Absonderung – Quarantäne – Polizeigewahrsam?
Auf der Suche nach dem Infektionsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht
1.
Ein Blick in den Bibliothekskatalog zeigt: Zum Recht der Quarantäne findet sich dort sehr wenig. Aber ein Blick in die rechtswissenschaftliche Metaphorik zeigt: In der Quarantäne (Qu.) ist mächtig was los. Was ist nicht alles darin? Grundrechte, Rechtsstaat, Demokratie, Grundgesetz, vielleicht manchmal sogar der Verstand …. Hier geht es allein um den ersten Befund.
2.
§ 30 InfektionsschutzG (InfSG) regelt Mehrfaches: Die Absonderung, also eine Art Kontaktverbot; ihre Durchführung in einem Krankenhaus oder einer Einrichtung, dazu kann auch die eigene Wohnung zählen; schließlich deren zwangsweise Durchsetzung durch Unterbringung. Am Anfang steht das Kontaktverbot, also die Trennung der Betroffenen von anderen Menschen. Grundgedanke des Verbots ist: Infektionsschutz hängt weniger davon ab, wo man weggeht, als vielmehr davon, wo man hingeht. Wer eine Wohnung verlässt, kann allein im Auto wegfahren oder im Grünen spazieren gehen (regelmäßig kein erhöhtes Infektionsrisiko). Man kann sich aber auch mit anderen treffen, arbeiten oder feiern (regelmäßig erhöhtes Infektionsrisiko). Letzteres gilt es nach Möglichkeit zu verhindern. Darum geht es den §§ 28 ff InfSG. Die Absonderung soll primär absichern, dass man andere nicht treffen kann; nicht, dass man bestimmte Räume nicht verlassen kann.
Die räumliche Dimension der Qu. tritt rechtlich hinzu. Vor dem Hintergrund des genannten Zwecks kommt ihr eine überschießende Wirkung zu. Das ist begründungsbedürftig, könnte man doch die Zweckbestimmung auch durch die Anordnung von Kontaktverboten, Besuchs- oder Ausgangsbeschränkungen erreichen. Warum also dann noch die Qu.? Sie ist hier nicht das mildeste, manchmal aber das effektivste Mittel. Denn Kontaktverbote u.ä. sind schwer durchzusetzen. Die tatbestandliche Bestimmtheit (15 km von wo?) ist bisweilen defizitär, der Kontakt nicht überall kontrollierbar (etwa in Privatwohnungen), und die staatlichen Vollzugsinstrumente reichen nicht aus, alle derartigen Maßnahmen gegen größere Zahlen von fahrlässiger Unkenntnis, Umgehungsversuchen oder offenem Widerstand zu sichern. In solchen Fällen mag bei hoher Infektionsgefahr eine Qu. zulässig sein. Dann müssen Betroffene in der eigenen Wohnung bleiben, möglichst abgesondert von den Nicht-Infizierten, die dort sonst wohnen. Angeordnet werden kann die Qu. aber auch in Krankenhäusern, Pflegeheimen u.ä., wo Betroffene sich gerade befinden oder wohin sie sich zu diesem Zweck begeben. Diesen Ort dürfen sie dann nur unter besonderen Voraussetzungen vorübergehend verlassen, manchmal ohne, manchmal mit Genehmigung des Gesundheitsamtes (zu Einzelheiten etwa: §§ 1-5 NRWQuarantäneVO v. 18.12.2020, GVBl 2126; zu Ausnahmen ebd. § 6). Wer diesen Ort verlässt oder dort Besuch empfängt, handelt ordnungswidrig (ebd., § 9).
