11 December 2024

Abschiebungen nach Syrien?

Ein pragmatischer Mittelweg

Vor neun Jahren wandte sich Angela Merkel zum Höhepunkt der damaligen Krise an Syrer: „Wir erwarten, dass, wenn wieder Frieden in Syrien ist, … ihr … in eure Heimat zurückgeht“. Diese Zukunftsvision könnte nunmehr Wirklichkeit werden, auch wenn niemand seriös prognostizieren kann, wie sich die Lage in Syrien entwickeln wird. Identifizieren lassen sich jedoch die rechtlichen Rahmenbedingungen, von denen es so viele gibt, dass schnelle und zwangsweise Rückführungen nach Syrien im großen Stil sich als Illusion erweisen dürften. Ein Bewusstsein für die rechtlichen Hürden hilft dabei, realistische Handlungsoptionen auszuloten.

Notwendiger erster Schritt: Aussetzung der Asylverfahren

Der Erfolg eines Asylverfahrens richtet sich nach einer zukunftsgewandten Prognose, wie Asylbewerber behandelt würden, wenn sie in der nahen Zukunft in ihr Heimatland zurückkehrten. Aus diesem Grund hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) keine andere Wahl, als die laufenden Asylverfahren von Syrern vorerst zurückzustellen. Es wäre unseriös und rechtswidrig, wenn das Bundesamt in den kommenden Tagen über Asylanträge aufgrund eines Lagebildes entscheiden würde, das offensichtlich nicht mehr stimmt.

Aktuell ist schlicht keine Prognose möglich, ob in Syrien eine Verfolgungsgefahr mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ besteht. Genau diese Sicherheit fordern die Gerichte jedoch. Hinzu kommt, dass Asylverfahren im statistischen Durchschnitt derzeit über acht Monate dauern. Wenn Syrer nicht mehr so schnell bearbeitet werden wie bisher, erlaubt dies dem Bundesamt, prioritär die über 150.000 anderen anhängigen Asylverfahren zu bearbeiten (hier, S. 13). Eine solche Priorisierung verwendet die knappen Personalressourcen effektiv, zumal, wie wir noch sehen werden, auf das BAMF eine wahrhaftige Prüfungsflut zukommen könnte, so sich die Lage in Syrien dauerhaft zum Guten wenden sollte.

Für die Syrer ergeben sich aus der Zurückstellung keine unmittelbaren Nachteile. Sie dürfen als Asylbewerber in Deutschland bleiben. Ihr Antrag wird vom BAMF nicht etwa abgelehnt, sondern die Entscheidung nur aufgeschoben. Wie lange die Unsicherheit andauern wird, hängt von der Entwicklung vor Ort ab. Einige Wochen werden es garantiert sein, vielleicht auch zwei oder drei Monate. An sich verlangt das Europarecht zwar eine Bearbeitung binnen sechs Monaten, aber derzeit greift eine Ausnahme (Art. 31 Abs. 3 Buchst. a Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU; § 24 Abs. 5 AsylG).

Entwicklung in Syrien: zwei Szenarien

In Situationen großer Unsicherheit hilft das Denken in Szenarien: „Was wäre, wenn …?“ In einem pessimistischen Szenario ist der Sturz des Assad-Regimes das Vorspiel für neue Kämpfe zwischen den Rebellengruppen; der Bürgerkrieg flammte wieder auf. Syrien könnte ein zweites Libyen werden, wo nach dem Sturz des dortigen Diktators regionale Warlords den Zentralstaat ersetzten. Denkbar ist auch ein islamistisches Terrorregime, wenn sich die Versprechen von Abu Mohammed al-Dschulani als leere Worthülse erweisen sollten.

In einem solchen pessimistischen Szenario bekämen viele Syrer weiterhin einen Schutzstatus in Deutschland: wegen Verfolgung (Flüchtlingsstatus), einem schweren Bürgerkrieg oder grassierender Kriminalität (subsidiärer Schutz) oder wegen der katastrophalen Versorgungslage, die zumindest schutzbedürftige Personen wie Familien mit Kindern vor einer Rückführung in krasse Armut schützt (Abschiebungsverbot). Alles weitere richtete sich nach der tatsächlichen Lage vor Ort. Politische Beobachter irren, wenn sie meinen, dass es darum gehe, ob Syrien oder andere Länder pauschal für alle Bewohner sicher oder unsicher sind. Juristisch sind Asylverfahren immer eine Einzelfallprüfung, weshalb auch die bisherige deutsche Praxis zweifelhaft war, die praktisch allen Syrern zumindest subsidiären Schutz gab.

