Antizipation beginnt jetzt!
Zum Abschluss des Justiz-Projekts.
Angenommen, der Justizminister eines deutschen Bundeslandes würde beschließen, bei der Werbung um Personal für die Justiz neue Wege zu gehen. Er will Schluss machen mit den abgehobenen Eliten an den Gerichten – volksnahe und effiziente Richterinnen und Richter bräuchte das Land. Gerade im Bereich der Asylverfahren müsse nun endlich mal Dampf in den Kessel. Deshalb hat der neue Justizminister bereits durch Rechtsverordnung alle Asylverfahren der relevantesten Herkunftsländer an einem Verwaltungsgericht konzentriert. Nun fehlt es nur noch an tüchtigen Richterinnen und Richtern für dieses Gericht, die diese Verfahren auch effizient durchführen. Er weist sein Ministerium an, die Website „echte-justiz.de“ online zu stellen. „Die Entscheidung liegt bei dir!“ heißt es dort, „Hilf dabei, ein neues Kapitel für das Land zu schreiben. Bewirb dich noch heute als Abschieberichter – solides Gehalt und sichere Pension inklusive!“.
Klingt zu skurril, um wahr zu sein? In den USA ist dies seit Kurzem Realität: Die Website join.justice.gov wirbt offensiv um „deportation judges“ – benefits included. Das ist nicht nur eine weitere Geschmacklosigkeit der zweiten Trump-Administration, sondern international als „court packing“ bekannt und eine beliebte Maßnahme aus dem Werkzeugkasten autoritärer Populisten gegen die Justiz. Weltweit verfolgen sie mit solchen oder ähnlichen Maßnahmen das Ziel, Gerichte mit loyalen Gefolgsleuten und gleichgesinnten Richterinnen und Richtern zu besetzen, um einer effektiven Kontrolle der eigenen Regierungsarbeit zu entgehen.
Auch in Deutschland wäre ein solches Szenario so oder so ähnlich möglich. Die deutsche Justiz ist angreifbar und das in größerem Umfang als vielfach angenommen. Wo und wie autoritäre Populisten ansetzen könnten, um die deutsche Justiz zu schwächen oder gar funktionsunfähig zu machen, haben wir im Laufe dieses Jahres im Justiz-Projekt erforscht. Die gesammelten Erkenntnisse finden Sie in unserer Studie „Das Justiz-Projekt: Verwundbarkeit und Resilienz der dritten Gewalt“, die wir diese Woche auf dem Verfassungsblog veröffentlicht haben – natürlich open access.
Dass der autoritäre Umbau der Justiz durch das Zusammenspiel von vielen kleinen, teils unscheinbaren Maßnahmen erfolgt, lässt sich inzwischen seit vielen Jahren international beobachten: Schrittweise und schleichend wird die Justiz so angegriffen, politisiert und umgebaut, bis sie ihre Funktion, andere Staatsgewalten zu kontrollieren, nicht mehr effektiv ausüben kann. Es ist also kein Zufall, dass der Justizminister in unserem Szenario gerade dann neue Richterinnen und Richter einstellen möchte, nachdem er Bereiche des politisch zurzeit hoch relevanten Migrationsrechts gemäß § 83 Abs. 3 Satz 1 AsylG per Rechtsverordnung einem einzelnen Verwaltungsgericht des Landes zugewiesen hat. Diese Bündelung erlaubt es ihm, an dem Gericht neue Kammern zu schaffen, die ausschließlich im Asylrecht entscheiden. Und diese Kammern sind beschäftigt, schließlich sind sie nun die einzigen Gerichtskammern im ganzen Bundesland, die für Asylverfahren zuständig sind. Wie praktisch also, wenn man dann auch noch beeinflussen kann, wer diese neuen Richterinnen und Richter sind – noch dazu, ohne dafür das geltende Recht ändern oder strapazieren zu müssen. In acht der 16 Bundesländer entscheidet letztlich allein der Justizminister, wen er als Proberichterin oder Proberichter einstellt. Bei dieser Einstellungsentscheidung ist er an das Prinzip der Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG gebunden – doch dessen Tatbestandsvoraussetzungen sind unbestimmt und auslegungsbedürftig; effektiver Rechtsschutz gegen eine solche Auslegung ist extrem schwierig (Das Justiz-Projekt, S. 168 f.). Für Opposition und Zivilgesellschaft ist es deshalb kaum möglich, diese einzelnen Schritte zu erkennen, zu verstehen und Widerspruch zu mobilisieren.