Wenig erörtert ist bislang die Grundrechtsrelevanz der Maßnahme. Sie wird wohl einhellig als Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 104 Abs. 1 GG angesehen.1) Jedenfalls wird ebenso einhellig ihre Klassifizierung als Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG abgelehnt – gewiss auch wegen der daran hängenden materiellen und prozeduralen Folgerungen. Schwerer als diese Zuordnung fällt allerdings die Begründung, nicht zuletzt deshalb, weil die Differenzierungskriterien zwischen den beiden Formen der Freiheitseinschränkung in Art. 104 GG nicht eindeutig geklärt sind.2)
(1) Dass die Maßnahme eher leistend-fördernden Charakter für Betroffene und/oder Dritte habe und deshalb keinen Grundrechtseingriff darstelle, wird zwar von Jugend- oder Gesundheitsämtern immer wieder hervorgehoben, ist allerdings kein relevanter Grund. Ob ein Eingriff vorliegt, ist eine Frage des Effekts einer Maßnahme; ob er zulässig ist, (auch) eine Frage ihres Zwecks. Beides darf nicht konfundiert werden. Ähnliches gilt für den Umstand, dass die Qu. überwiegend zuhause, nicht hingegen in anderen Räumen, Gebäuden oder Gebäudekomplexen vollzogen wird: Auch der überwachte Hausarrest kann eine Freiheitsentziehung darstellen. Und dasselbe gilt wohl auch für das Argument, die Qu. sei eine Maßnahme mit Ausnahmen: Das gilt für (jedenfalls für den unbegleiteten) Freigang aus dem Gefängnis und den Hafturlaub auch.
(2) Auch die Intensität des Eingriffs, die regelmäßig an der Dauer der Maßnahme festgemacht wird, führt nicht zur Verneinung der Freiheitsentziehung. Sie grenzt allenfalls Maßnahmen von wenigen Stunden aus. Dagegen dauert die bis zu 14-tägige Qu. erheblich länger. Sie ist nicht mehr geringfügig.
(3) Eher weiterführend mag die Unterscheidung zwischen Freiheitsentziehungen mit technischen Mitteln („Schloss und Riegel“) im Vergleich zu Freiheitsbeschränkung mit „weicheren“ Instrumenten wie Ge- oder Verboten sein. Schloss und Riegel fehlen in der Qu. – im Unterschied zur zwangsweisen Unterbringung in der geschlossenen Abteilung einer Einrichtung. Das Kriterium ist allerdings nicht unumstritten: Ob es wirklich einen Unterschied macht, dass eine Person einen Ort nicht verlassen darf, weil der Ausgang abgeschlossen oder weil er bewacht ist, wird kritisch diskutiert. Untersagt Art. 104 GG das Festhalten oder aber die dazu verwendeten Mittel? Die Diskussion kann hier also noch vertieft werden.
(4) Die Auffassung, wonach Art. 104 Abs. 2 GG nur anwendbar sei, wenn das Festhalten einen selbstständigen Grundrechtseingriff begründet, bleibt gleichfalls ambivalent. Danach gilt: Wenn die Pflicht zum Verbleiben in einem Raum allein Folge einer Handlungspflicht ist (etwa: Zeuge im Gerichtssaal während der Aussage, Schüler/innen im Unterricht), dann liegt eine Freiheitsbeschränkung vor. Wenn die Präsenzpflicht hingegen über die Anwesenheit während notwendiger Handlungen hinausgeht (etwa: Anwesenheit im Gefängnis außerhalb der Zeiten von Therapie oder Arbeitspflicht), so erlangt sie selbständigen freiheitseingreifenden Gehalt und ist so eine Freiheitsentziehung. Für die Qu. mag man argumentieren: Einerseits sichert sie eine Verhaltens-, genauer eine Unterlassenspflicht, und unterfiele dann Art. 104 Abs. 1 GG. Andererseits aber sie hat einen überschießenden Gehalt (s.o.): Dann unterfiele sie Art. 104 Abs. 2 GG.
Man sieht: Das Infektionsschutzrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht lässt noch Möglichkeiten für Entdeckungen. Das allerorts konsentierte Ergebnis ist eindeutiger als seine Begründung. Umgekehrt ist gleichfalls konsentiert: Die zwangsweise Durchsetzung der Quarantänepflicht ist eine Freiheitentziehung, das Verfahren richtet sich nach §§ 415 ff FamFG (§ 30 Abs. 2 S. 3, 4 InfSG).
