(K)ein Befreiungsschlag im Besoldungsrecht
Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Berliner Beamtenbesoldung
Das Bundesverfassungsgericht verschafft sich Luft. So jedenfalls liest sich der neueste Beschluss des Zweiten Senats vom 17. September zur Alimentation von Berliner Beamten. Diese abermalige Rüge ist ein Paukenschlag mit bundesweiten Auswirkungen. Das Land Berlin hat Beamte in über 95 Prozent der geprüften Besoldungsgruppen verfassungswidrig alimentiert. Über die Hälfte der Gruppen in der A-Besoldungsordnung haben über einen Zeitraum von 12 Jahren das geforderte Niveau der Mindestbesoldung nicht erreicht. Zugleich sind aus dem gesamten Bundesgebiet rund 70 weitere Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig. In den Ländern fluten Widersprüche und Klagen auf amtsangemessene Alimentation die Widerspruchsbehörden und Verwaltungsgerichte, während Gewerkschaften ihre Mitglieder beharrlich und beinahe routinemäßig zu jährlichen Widersprüchen gegen ihre Besoldungsbescheide aufrufen. Angesichts dieser Entwicklungen warnt der aktuelle Beschluss, dass „die außerordentliche Vielzahl an Verfahren, [die] bereits in der Fach- oder Verfassungsgerichtsbarkeit anhängig sind […], die Verfassungsgerichtsbarkeit an die Grenzen ihrer Funktionsfähigkeit“ (Rn. 32) bringen könnten. Um der Masse an Klagen noch Herr werden zu können, hat das Gericht mit einer Grundsatzentscheidung seine Prüfungsmaßstäbe erheblich vereinfacht. Doch auch das wird die Klagewelle nicht aufhalten können. Eine umstrittene Besoldungsreform in vielen Ländern zeigt: Die nächste Rüge aus Karlsruhe wird nicht lange auf sich warten lassen – insbesondere, weil die Reformbemühungen nicht mit der neuesten Entscheidung des Gerichts vereinbar sind.
Amtsangemessene Alimentation schützt den Verfassungsstaat
Der Senat geht diesmal in die Vollen und nutzt die Entscheidung dazu, die gesamte A-Besoldung in Berlin für die Jahre 2008-2020 auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Der Beschluss wiederholt die bekannten Maßstäbe der beamtenrechtlichen Rechtsprechung. Art. 33 Abs. 5 GG garantiere die Institution des Berufsbeamtentums, womit gleichsam ein gesetzgeberischer Regelungsauftrag einhergehe und den Beamten ein subjektives grundrechtsgleiches Recht zukomme. Die lebenslange Alimentation, bestehend aus Besoldung und Versorgung des Beamten und seiner Familie, sei kein Entgelt für geleistete Dienste. Vielmehr könne nur so die lebenslange Treuepflicht des Beamten und das Streikverbot gerechtfertigt werden. Die Besoldung solle eine stabile Verwaltung als Gegengewicht zum temporär legitimierten politischen Betrieb sichern und ziele darauf, selbstbewusste Beamte durch ihre innere und äußere Unabhängigkeit zu befähigen, zu einer rechtsstaatlichen Verwaltung beizutragen. Um dies zu untermauern, greift das Gericht seine Maßstabsbildung aus dem Beschluss zum politischen Beamten aus dem Jahr 2024 auf (Rn. 52). In der Entscheidung hatte der Senat explizit auf das Demokratieprinzip und seine Ausführungen im zweiten NPD-Parteiverbotsverfahren verwiesen und damit zurecht die Funktionsfähigkeit des Berufsbeamtentums zum Schutz von Demokratie und Rechtsstaat vor autoritären Übergriffen betont. Das Land Berlin hat also dieser Selbstbehauptungsfähigkeit des Verfassungsstaats aktiv geschadet, indem es seine Beamten über eine Dekade hinweg verfassungswidrig unterbezahlt hat.
Ein weiteres zentrales Motiv des Beschlusses ist, dass der Gesetzgeber mit seiner im parlamentarischen Budgetrecht wurzelnden Gestaltungsverantwortung Staatsaufgaben (finanziell) priorisieren muss. Der Senat kommt zu dem Ergebnis, dass das Land Berlin dieser Kernaufgabe über zwölf Jahre lang nicht nachgekommen ist. Insbesondere in Zeiten „knapper Kassen“ habe die erste Gewalt normativ die Verantwortung, Verteilungskonflikte anzugehen. Das Berliner Besoldungsgefüge sei nachhaltig erschüttert und es sei wahrscheinlich, dass es über alle Ebenen hinweg angehoben werden muss, um ein akzeptables Level zu erreichen. Insbesondere im Anschluss an die Föderalismusreform aus dem Jahre 2006 sei das Land viel zu lange untätig geblieben. Nun muss das Land bis zum 31. März 2027 eine neue Besoldungsordnung entwerfen und an alle Beamte, die ihrer Besoldung widersprochen haben, Nachzahlungen in mittlerer dreistelliger Millionenhöhe leisten.