Das Justiz-Projekt
Die letzten 11 Monate haben wir hauptsächlich damit verbracht, Szenarien zu entwickeln, prüfen, anzupassen oder wieder zu verwerfen. Die entstandenen Szenarien zeigen, welche Wege autoritäre Populisten in Zukunft gehen könnten, um die deutsche Justiz anzugreifen. In und außerhalb Europas sehen wir: Solange Gerichte als machtbegrenzende Institutionen funktionieren, sind sie Angriffspunkte autoritärer Populisten. Das gilt zumindest solange, bis sie die Gerichte unter ihre Kontrolle gebracht haben und dazu einsetzen können, ihr Handeln zu legitimieren.
Mit unserer Arbeit wollten wir nicht bei bloß dogmatischen Analysen stehenbleiben. Vielmehr ging es uns darum, die Rechtswirklichkeit angemessen abzubilden, um die Justiz einem plausiblen Stresstest zu unterziehen. In rund 70 Recherchegesprächen haben wir mit Richterinnen und Richtern, Gerichtspräsidentinnen, Ministerialbeamten, Wissenschaftlerinnen und vielen weiteren Expert:innen gesprochen, um die Gerichtsorganisation, das Haushaltsrecht, Personal- und IT-Fragen und die Landesverfassungsgerichte zu durchleuchten (Zur genutzten Methode, siehe: Das Justiz-Projekt, S. 33 ff.).
Die dabei entstandenen Szenarien sind weder Wahrscheinlichkeitsprognosen noch ein Blick in die Glaskugel. Sie stellen plausible und mögliche zukünftige Entwicklungen dar. Ihr Wert liegt darin, die Wirkungen kumulierter Maßnahmen autoritärer Populisten, also in diesem Fall den Tod der unabhängigen Justiz durch tausend Schnitte, zu antizipieren und die Legitimationsversuche und -narrative autoritärer Populisten anschaulich zu machen. Durch Szenarioanalysen können wir bisher unerkannte rechtliche Probleme ex ante identifizieren und diskutieren. So wollen wir dazu beitragen, dass Justiz, Politik, Medien und die politische Öffentlichkeit mögliche Teilschritte auf dem Weg von einer unabhängigen zu einer abhängigen Justiz erkennen, verstehen und entgegentreten können.
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Die Juristische Fakultät der Europa-Universität Viadrina besetzt zum 1.3.2026 eine Stelle als akademische:r Mitarbeiter:in (20 Std./Woche, bis EG 13 TV-L) an der Professur für Öffentliches Recht/Europarecht (Prof. Dr. Jelena von Achenbach).
Im Mittelpunkt steht die eigene Promotion. Weitere Aufgaben: 2 SWS Lehre sowie Mitwirkung an Forschung und Selbstverwaltung. Voraussetzung: mind. vollbefriedigende Erste Juristische Prüfung. Bewerbung bis 31.12.2025.
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„Enemies of the people“
Nun kann man einwenden, dass unsere Szenarien und die darüber identifizierten Einfallstore zwar interessant, für Deutschland aber rein hypothetischer Natur sind. Hier gibt es schließlich noch keinen Justizminister, der sich dieser Instrumente bedienen und etwa im großen Stil Abschieberichter suchen würde. Es scheint, als stünde der autoritär-populistische Werkzeugkoffer noch ungenutzt in der Ecke.
Doch das wäre zu kurz gegriffen. Angriffe autoritärer Populisten auf die Justiz beginnen, bevor sie an die Regierung kommen. Schon in der Opposition setzen sie ihre diskursive Macht zur Delegitimierung der Justiz und ihrer Institutionen ein. Denn Gerichte bieten autoritären Populisten eine vergleichsweise geeignete Angriffsfläche: Zwar entscheiden sie unabhängig und „im Namen des Volkes“, doch lassen sie sich leicht als elitäre Kaste darstellen, die vermeintlich eigene politische Präferenzen gegen den Mehrheitswillen durchsetzt – insbesondere dann, wenn sie Minderheitenrechte schützen. So werden Gerichte schnell zu „enemies of the people“, oder eben „Scheißgerichten“.
