„Ausermittelt“ ist nicht gleich aufgeklärt – zur Rolle der Bundesanwaltschaft im NSU-Komplex
Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat eine beispiellose Reihe von Skandalen deutscher Sicherheitsbehörden öffentlich gemacht. In der vergangenen Woche hat ein Artikel in der Welt am Sonntag von den Journalisten Stefan Aust, Dirk Laabs und Per Hinrichs ein neues Kapitel in die Geschichte des NSU-Komplex eingefügt.
Der Artikel greift Beweisanträge auf, die die Anwälte des Kasseler Mordopfers Halit Yozgat in den NSU-Prozess in München einbringen wollen. Zunächst zu dem bisher Bekannten: Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafè ermordet. Während der Tat befand sich mit Andreas Temme ein hauptamtlicher Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz am Tatort, der nach eigener Aussage jedoch nichts von dem Mord mitbekommen haben will. Temmes genaue Rolle ist bislang ungeklärt, seine Aussagen nach der Tat, vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags und im NSU-Prozess sind widersprüchlich. Direkt nach der Tat wurde gegen Temme aufgrund eines Mordverdachts ermittelt, jedoch ohne konkrete Erkenntnisse zu erhalten. Andreas Temme führte beim LfV Hessen den V-Mann Benjamin G., der Kontakte in die militante Neonazi-Szene gehabt haben soll. Nur kurze Zeit vor dem Mord fand ein längeres Telefonat zwischen Temme und seinem V-Mann statt. Deshalb wollten die Ermittlungsbehörden auch Benjamin G. zu dem Mord befragen. Volker Bouffier (CDU), damals Innenminister des Landes Hessen, untersagte die Befragung. Das „Wohl des Landes Hessen“ sei gefährdet, wenn der Verfassungsschutz seine Quellen offenlegen müsste.
Was wurde durch die neuen Beweisanträge der Anwälte nun herausgefunden? Nach dem Mord wurden die Telefongespräche von Andreas Temme abgehört. Scheinbar unzureichend, wie erneute Auswertungen der Anwälte ergeben haben. Demnach sagte ein Geheimschutzbeauftragter des hessischen Verfassungsschutzes zu Temme nach dem Mord am Telefon: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Andreas Temme und auch das LfV Hessen könnten bereits vor der Tat konkrete Hinweise auf die Täter, den Tatort und die Tatzeit gehabt haben. Zudem kam heraus, dass sich Temmes V-Mann genau an jenen Tagen in München und Nürnberg aufgehalten hat, an denen der NSU weitere Morde beging.
Die neuen Erkenntnisse bringen derzeit nicht nur den hessischen Ministerpräsidenten Bouffier in Bedrängnis, sondern lassen es als möglich erscheinen, dass der Verfassungs-schutz einen Mord des NSU nicht verhindert hat.
Mangelnder Aufklärungswille der Bundesanwaltschaft
Der Bundesanwalt Herbert Diemer widersprach den Anwälten vehement und warf ihnen sowohl eine Medieninszenierung als auch eine „interessengeleitete Interpretation“ der Akten vor. Dies wirft Licht auf einen weiteren Baustein des NSU-Komplex, der bislang wenig diskutiert wird. Während die Polizeibehörden und der Verfassungsschutz seit der Selbstentarnung des NSU massiv in der Kritik stehen, wird die Rolle der Staatsanwaltschaften und insbesondere der Bundesanwaltschaft nur unzureichend reflektiert. Dabei gäbe es einige Anlässe.
Im laufenden NSU-Prozess in München verfolgt die Bundesanwaltschaft eine spezifische Linie. In der Anklageschrift wurde der NSU auf die Personen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe beschränkt, vier weitere Personen sind als mögliche Unterstützer angeklagt. Doch die These vom NSU-Trio ist aus vielerlei Gründen unplausibel. Die Morde des NSU ereigneten sich gerade in westdeutschen Städten, die über eine starke Neonazi-Szene verfügen. Journalistische Recherchen haben ergeben, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe mit vielen Nazi-Kadern aus ganz Deutschland vor und während der Mordserie Kontakt hatten. Sie können auf diese Kontakte zurückgegriffen haben, um Tatorte zu observieren oder sogar direkte Unterstützung vor Ort zu erhalten. Dass die Bundesanwaltschaft im Münchner Prozess bislang Beweisanträge der Nebenklage verhindern wollte, die das Umfeld des NSU und die militante Nazi-Szene während des Zeitraums der Mordserie durchleuchten sollten, passt zu der Trio-These.