Man kann den leidgeplagten Menschen in Syrien nur wünschen, dass das optimistische Szenario eintritt. Es etablierte sich eine halbwegs stabile Regierung, die weite Teile des Landes kontrolliert und die Wirtschaft stabilisiert. Es ginge um keine Musterdemokratie nach westlichem Vorbild, sondern um prinzipielle Sicherheit und einen Schutz der vielen ethnischen und religiösen Minderheiten in Syrien. Hiernach könnte sich die Sicherheitslage ähnlich entwickeln wie im Nachbarland Irak. 70 % aller Asylanträge von Irakern wurden in diesem Jahr abgelehnt, die anderen 30 % waren erfolgreich – immer abhängig von der tatsächlichen Situation vor Ort und der individuellen Situation jedes einzelnen Antragstellers.

Das Asylrecht ist kein Einwanderungsrecht

Wir wissen nicht, ob Angela Merkel an das Rückkehrversprechen ernsthaft glaubte oder ob es ein strategisches Zugeständnis an ihre Kritiker war. In ihrer Biografie jedenfalls schweigt sie darüber. Asylrechtlich traf die Kanzlerin ins Schwarze. Juristisch betrachtet besitzt das BAMF die Rechtspflicht, alle positiven Asylbescheide zu widerrufen, wenn die Lage vor Ort sich nachhaltig verbessert (§ 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AsylG). Ein Ermessen besteht nur auf Umwegen, die noch erwähnt werden. Ein solches Widerrufsverfahren muss das BAMF einleiten, sobald es die neue Sachlage kennt (§ 73b Abs. 1 AsylG). Praktisch relevant wäre dies – wie alle nachfolgenden Überlegungen – nur, wenn das optimistische Szenario eintritt.

Nun dürften Leser des progressiven Spektrums bereits den Hinweis auf die Rechtspflicht zum Widerruf als problematisch empfinden; gefühlsmäßig werden sie für ein Bleiberecht der meisten Syrer sein. Das könnte in der Praxis auch eintreten (mehr sogleich). Allein es gibt in diesem Land auch viele, die für eine andere Asylpolitik eintreten. Diese Asylskepsis in der Mitte der Gesellschaft würde noch gestärkt, wenn sich herausstellte, dass das Asylrecht faktisch ein Einwanderungsrecht darstellt, obwohl der Schutzstatus auflösend bedingt ist.

Für die Akzeptanz des Asylrechts in der breiten Masse der Bevölkerung dürfte es daher zentral sein, dass die Politik im Fall des positiven Szenarios die Rechtspflicht zum Widerruf nicht einfach ignoriert. Wenn sich die Situation in der Heimat dauerhaft verbessert, darf dies nicht nur für wenige Einzelfälle einen Widerruf des Schutzstatus bedeuten. Sinn und Zweck des Asylrechts ist der Schutz vor Verfolgung und schweren Gefahren. Das verlangt im Umkehrschluss, dass der Schutz endet, wenn die Gefahren nicht mehr bestehen.

Effiziente Verfahren statt Systemkollaps

Die Akzeptanz des Asylsystems lebt neben der Rechtsdurchsetzung von realistischen Erwartungen. Natürlich darf die Politik im Wahlkampf zuspitzen. Vollmundige Versprechen, die in der Praxis scheitern, stärken am Ende nur diejenigen, die das Asylrecht abschaffen wollen. Die derzeitigen und künftigen Entscheidungsträger sollten daher die Fallstricke der Widerrufsprüfung verinnerlichen. Einmal unterstellt das Bundesamt würde – rein hypothetisch – den Schutzstatus von einem Viertel der 974.000 Syrer widerrufen, die sich derzeit in Deutschland aufhalten. Die große Mehrheit dürften also bleiben – und dennoch würden 243.000 Widerrufsprüfungen binnen kurzer Zeit das Asylsystem kollabieren lassen.