Wir konnten im Laufe des Justiz-Projekts zunehmend beobachten, dass auch in Deutschland im Verhältnis zwischen Justiz und Politik etwas ins Rutschen kommt: persönliche Diffamierungen von Richterinnen und Richtern, die die migrationspolitische Verwaltungspraxis der Regierung als rechtswidrig einstufen; ein Bundesinnenminister, der seine Politik trotzdem ohne Rücksicht auf Verluste weiter aufrechterhält; eine politisierte und entgleiste Verfassungsrichterinnenwahl; exekutiver Ungehorsam der Bundesregierung gegenüber Verwaltungsgerichten im Zusammenhang mit dem Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan; ein Richterwahlausschuss, der sich auch ein Jahr nach der Landtagswahl in Thüringen nicht neu konstituieren kann, weil die AfD genau dies durch ihre Sperrminorität blockiert – das alles sind keine Szenarien, sondern Realität in der Bundesrepublik.
Was nun?
Gerade in dieser Zeit wollen wir mit unserem Buch einen Beitrag dazu leisten, die politische Kultur der gerichtlichen Unabhängigkeit zu schützen und zu stärken (Das Justiz-Projekt, S. 296 ff.). Wir sind überzeugt davon, dass sich eine Institution dann als besonders resilient erweist, wenn die Menschen, die in und mit ihr arbeiten, aber auch die politische Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft und Medienvertreterinnen und -vertreter vorbereitet sind, wenn sie die autoritär-populistische Strategie und relevante Schwachstellen kennen. Eine wehrhafte Justiz braucht Vorbereitung und Antizipation. Deshalb haben wir in den vergangenen Monaten – parallel zur Arbeit an unserem Buch – Workshops entwickelt und durchgeführt, um Richterinnen und Richter, Referendarinnen und Referendare sowie andere in der Justiz tätige Personen vorzubereiten und ihr Resilienzbewusstsein zu stärken. Dabei durften wir – wie auch in unseren Recherchegesprächen – immer wieder erfahren, wie viele Menschen in der Justiz bereit sind, sich aktiv für ihre Unabhängigkeit einzusetzen. Diese Workshops werden wir auch im nächsten Jahr fortsetzen.
Unsere Arbeit im Justiz-Projekt hingegen endet am 31. Dezember 2025. Ein Jahr voller Erkenntnisse, Herausforderungen, Zweifel und kurzer Nächte geht damit zu Ende. All das wurde nur möglich durch unermüdliche Teamarbeit und die Zuversicht, dass der zunehmenden Autokratisierung mit entschlossener, wirksamer Arbeit entgegengetreten werden kann. Dafür ist und bleibt es notwendig, den autoritären Populismus wachsam zu verfolgen, seine Strategien zu durchschauen und Maßnahmen zu antizipieren. Zu diesem Anliegen wollen wir unseren Teil beitragen. Ob sich unsere Hoffnungen für unser Buch erfüllen, liegt nun auch in Ihren Händen. Wir wünschen Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre.
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Editor’s Pick
von MAXIM BÖNNEMANN

Letzte Woche hatte ich Lust auf einen Agentenfilm. Da traf es sich gut, dass mein Nachbarskino einen Film zeigte, der seinem Namen nach eine sichere Wahl zu sein schien: „The Secret Agent“. Der Film spielt im Brasilien der 1970er Jahre, erzählt langsam und farbenfroh und ist, wie ich nach einiger Zeit feststellen musste, vieles, aber kein Agentenfilm. Im Mittelpunkt steht Marcelo, ein Wissenschaftler auf der Flucht. Es ist die Zeit der Militärdiktatur, doch Marcelo ist kein Dissident, sondern wird eher zufällig zum Ziel eines korrupten Ministers. Er findet Unterschlupf in der Stadt Recife, trifft auf Menschen, die helfen, trösten und lieben, hat alsbald aber auch Attentäter auf den Fersen. Für all das nimmt sich „The Secret Agent“ Zeit (2:40 Stunden); wer Marcelos Tage in Recife verfolgt, fühlt sich Marcelo unweigerlich nahe. Das ist einerseits schön, führt aber umso härter vor Augen, was für eine Zeit das Brasilien der 1970er Jahre war: eine Zeit der rohen Gewalt.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
zusammengefasst von JANA TRAPP
Die EuGH-Entscheidung Trojan hat diese Woche europaweit Wellen geschlagen. Ausgangspunkt war die Klage zweier polnischer Männer, deren im Ausland geschlossene Ehe in Polen unsichtbar bleiben sollte. Das vorlegende polnische Gericht wollte vom EuGH wissen, ob diese Weigerung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Antwort fiel klar aus: Wer in der EU eine Ehe schließt, nimmt sie mit – auch über Grenzen hinweg. KONSTANTINOS LAMPRINOUDIS (EN) zeigt, wie der Gerichtshof das Diskriminierungsverbot bei der Freizügigkeit nutzt, um einen robusteren Gleichheitsstandard zu etablieren.