Rechtsschutz durch Vereinfachung
Das BVerfG erweitert die Vorlagen des OVG Berlin-Brandenburg und des BVerwG, um die gesamte A-Besoldungsordnung des Landes Berlin von 2008 bis 2020 zu überprüfen. Hierzu sieht es sich veranlasst, um die gewaltige Anzahl künftiger Verfahren weiter bewältigen und hinreichenden Rechtsschutz gewährleisten zu können. Da alle Beamten ein statusbezogenes Streikverbot trifft und ihre Besoldung gesetzlich festgelegt wird, sind sie darauf angewiesen, ihr grundrechtgleiches Recht auf amtsangemessene Alimentation einklagen zu können. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte billigt ein Streikverbot nur, wenn der Staat im Gegenzug garantiert, dass Beamte effektiven und zeitnahen Rechtsschutz in Anspruch nehmen können.
Um diesen Erfordernissen gerecht zu werden, vereinfacht der Senat seine Rechtsprechung. Das Resultat dieser Neustrukturierung ist ein Prüfprogramm bestehend aus drei Schritten: Zunächst wird vorab das Mindestbesoldungsniveau geprüft, um im Anschluss zu prüfen, ob die Besoldung an die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse und die internen Binnenabstände angepasst wurde. Falls ein Verstoß vorliegt, wird zuletzt geprüft, ob dieser gerechtfertigt ist.
Sobald die Schwelle der Mindestbesoldung unterschritten wird, entfallen die weiteren Schritte und das Gesetz ist automatisch verfassungswidrig (Rn. 75). Damit verabschiedet das Gericht seine bisherige Rechtsprechung zur verfassungsgerichtlichen Schwelle der Mindestbesoldung. Bislang war eine Alimentation nur verfassungsgemäß, wenn die Nettobesoldung eines Beamten und seiner Familie das Einkommen einer Vergleichsfamilie in der sozialen Grundsicherung um mindestens 15 % überstieg. Nun aber sagt der Senat, dass dadurch der qualitative Unterschied zwischen der Besoldung im Rahmen des lebenslangen Dienst- und Treuverhältnisses eines Beamten und der leistungslos bezogenen Grundsicherung „schon im Ansatz verwischt“ zu werden drohe (Rn. 73). Stattdessen führt er einen völlig neuen, im Ergebnis deutlich verschärften Maßstab ein: die sog. Prekaritätsschwelle. Diese Kenngröße entnimmt das Gericht dem wissenschaftlichen Datenmaterial der Armutsforschung. Diese liegt bei 80% des Medianäquivalenzeinkommens und bildet, europäisch vereinheitlicht, anhand des Datenmaterials der OECD die unterste Grenze zu einem tatsächlichen realen Armutsrisiko ab. Um Armut und Ungleichheit in einer Gesellschaft zu erforschen, vergleicht die Wissenschaft, das Netto-Haushaltseinkommen unabhängig von der Haushaltsgröße mithilfe des Medianäquivalenzeinkommens. Diese Kennziffer ist inter- und supranational anerkannt und mathematisch exakt zu berechnen (Rn. 74). Die Prekaritätsschwelle zielt stärker auf die Gewährleistung gesellschaftlicher Teilhabe als die bloße Existenzsicherung und liegt damit deutlich höher als 15 % über dem Grundsicherungsniveau. Die neue Betrachtungsweise erspare den bisherigen Ermittlungsaufwand der Gerichte und knüpfe an eine Kennzahl an, die anders als die Höhe der sozialen Grundsicherung politisch unumstritten ist (Rn. 74).