Die Bundesanwaltschaft begreift den Prozess als ein reines Strafverfahren gegen Zschäpe und die vier weiteren Angeklagten, sie strebt dementsprechend ein zügiges Verfahren an. Mehmet Gürcan Daimagüler, Anwalt der Nebenklage im Prozess, und der Rechtswissenschaftler Alexander Pyka haben in ihrem Beitrag in der Zeitschrift für Rechtspolitik eine umfassende Aufklärungsarbeit der Mordserie eingefordert, die auch das Umfeld des NSU behandeln soll. Sie halten fest: „Ein kurzer Prozess ist kein guter Prozess, erst recht nicht im NSU-Verfahren.“ (ZRP 2014, 144).
Schleppende Ermittlungen
Nicht nur die Bundesanwaltschaft ist mit dem NSU-Komplex belastet. Deutsche Staatsanwaltschaften haben von Anfang an massive Fehler bei der Mordserie begangen. Da wäre beispielsweise die Staatsanwaltschaft Gera. Diese hatte im Januar 1998 Durchsuchungsmaßnahmen bei einer Garage angeordnet, in der Material zur Erstellung von Sprengstoff vermutet wurde und die an Uwe Böhnhardt vermietet war. Die Operation wurde zum Desaster, der NSU konnte untertauchen. Über den genauen Ablauf gibt es bis heute mehrere unterschiedliche Versionen. Sicher ist aber, dass die Staatsanwaltschaft erst zwei Tage nach der Durchsuchung einen Haftbefehl erlassen hat. Zu diesem Zeitpunkt hatten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe bereits 60 Stunden Vorsprung (Stefan Aust/Dirk Laabs, Heimatschutz, 2014, S. 277). Später stellte sich zudem heraus, dass Überwachungsprotokolle des Handys von Uwe Böhnhardt, die auf seiner Flucht entstanden sind, von der Staatsanwaltschaft Gera ohne Auswertung gelöscht wurden.
Auch bei dem Kasseler Mord verhielt sich die Staatsanwaltschaft fragwürdig. Zwar drängten Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber dem LfV Hessen darauf, die V-Leute von Andreas Temme zu befragen. Die Staatsanwaltschaft hätte aber in die Offensive gehen und einen Durchsuchungsbefehl beim LfV Hessen erwirken können, um direkt in den Räumlichkeiten des Verfassungsschutzes nach Verstrickungen Temmes in den Mord und den Namen seiner V-Leute zu suchen. Auch die Staatsanwaltschaft darf gegenüber dem Staat nicht zurückschrecken.
Aufklärung braucht einen langen Atem
Der hessische Untersuchungsausschuss hat seine Arbeit nach langem parteipolitischen Streit am 19. Februar mit den ersten öffentlichen Sitzungen aufgenommen. Auch wenn die Bundesanwaltschaft die neuen Erkenntnisse über den Kasseler Mord nicht Ernst nehmen will, müssen die Abgeordneten jeden Hinweis auf Verstrickungen des Verfassungsschutzes in die Tat ausleuchten. Für die Bundesanwaltschaft ist der Mord weitestgehend „ausermittelt“. Sie müsste es besser wissen. Gerade werden nach 35 Jahren erneute Nachforschungen über das Oktoberfestattentat von München aufgenommen. Bislang galt der Neonazi Gundolf Köhler als einziger Täter. Neue Erkenntnisse, die die Einzeltäter-These widerlegen, zwangen Bundesanwalt Harald Range dazu die Wiederaufnahme der Ermittlungen einzuleiten. Dies sollte eine Warnung an Bundesanwalt Herbert Diemer sein, auch beim NSU von Anfang an umfassende Ermittlungen nach allen Seiten durchzuführen.
Nach der Aufdeckung der NSU-Mordserie gab es viele Stimmen, die eine radikale Reform oder sogar Abschaffung des Verfassungsschutzes forderten. Eine Debatte über die Rolle deutscher Staatsanwaltschaften im Umgang mit dem NSU-Komplex bleibt bislang aus.
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