Dass europäische Rechtsbindung in Polen auch in anderen Bereichen nicht nur symbolisch wirkt, zeigt ADAM PLOSZKA (EN). Mehrere Kommunen verabschiedeten jüngst anti-migrationspolitische Resolutionen, die sich ausdrücklich gegen die im EU-Migrations- und Asylpakt vorgesehenen Umverteilungsregeln von Schutzsuchenden richteten. Doch kaum verabschiedet, zeichnete sich ab, dass den Kommunen ein Verlust von EU-Fördermitteln droht – ein Szenario, das für schnelles Umlenken sorgte.
Während in Europa die rechtsstaatlichen Stellschrauben eher fester ziehen, zeigt SHAO-KAI YANG (EN) einen gegensätzlichen Befund aus Taiwan: einen Verfassungsgerichtshof im Schwebezustand, dessen institutionelle Form fortbesteht, während die materielle Grundrechtskontrolle erodiert.
Eine weitere Erosion verfassungsrechtlicher Pfeiler droht in Indien. ANMOL JAIN und SHASHANK MAHESHWARI (EN) nehmen eine Advisory Opinion des Supreme Court in den Blick, die Indiens föderales Gefüge neu justiert: Gouverneure sollen Landesgesetze nach eigenem Ermessen und ohne Frist blockieren dürfen. Damit schafft das Gericht faktisch ein Vetorecht der Zentralebene und verschiebt die Machtbalance zugunsten der Exekutive in Neu-Delhi.
Auch in Deutschland ist die verfassungsrechtliche Agenda gut gefüllt.
HALINA WAWZYNIAK (DE) kritisiert sowohl den BSW-Wahleinspruch als auch die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses – ersteren wegen formeller und inhaltlicher Unzulänglichkeiten, letztere wegen überzogener Substantiierungsanforderungen.
In Hamburg versucht man derweil, mit einer neuen Regelanfrage beim Verfassungsschutz staatliche Wehrhaftigkeit zu stärken. Doch wie SARAH GEIGER (DE) herausarbeitet, entsteht durch die Ausklammerung der Rechtsreferendar*innen eine bemerkenswerte Schieflage.
Um Gleichheit geht es auch bei der Frage, ob ein Wehrdienst für Frauen mit Art. 12a GG vereinbar wäre. PAULINA BÖHM und ANTONIA STUMMVOLL (DE) kritisieren, dass das neue Selbstbestimmungsgesetz im Spannungs- oder Verteidigungsfall trans* Frauen trotz ihres Frauenstatus zur Wehrpflicht heranziehen kann. Sie plädieren für einen inklusiven Frauenbegriff und für eine Debatte, die Selbstbestimmung und Gleichheit nicht gegeneinander ausspielt.
Institutionelle Verantwortung steht im Mittelpunkt der Analyse von LUCA MANNS (DE): Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt Disziplinarmaßnahmen des BND gegen einen Professor, der durch staatsdelegitimierende Aussagen aufgefallen ist, und markiert damit die Grenze, an der Wissenschaftsfreiheit endet, wenn Lehrende zugleich künftige Staatsbedienstete ausbilden.
Dass Reformideen bisweilen nur alte Bekannte im neuen Gewand sind, zeigt STEFAN KÜHL (DE). Die Praxis-Checks in der Gesetzgebung wirken frisch – bis man ihre frühere Erprobung und die ernüchternden Nebenfolgen wiederentdeckt.
Neben diesen Entwicklungen richtet MICHAL CZERNIAWSKI (EN) den Blick auf die Berliner Erklärung zur europäischen digitalen Souveränität: ein ambitioniertes Technologieprogramm, dem jedoch eine klare grundrechtliche Verankerung fehlt.
RENÉ MAHIEU (EN) warnt parallel, dass der Digital-Omnibus-Vorschlag der Kommission das Auskunftsrecht beschneiden könnte und damit genau jenes Instrument schwächt, das Missstände in digitalen Systemen sichtbar macht.
