung doch jedenfalls Hinweise für dessen Interpretation. Möge die Schnitzeljagd beginnen!

Kontrollierbarkeit als maßgebliches Ziel von Bestimmtheit

Die Mehrheit des Senats räumt dem Bundeswahlleiter (bei allem grundsätzlichen Vertrauen in die Institution) aber zu viel Entscheidungsspielraum ein, wenn sie meint, zwischen den Bestimmtheitsanforderungen an die Vorschriften über die eigentliche Wahlhandlung und denjenigen über die Sitzverteilung differenzieren zu können. Sie argumentiert vereinfacht formuliert, dass der Wähler nur verstehen müsse, wie er seine Stimmen abgeben müsse, während er nicht zu verstehen brauche, wie aus allen abgegebenen Stimmen die Sitze im Bundestag verteilt würden. Dies ist eine ausgesprochen naive Betrachtungsweise. Entscheidend ist doch gerade auch, wie sich die Stimmabgabe auf die Sitzverteilung auswirkt, und selbst wenn mit Blick auf die große Unbekannte, das Wahlverhalten aller anderen, ohnehin nicht prognostiziert werden kann, ob die eigene Stimme einen Unterschied in der Sitzverteilung ausmacht, dann muss doch jedenfalls verstanden werden, was in der „black box“ passiert. Gerade der Umstand, dass ein und dieselbe Stimmenverteilung in Abhängigkeit vom Sitzverteilungsverfahren zu unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag führen kann, verlangt doch nach klaren und eindeutigen Vorgaben. Die Gebote der Bestimmtheit und Normenklarheit dienen insofern auch der Kontrollierbarkeit der Vollzugsbehörden, und diesen Aspekt vernachlässigt die Mehrheit des Senats, begnügt sich vielmehr mit dem Hinweis auf den Öffentlichkeitsgrundsatz. Dass die Öffentlichkeit ihrer Kontrollaufgabe aber nur gerecht werden kann, wenn die Sitzverteilung klar geregelt ist, wird nicht thematisiert.

Auch die Minderheit im Senat springt an dieser Stelle aber zu kurz, wenn sie zur Feststellung der Normenklarheit auf die Perspektive „der juristisch nicht vorgebildeten Wählerinnen und Wähler“ abstellt. Natürlich ist man als Jurist geschmeichelt, weil offensichtlich unterstellt wird, dass „juristisch vorgebildete Wählerinnen und Wähler“ das gesetzlich normierte Verfahren der Sitzzuteilung verstehen. Das dürfte indes mitnichten der Fall sein. Der maßgebliche Grund für das Unverständnis liegt ja nicht in der verbalen Umschreibung mathematischer Rechenschritte, sondern in den vielzähligen Binnenverweisungen. Eine solche Verweistechnik ist in Verfahren vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts schon oft zum verfassungsrechtlichen Fallstrick geworden. Die Novelle des Wahlrechts hätte gut darüber stolpern können (und vielleicht sollen). Denn der Gesetzgeber hat – womöglich in dem Willen, möglichst nah am ursprünglichen Gesetz zu bleiben – handwerklich schlicht schlecht gearbeitet. Hier ist zusammengepuzzelt und mit Tape verklebt worden, was auseinander gebaut und neu verschraubt, ja neu konzipiert gehört hätte.

Verfahren der Wahlrechtsnovelle nicht bewertet

Der Grund liegt wahrscheinlich auch in der Eile, mit dem das Gesetz während und kurz nach der Sommerpause verabschiedet wurde. Bedauerlicherweise verliert das Gericht kein Wort zum Verfahren, obwohl das Gesetz erkennbar mit heißer Nadel gestrickt worden ist. Nach der Einigung im Koalitionsausschuss, dem maßgeblichen Ideengeber, hatte das Bundesinnenministerium gerade einmal zwei Wochen Zeit, um aus der politischen Idee einen rechtsverbindlichen Gesetzentwurf zu zaubern. Immerhin fand im Innenausschuss noch eine Sachverständigenanhörung statt. Doch für eine inhaltliche Auseinandersetzung geschweige denn für Änderungen am Gesetzentwurf war es zu spät. Einmal mehr zeigt sich insofern, dass alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Akteure die ihnen zugedachte Aufgabe ernst nehmen sollten, um die vielbeschworenen „guten Gesetze“ zu verabschieden. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und ihre Konkretisierungen in den Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane geben an sich eine solide Struktur vor, es fehlt mitunter allein an der Gesetzgebungskultur.

Das Gericht als Reparaturwerkstatt des Gesetzgebers

Im Übrigen sollte das Gesetzgebungsverfahren nicht erst durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossen werden. Das gilt namentlich für das Wahlrecht. Das Grundgesetz hat seine Ausgestaltung dem einfachen Gesetzgeber überantwortet. Seine letzte Weihen aber erhält das Wahlrecht in der politischen Praxis erst durch das Bundesverfassungsgericht (dazu auch Michael Koß im Online-Symposium „Parlamentsentscheidungen in eigener Sache“). Selbst wenn das Wahlrecht – undenkbar fast schon – im Konsens aller politischen Parteien erlassen würde, würde es doch mit einer Verfassungsbeschwerde oder in Wahlprüfungsverfahren stets dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden. Das Gericht ist so zwar nicht förmlich, aber doch faktisch in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Aus verfassungstheoretischer Perspektive könnte man meinen, dass auf diese Weise – obwohl institutionell nicht vorgesehen – dem materiellen Verfassungscharakter des Wahlrechts Rechnung getragen wird, der eine andere, eine höhere Legitimation verlangt als einfache Gesetze. Doch dem theoretischen Bedürfnis, das Wahlrecht als materielles Verfassungsrecht die Legitimation einer verfassungsgebenden Gewalt angedeihen zu lassen, kämen andere Formen in Betracht, allen voran eine Volksabstimmung. Sie würde mit ihrer demokratischen Verwurzelung dem verfassungsgebenden Prozess besser gerecht als die in erster Linie rechtsstaatlich begründete Absicherung durch das Verfassungsgericht. Auch dieses jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt insofern Anlass, über eine Modifizierung des Verfahrens der Wahlrechtsgesetzgebung nachzudenken.

Dieses Mal im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur als feststellende Kontrollinstanz fungiert, sondern die Rolle einer Reparaturwerkstatt übernommen. Seine eigene Interpretation beseitigt die Auslegungsschwierigkeiten, repariert den Fehler, zu dessen Feststellung es angerufen wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetz zur Verfassungskonformität verholfen: Mag es vor dem Verfahren auch unbestimmt und/oder normenunklar gewesen sein, steht nunmehr fest, wie es auszulegen und anzuwenden ist. Hinter die Feststellungen des Gerichts kann der Bundeswahlleiter nicht zurück. Er wird es allerdings auch maximal noch einmal anwenden müssen: Wenn es in Berlin zur Nachwahl kommt. Auf die Verkündung der Entscheidung am 19.12.2023 darf man gespannt sein.


SUGGESTED CITATION  Rossi, Matthias: Abgehakt: Das Wahlrechts-Reförmchen von 2020 passiert das Bundesverfassungsgericht, VerfBlog, 2023/12/15, https://verfassungsblog.de/abgehakt/, DOI: 10.59704/02237caf550f303d.

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