Der zweite Schritt besteht aus der sog. Fortschreibungsprüfung und einer Abwägung aller alimentationsrelevanten Kriterien. Hier bleibt es dabei, dass die Gerichte kontrollieren, ob der Gesetzgeber die Beamtenbesoldung über die Jahre hinweg unter Berücksichtigung der Entwicklung der Tariflöhne, des Nominallohns und der Verbraucherpreise hinreichend angepasst hat (Rn. 76 ff.). Hier sollen dann auch qualitativen Kriterien berücksichtigt werden, wie etwa die geforderte Ausbildung und die Attraktivität des Beamtenverhältnisses (Rn. 98 ff.). Das Gericht prüft außerdem, als Ausdruck des Leistungs- und Laufbahnprinzips, ob die Abstände zwischen den verschiedenen Besoldungsgruppen auch den verschiedenen Wertigkeiten der Ämter entsprechen (Abstandsgebot). Hiermit soll verhindert werden, dass einzelne Eingriffe die gesamte Systematik der Besoldung verändern, ohne dass der Gesetzgeber offen und transparent die Ämterwertigkeit grundlegend verändert.
Sollten dabei Verstöße festgestellt werden, können sie – in einem dritten Schritt – in Ausnahmefällen durch eine Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern gerechtfertigt werden. Rein finanzielle Gründe können nur bei außergewöhnlichen Haushaltsnotlagen (Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG) als Rechtfertigung im Rahmen eines Gesamtkonzepts zur Haushaltskonsolidierung dienen (Rn. 110).
Der nächste Konflikt wirft seine Schatten voraus
Es wird nicht allzu lange dauern, bis sich die neuen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts erneut bewähren müssen. Denn zurzeit beschäftigt eine bundesweite Strukturreform der Besoldungsberechnung sowohl die Bundes– und Landespolitik als auch die Justiz (zuletzt hier und hier).
Ein bundesweit „neues“ Leitbild der Beamtenbesoldung?
Stein des Anstoßes für die Reformen war ein Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 2020, der sich auch mit der Berliner Richterbesoldung beschäftigte. In einem obiter dictum zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum stellte es damals fest, dass der Staat nicht verpflichtet sei, „die Grundbesoldung so zu bemessen, dass Beamte und Richter ihre Familie als Alleinverdiener unterhalten können. Vielmehr steht es dem Besoldungsgesetzgeber frei, etwa durch höhere Familienzuschläge stärker als bisher die Besoldung von den tatsächlichen Lebensverhältnissen abhängig zu machen“ (Rn. 47). Bis heute geht das Gericht davon aus, dass ein einzelner Beamter mit seiner Besoldung (inklusive Familienzuschlägen) eine vierköpfige Familie ernähren und ihr einen seinem Amt angemessenen Lebensstandard ermöglichen kann. Diese Betrachtung ist aber kein normativ fixiertes Alleinverdiener-Leitbild, sondern eine faktische Bezugsgröße aus der Berechnungspraxis.
Allerdings entschlossen sich daraufhin einige Bundesländer dazu, ihre Besoldungsgesetze auf ein „neues Leitbild der Mehrverdienerfamilie“ umzustellen (zum Überblick). Die ähnlichen Gesetzesbegründungen und konkreten Ausgestaltungen sprechen dafür, dass die Länder die zitierte Passage für eine koordinierte Strukturreform nutzten(z. B. hier und hier) . Für Beamtenfamilien wird nun unterstellt, dass neben dem Beamtengehalt auch ein Partnereinkommen – in NRW etwa in Höhe eines Minijob-Gehalts – in das Haushaltseinkommen einfließt. Der Beamte muss die Familie nicht mehr als Alleinverdiener finanzieren, weswegen konsequenterweise die Mindestbesoldung entsprechend um den pauschalen Beitrag des Partners schrumpft. Durch diese vielfach als Rechentrick kritisierte Kalkulation dämpfen Bund und Länder die finanziellen Folgen ab, die entstehen würden, wenn alle Besoldungsgruppen unter Einhaltung der Binnenabstände kollektiv angehoben würden, damit – im Sinne der alten Rechtsprechung – der Mindestabstand zur Grundsicherung gewahrt ist. Die Länder rechtfertigen ihre Reformen zwar mit den geänderten modernen Familienverhältnissen – wofür sozialwissenschaftlich einiges sprechen mag –, verschleiern aber gleichsam die dahinterstehenden fiskalischen Motive.
Bei Beamten am unteren Ende des Besoldungsspektrums nutzen die Länder schließlich eine zweifelhafte Hilfskonstruktion. Wenn der Ehe- oder Lebenspartner kein Einkommen bezieht und dadurch der Mindestabstand zur Grundsicherung gerissen wird, können Beamte einen Ergänzungszuschlag beim Dienstherrn beantragen, um auf eine verfassungskonforme Alimentation zu kommen.