Juristisch gilt für den Widerruf derselbe Standard wie für die Schutzprüfung. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spricht von einer „Symmetrie“ (hier, Rn. 36 f.), die Änderung der Umstände muss also mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ feststehen (hier, Rn. 17 f.). Politische Beobachter mögen eine Rückkehr ablehnen, wenn diese Syrien destabilisierte. Juristisch ist das irrelevant. Explizit wies der EuGH das Argument zurück, dass „wirtschaftliche Schwierigkeiten“ einem Widerruf entgegenstehen sollen (hier, Rn. 48-50). Es gibt allenfalls ein Abschiebungsverbot wegen krasser Armut geben (hierzu sogleich). Der Hinweis des Asylgesetzes auf eine „erhebliche und nicht nur vorübergehende“ Veränderung der Umstände ändert nichts daran, dass für Anerkennung und Widerruf derselbe Maßstab gilt.

Maßgeblich ist also, ebenso wie beim Asylantrag, eine Einzelfallprüfung, die sich nach der tatsächlichen Lage vor Ort und der persönlichen Situation richtet. Wenn sich die Lage in Syrien – erneut rein hypothetisch – in eine ähnliche Richtung entwickelte wie sie derzeit im Irak herrscht, käme ein Widerruf bei einer großen Minderheit nicht in Betracht. Das BAMF wäre in diesem Fall gut beraten, Widerrufsprüfungen auf Personengruppen zu beschränken, bei denen das Ergebnis vermutlich positiv ausfällt. Alles andere vergeudete wertvolle Ressourcen. Das BAMF muss nämlich alle Betroffenen individuell anhören (§ 73b Abs. 6 AsylG). Die ohnehin große Bugwelle von über 200.000 anhängigen Asylverfahren könnte sich durch Widerrufsprüfungen schnell verdoppeln.

Noch dramatischer wäre die Lage vor den Verwaltungsgerichten, wenn die Betroffenen gegen einen Widerruf klagten. Eine solche Klage hat im Normalfall aufschiebende Wirkung (§ 75 AsylG). Eine Abschiebung darf also erst stattfinden, nachdem ein Gericht grünes Licht gab. Die Verwaltungsgerichte könnten sich als administratives Nadelöhr erweisen. Die Bundesländer reduzierten die Verfahrensdauer gerade von 26 Monaten (!) auf 17,6 Monate (hier, S. 13 f.; hier, S. 49). Schnell könnten die Gerichte wieder deutlich länger brauchen, wenn zu den über 100.000 anhängigen Asylklagen viele weitere hinzukämen.

Bleiberecht auf Umwegen: zwei Ausnahmen

Nun ist das Asylrecht so wahnsinnig kompliziert, weil es häufig versteckte Ausnahmen gibt, die man leicht übersieht. So ist es auch bei Syrien. Widerrufsprüfungen könnten für einige Personen zu einem ähnlichen Ergebnis führen wie aktuell in Bezug auf Afghanistan. In diesem Jahr bekamen nur 43 % aller Afghaninnen und Afghanen einen positiven Asylentscheid wegen Verfolgung (Flüchtlingsstatus) oder schweren Gefahren (subsidiärer Schutz). Etwas mehr als die Hälfte profitierte von einem Abschiebungsverbot, weil deutsche Gerichte – meines Erachtens zu großzügig – ein Bleiberecht wegen krasser Armut annahmen.

Das könnte auch für einige Syrer passieren, selbst wenn die politische Lage sich stabilisiert. Schließlich ist die humanitäre Lage verheerend und viele sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Deren Existenz könnte dann aber doch asylrechtlich relevant sein. Wenn humanitäre Hilfe das Überleben vor Ort sichert, gibt es kein Abschiebungsverbot wegen krasser Armut infolge von Obdachlosigkeit und Hunger. All das müssten BAMF und Verwaltungsgerichte in jedem Einzelfall prüfen, was die Gefahr eines administrativen Systemkollapses erhöht.

Hinzu kommt eine zweite Ausnahme. Ein Widerruf des Schutzstatus durch das BAMF beseitigt nicht automatisch das Aufenthaltsrecht – auch nicht, wenn die Gerichte zustimmen. Stattdessen ist der Widerruf des positiven Asylbescheids nur die Voraussetzung dafür, dass die Ausländerbehörden in einem zweiten Schritt die Aufenthaltserlaubnis widerrufen (§ 52 Abs. 1 Nr. 4 f. AufenthG). Über den Verlust des Aufenthaltsrechts entscheiden also andere Behörden zu einem späteren Zeitpunkt. Dabei haben sie Ermessen, was in der Praxis dazu führen könnte, dass Bayern strenger agiert als Bremen. Außerdem können die Betroffenen erneut klagen, meistens mit aufschiebender Wirkung (hier, Rn. 4).