Wo wir schon bei „digital“ sind: Wie viel Transparenz der Digital Services Act tatsächlich liefert, analysieren STEFANIA DI STEFANO und SUZANNE VERGNOLLE (EN). Der DSA verspricht ein „safe, predictable and trusted online environment“, doch die bisherigen DSA-Transparency-Reports bleiben hinter diesem Anspruch zurück. Auf Grundlage interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Hackern, Archivist*innen und weiteren Expert*innen zeigen die Autor*innen, wo die Lücken liegen, und formulieren vier Empfehlungen, wie das DSA-Reporting belastbarer und aussagekräftiger werden kann.
ERIK TUCHTFELD zeigt, dass der EuGH in Russmedia die vielleicht wichtigste gesetzgeberische Grundentscheidung für die Struktur des Internets infrage stellt: das seit 25 Jahren geltende notice-and-takedown-Prinzip. Statt der etablierten Haftungsprivilegierung erklärt der Gerichtshof Plattformen bei datenschutzrechtlichen Verletzungen von Beginn an für (mit-)verantwortlich. Faktisch entstehe so eine Pflicht zum Einsatz umfassender Uploadfilter – mit erheblichem Risiko des Over-Blockings.
Und schließlich die große Strukturfrage: ALAN BOGG und CYNTHIA ESTLUND (EN) erinnern daran, dass Demokratie nicht am Werkstor endet. Wenn ein Großteil des Lebens in hierarchischen Unternehmensstrukturen stattfindet, entsteht ein Demokratiedefizit, das moderne Gesellschaften aktiv angehen müssen. Ihre Antwort ist ein Programm: industrielle Demokratie für das 21. Jahrhundert – eine modernisierte Mitbestimmung, die auch die digitalisierte Arbeitswelt umfasst.
Als wäre all dies nicht schon genug, haben wir noch zwei Blog-Symposien gestartet: Heute fiel der Startschuss für ein Symposium zum 75. Jubiläum der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (EN), basierend auf einer Konferenz des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. ALEXANDRA KEMMERER und NICOLA WENZEL erläutern, worum es geht. NANCY HERNÁNDEZ LÓPEZ, Präsidentin des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte, denkt über den Dialog zwischen Gerichten nach und ARMIN VON BOGDANDY lotet das Verhältnis von EMRK und europäischer Gesellschaft aus. Weitere Texte folgen bereits am Wochenende.
Außerdem ist unser Symposium „Algorithmic Fairness for Asylum Seekers and Refugees“ (EN) gestartet, das die digitalen und algorithmischen Tiefenstrukturen moderner Asyl- und Migrationsverfahren sichtbar macht. CATHRYN COSTELLO und MIRKO DUKOVIC führen in das Projekt ein und zeigen, wie automatisierte Entscheidungen, digitale Visa und biometrische Tools die Verfahren zunehmend prägen und strukturell verschieben.
Die weiteren Beiträge greifen diese Dynamik aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf: CATHRYN COSTELLO und MIRKO DUKOVIC warnen vor Ungleichheiten in der Vergabepraxis von digitalen Visa. MAYA ELLEN HERTZ, WILLIAM HAMILTON BYRNE und THOMAS GAMMELTOFT-HANSEN analysieren die epistemischen Unsicherheiten KI-gestützter Statusbestimmungen. LENKA DRAZANOVÁ stellt Befunde aus einer Fünf-Länder-Studie vor, die zeigt, wie unterschiedlich Bürger*innen die Fairness „smarter Grenzen“ einschätzen. DEIRDRE CURTIN und LUDIVINE STEWART beleuchten die wachsende Geheimniskultur im Migrationsbereich und MATIJA KONTAK legt die Risiken unregulierter biometrischer Experimente von Frontex offen. HERWIG C. H. HOFMANN macht deutlich, dass klassische Garantien wie Akteneinsicht oder rechtliches Gehör ins Leere laufen können, wenn KI-Systeme Informationen in unsichtbaren Prozessen generieren und gewichten. Wer über algorithmische Fairness spricht, muss daher auch die „Akte“ selbst neu denken. Den Schlusspunkt für diese Woche setzten ANGELIKA ADENSAMER und LAURA JUNG und zeigen am Beispiel Österreichs, welche Gefahren KI-Werkzeuge in Asylverfahren mit sich bringen. Nächste Woche geht es weiter!
Nach dieser Woche bleibt einmal mehr festzuhalten: Stabil bleibt nur, was geprüft wird. Mit diesem Blick nach vorn wünschen wir Ihnen eine gute Woche – und ein wenig Schokolade im Schuh.
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Das war’s für diese Woche.
Ihnen alles Gute!
Ihr
Verfassungsblog-Team
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