3.
Brauchen wir auch noch einen Unterbindungsgewahrsam für Quarantänebrecher? Tatsächlich ist die Überwachung der Qu.-Pflicht offenbar ein Problem: Den Ämtern fehlen geeignete Mitarbeiter, die Verpflichteten werden telefonisch und manchmal auch persönlich nicht angetroffen, Polizei und Ordnungsbehörden sind anderweitig ausgelastet. Die zwangsweise Durchsetzung nach § 30 InfSG ist dem Unterbindungsgewahrsam vergleichbar, weist aber auch Unterschiede auf. Die Polizeimaßnahme findet in Polizeigewahrsamszellen oder Gefängnissen statt, die Durchsetzung nach § 30 Abs. 2 InfSG in davon verschiedenen Quarantäneeinrichtungen. Solche gibt es aber nicht überall, in Hessen wurde sie mangels Bedarfs wohl wieder geschlossen. Und die Qu. kennt Ausnahmen und Befreiungstatbestände, der Gewahrsam nicht. Aber es gibt auch Unterschiede: Präventiver Polizeigewahrsam ist gewiss eine Freiheitsentziehung und nur unter den dafür vorgesehenen hohen materiell- und verfahrensrechtlichen Anforderungen zulässig. Diese sind in der Rechtsprechung des BVerfG längst geklärt3) und in den Tatbeständen der Länderpolizeigesetze ausformuliert. Sie setzen unmittelbare Gefahren für hochwertige Rechtsgüter voraus. Dazu zählt nicht jeder Verstoß gegen Quarantäneauflagen, sondern nur ein solcher, welcher die polizeirechtlich genannten Gefahren im Einzelfall begründet. Hier gibt es keine Automatik: Das InfSG ist nicht durchgängig Gefahrenabwehrrecht, sondern passagenweise wohl auch Risikorecht. Ein solches ist in schweren Pandemielagen notwendig und zulässig, dispensiert aber nicht von den grundgesetzlichen Anforderungen für schwerwiegende Freiheitseingriffe – weder zum Zweck des Infektionsschutzes noch zur Gefahrenabwehr nach Polizeirecht. Beide Instrumente stehen rechtlich nebeneinander. § 30 InfSG ist sachlich spezieller und als Bundesrecht vorrangig. Das Polizeirecht darf nicht zur Ausweitung oder Umgehung der Voraussetzungen oder Rechtsfolgen des InfSG zweckentfremdet werden.
Quarantäne und Unterbindungsgewahrsam sind rechtlich unterschiedliche Materien mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Und wenn das so bleibt, dann braucht auch hier das Verfassungsrecht nicht in Quarantäne – und das ist auch gut so!
Vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag und das deutliche Resümee. Recht interessant dürfte nach jüngsten Entwicklungen in der Rspr. die angesprochene Differenzierung zwischen Freiheitsbeschränkung & -entziehung zu belichten sein. So soll nach dem Verständnis des BayVerfGH schon überhaupt kein Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person vorliegen, wenn eine bußgeldbewehrte Pflicht, die Wohnung nicht ohne bestimmte Gründe zu verlassen, besteht. Man wird sich fragen müssen, inwieweit derartige Tendenzen mit der sachlichen Schutzdimension des Grundrechts, dem modernen Eingriffsbegriff und der angesprochenen Differenzierung zwischen „Schloss und Riegel“ bzw. „weichen Instrumenten wie Ge- oder Verboten“ zu vereinbaren sind.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Urteil des EuGH vom 14.05.2020, Az. 924/19 PPU und 925/19 PPU.
Danach liegt eine einer Haft gleichstehende Freiheitsentziehung vor, wenn ein bestimmter Bereich rechtmäßig nicht mehr verlassen werden darf.