Selbst wenn das positive Szenario eintritt, könnte es in der Praxis also mehrere Jahre dauern, bevor die ersten Syrer abgeschoben werden können (Widerrufsprüfung, Klage vor Gericht, Entzug des Aufenthaltsrechts, erneute Klage). Angesichts dieser administrativen Fallstricke macht der Vorschlag von Jens Spahn durchaus Sinn, mittels eines Startgelds die freiwillige Rückkehr zu forcieren – wobei eine institutionelle Unterstützung durch Akteure der Entwicklungszusammenarbeit wichtiger ist als die Höhe finanzieller Leistungen. Mittels freiwilliger Rückkehrprogramme erreicht die Politik dasselbe Ziel wie durch Widerrufsprüfungen, freilich ohne die Nebenfolge überforderter Behörden und Gerichte.

Für einen pragmatischen Mittelweg

Gegner von Rückkehrforderungen werden erleichtert sein, dass das Verfahrensdickicht die Syrer vor einer schnellen Ausreisepflicht schützt. In der Politik und der breiten Öffentlichkeit könnte ein Bewusstsein für die rechtlichen und praktischen Schwierigkeiten freilich auch die gegenteilige Wirkung haben. Bei immer mehr Personen könnte sich der Eindruck verfestigen, dass das Einwanderungsland sich durch eine überbordende Verfahrenskomplexität selbst ein Bein stellt. Ein funktionierender Rechtsstaat muss das geltende Recht umsetzen können. Das Verfahrensdickicht könnte in der Politik den Wunsch nähren, mit einem Befreiungsschlag ein neues Asylrecht zu konstruieren. Erste Vorschläge hierzu liegen auf dem Tisch.

In der praktischen Politik böte sich ein pragmatischer Mittelweg an, der die konditionale Bedingtheit des Asylrechts ernst nimmt, ohne pauschal alle Syrer außer Landes drängen zu wollen. Das gilt umso mehr, als am Ende einer erfolgreichen Widerrufsprüfung „nur“ eine Ausreisepflicht steht, die sodann praktisch umgesetzt werden müsste, wenn die betroffenen Personen nicht freiwillig ausreisen. Abschiebungen von zehntausenden Syrern gegen ihren Willen dürften jedoch zum Scheitern verurteilt sein. Letztes Jahr wurden 641 Iraker abgeschoben, obwohl knapp 25.000 ausreisepflichtig waren (hier, S. 10 und 14).

Einen Anknüpfungspunkt für einen Mittelweg bietet der Aufenthaltsstatus. Am Anfang bekommen Schutzberechtigte eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Wenn die Integration erfolgreich verläuft, gibt es als Belohnung eine unbefristete Niederlassungserlaubnis. Für subsidiär Schutzberechtigte gelten die normalen Standards: Sie müssen nach frühestens fünf Jahren vom eigenen Einkommen ohne Sozialleistungen leben, dürfen keine schweren Straftaten begehen und müssen ordentlich Deutsch sprechen (§ 9 Abs. 2 AufenthG). Menschen mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus bekommen aufgrund einer Privilegierung, die der nächste Bundestag überdenken könnte, den besseren Status bereits nach drei Jahren selbst dann, wenn sie teilweise Sozialleistungen beziehen (§ 26 Abs. 3 AufenthG).

Verhinderung eines Systemkollapses durch Gesetzgebung

Ein pragmatischer Mittelweg würde bei allen Syrern mit Niederlassungserlaubnis auf einen Widerruf des Aufenthaltsrechts auch dann verzichten, wenn der Schutzbedarf endet. Dies könnte im Aufenthaltsgesetz normiert werden, um Unterschieden zwischen den Bundesländern vorzubeugen. Auf eine asylrechtliche Widerrufsprüfung könnte ebenfalls verzichtet werden. Rechtssicher geht das nur durch eine Änderung des EU-Rechts, um dem Vorwurf eines Rechtsbruchs vorzubeugen (Art. 14 Abs. 1 und 19 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU). Ansonsten könnte das BAMF die Verfahren einfach nicht einleiten. Wie der Volksmund weiß: „Wo kein Kläger, dort kein Richter“. Syrer werden das BAMF schon nicht darauf verklagen, dass es diesen ihren Schutzstatus widerruft – und auch die EU-Kommission dürfte kein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, obwohl dies möglich wäre.