Mangelhafte Besoldungsreformen
Semantisch vermeidet der aktuelle Beschluss zwar jegliche Stellungnahme zu der Frage, ob Partnereinkommen pauschal miteinbezogen werden dürfen (Rn. 115). Schon jetzt ist jedoch festzuhalten, dass die Berliner Entscheidung die verfassungsrechtliche Kritik an großen Teilen der reformierten Besoldung im Hinblick auf das Mindestniveau und das Abstandsgebot stärkt.
Mit der neu eingeführten Prekaritätsschwelle signalisiert das Gericht den jeweiligen Gesetzgebern überdeutlich, dass sie die Mindestbesoldung nicht entlang der Grundsicherungsschwelle und damit gefährlich nah am Rand der Verfassungswidrigkeit manövrieren dürfen. Eine amtsangemessene Mindestalimentation muss nun, um qualitativ den Unterschied zur Grundsicherung zu betonen, die Freiheit vor existenziellen finanziellen Sorgen garantieren (Rn. 46). Dass Beamte in unteren Besoldungsgruppen – wie nach gegenwärtiger Rechtslage in vielen Bundesländern – erst durch ein Partnereinkommen oder einen Zuschuss des Dienstherrn den Abstand zur Grundsicherung einhalten, ist spätestens mit dem neuen Mindestniveau verfassungsrechtlich nicht mehr zu halten, insbesondere wenn der Zuschuss nur auf Antrag gewährt wird.
Zudem bestätigt das Gericht indirekt die Einschätzungen aus der Wissenschaft und von Verwaltungsgerichten (VG Hamburg, VG Schleswig), dass das Abstandsgebot zwischen den Besoldungsstufen durch die Reform verletzt werde. Die Ausführungen zur Besoldungsentwicklung (bezogen auf die Jahresbruttobesoldung), die mit der Entwicklung weiterer volkswirtschaftlicher Größen verglichen wird, sind hier aufschlussreich (Rn. 78), da das Gericht an dieser Stelle die unterschiedlichen Bestandteile der Besoldung erklärt. Für die Prüfung der Besoldung komme es nur auf die Bestandteile an, die strukturell dem Grundgehalt ähneln, und gerade nicht auf jene Bestandteile, die Sonderbelastungen ausgleichen sollen. Der Ergänzungszuschlag in der reformierten Beamtenbesoldung hat die Funktion, eine verfassungsgemäße Mindestbesoldung sicherzustellen. Er ähnelt mithin strukturell dem Grundgehalt und ist bei der Betrachtung der Binnenabstände einzubeziehen. Daraus ergeben sich dann diverse Verletzungen des Abstandsgebots, da Beamte in unteren Besoldungsgruppen, deren Partner kein eigenes Einkommen beziehen und dadurch Anspruch auf den Zuschlag haben, eine ähnlich hohe Besoldung wie Beamte in höheren Gruppen erhalten.
Im Übrigen darf der verfassungsunmittelbare Anspruch eines Beamten auf amtsangemessene Alimentation nicht von einem Antrag des Beamten abhängig gemacht werden. Das gegenwärtig vielfach genutzte Konzept mit einem Antragserfordernis und möglichen Ergänzungszuschlägen ist somit verfassungsrechtlich ungeeignet.
Wie entwicklungsoffen ist Art. 33 Abs. 5 GG?
Inwieweit schließlich die prinzipielle Einführung eines Leitbildes der Mehrverdienerfamilie mit den neuen Maßstäben des BVerfG vereinbar ist, hängt von der konkreten Ausgestaltung durch die Gesetzgeber ab. Die neue Prekaritätsschwelle, die auf die Vergleichbarkeit des Haushaltseinkommens abstellt, mag hierfür Ansätze bieten. Doch bleibt Skepsis angebracht, wenn die bilaterale Natur des Dienstverhältnisses dadurch gebrochen wird, dass das Partnereinkommen miteinbezogen wird. Über die Entwicklungsoffenheit des Besoldungsrechts wird auch das BVerfG daher erneut nachdenken müssen. Im Zuge dessen muss es außerdem berücksichtigen, dass die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit des Beamten, gemeinsam mit seinem Ehegatten oder Lebenspartner frei über ihr Familienmodell zu entscheiden, nicht durch die Art der Besoldung beeinträchtigt werden darf. Im Sinne des Schutz- und Förderauftrags des Art. 6 Abs. 1 GG dürfen sich Ehe und Familie nicht zu Lasten des Beamten auswirken.
Der Arbeitsaufwand für Gesetzgeber und Verfassungsgerichte wird weiter hoch bleiben. Auf den Befreiungsschlag zur Berliner A-Besoldung werden noch weitere folgen müssen.