Ohnehin bleiben dürfen alle Syrer, die einen deutschen Pass erhielten. Im letzten Jahr waren dies immerhin 75.000 Personen. In den kommenden Monaten dürften die Zahlen noch deutlich steigen, wenn die Behörden schrittweise den Antragsrückstau abarbeiten. Der Sturz des Assad-Regimes ist insofern irrelevant, solange die aktuellen geltenden Aufenthaltstitel fortbestehen. Das Einbürgerungsverfahren wird offiziell erst dann gestoppt, wenn das BAMF einen Widerrufsbescheid erlässt (§ 73b Abs. 4 AsylG). Der bloße Umstand, dass dies in der Zukunft passieren könnte, spielt keine Rolle.

Als Ausgleich für diese Großzügigkeiten könnte der Gesetzgeber einen Automatismus vorsehen. Sobald das BAMF den Asylbescheid widerruft, könnte das Aufenthaltsrecht durch eine Änderung von § 52 AufenthG automatisch erlöschen. Dies könnte das BAMF anordnen, um mehrfache Gerichtsverfahren zu vermeiden. Europarechtlich wäre dies möglich, soweit man die Formulierung „können nur dann widerrufen“ in Art. 24 Abs. 5 der künftigen Qualifikationsverordnung im Lichte anderer Sprachfassungen so versteht, dass die Norm kein Ermessen vorschreibt, sondern für den Titelverlust im Sinn eines „dürfen nur widerrufen“ einen Widerruf voraussetzt („may revoke only where“).

Ein solcher Zweischritt von Bleiberechten und Verfahrensvereinfachung schonte die Ressourcen der Behörden und Gerichte. Ein Systemkollaps könnte verhindert werden, wenn der Gesetzgeber darüber hinaus Personengruppen vom Widerruf ausnimmt, bei denen die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die Einzelfallprüfung eventuell einen Schutzbedarf feststellt. Das gilt etwa für Familien mit Kindern mit Blick auf ein Abschiebungsverbot wegen krasser Armut. Solche komplizierten Einzelfälle kosten die Behörden und Gerichte besonders viel Energie. Außerdem dürfte in diesen Fällen eine Abschiebung häufig ohnehin ausscheiden, zumal wenn Babys mit der Geburt automatisch Deutsche wurden (§ 4 Abs. 3 StAG).

Die verbleibenden Ressourcen könnten BAMF, Gerichte und Ausländerbehörden sodann darauf konzentrieren, die Widerrufsprüfung und die Abschiebung bei den verbleibenden Syrern, deren Schutzstatus widerrufen wird, tatsächlich umzusetzen. Darüber hinaus dürften selbstverständlich alle Syrer freiwillig in die Heimat zurückkehren, was der deutsche Staat durch finanzielle Starthilfen und institutionelle Reintegrationshilfen erleichtern könnte.

Durch solche Kontrollsignale gewährleistet die Politik, dass die breite Öffentlichkeit nicht den Glauben an die Steuerungsleistung eines Asylrechts verliert, das in der juristischen Konstruktion und politischen Begründung unter dem Vorbehalt steht, dass der Schutz endet, wenn sich die Lage in der Heimat nachhaltig verbessert. Der Bürgerkrieg in Syrien war für die deutsche Asylpolitik und die deutsche Demokratie ein Schlüsselmoment. Gerade auch deshalb ist es so wichtig, jetzt nicht pauschale Bleiberechte oder massenweise Rückführungen zu fordern. Ansonsten droht die Akzeptanz des Asylrechts endgültig zu erodieren.


SUGGESTED CITATION  Thym, Daniel: Abschiebungen nach Syrien?: Ein pragmatischer Mittelweg, VerfBlog, 2024/12/11, https://verfassungsblog.de/abschiebungen-nach-syrien/, DOI: 10.59704/e449f8dcf01915d3.

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