Binden die Grundfreiheiten den Unionsgesetzgeber?
Einsichten aus den Schlussanträgen des Generalanwalts Sánchez-Bordona zu den polnischen und ungarischen Nichtigkeitsklagen gegen die Reform der Entsenderichtlinie, C-620/18 und C-626/18
Ist der Unionsgesetzgeber bei der Ausübung seiner Binnenmarktkompetenzen ebenso eng an die Grundfreiheiten gebunden wie die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Zuständigkeiten? Darf er gegen die Grundfreiheiten re-regulieren? Und darf er bestimmte Regelungsbereiche aus dem Schutzbereich der Binnenmarktfreiheiten graduell oder gänzlich herauslösen, indem er eine vom EuGH als Beschränkung qualifizierte mitgliedstaatliche Maßnahme seinerseits sekundärrechtlich autorisiert?
Wenn Sie diese Fragen an drei Professorinnen und Professoren für Europarecht richten, könnte es interessant werden. In einem ersten Schritt werden die Befragten – nennen wir sie (entschuldigen Sie den Mangel an Kreativität) Müller, Meier und Schmidt – vielleicht noch identisch reagieren: Im Grundkurs Europarecht nicht richtig aufgepasst? Das ist doch glasklar. Diese Reaktion liegt nahe, denn auf den ersten Blick wirkt die Frage nach der Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers geradezu trivial. Nicht unwahrscheinlich ist aber, dass sich die Antworten anschließend in unterschiedliche Richtungen gabeln.
Eine Frage, drei Meinungen
Beschränkungen des Binnenmarkts, könnte Prof. Müller sagen, können vom europäischen und den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern gleichermaßen ausgehen. Damit solche Störungen des gemeinsamen Marktes unterbleiben, hält das europäische Recht beide Gesetzgeber gleichermaßen zur Beachtung der Binnenmarktfreiheiten an. Die Kompetenzen in den Binnenmarktkapiteln des AEUV sind Binnenmarktverwirklichungskompetenzen, keine allgemeinen Regulierungskompetenzen. Das schließt die Europarechtskonformität sekundärrechtlich herbeigeführter Beschränkungen natürlich nicht aus. Die betreffenden Maßnahmen müssen aber dieselben Rechtfertigungstests wie einzelstaatliche Binnenmarkthindernisse bestehen. Die Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers ist daher vollumfänglich zu bejahen.
Prof. Meier könnte dem entgegenhalten, dass der Zweck der europäischen Marktfreiheiten gerade in der Aufdeckung und Beseitigung jener Protektionismen liegt, die außerhalb der Regelungsbefugnisse des Unionsgesetzgebers liegen. Die Grundfreiheiten adressieren daher die Mitgliedstaaten. Dem europäischen Gesetzgeber bringt das Europarecht hingegen das Vertrauen entgegen, dass seine Entscheidungen das Integrationsprogramm verwirklichen und damit auch den Binnenmarkt schützen und fortentwickeln. Dabei ist er durch vieles gebunden, namentlich durch Kompetenzgrenzen und durch die Blockadeanfälligkeit der europäischen Politik, nicht aber durch die Grundfreiheiten. Prof. Schmidt könnte zu schlichten versuchen: Die Wahrheit liegt in der Mitte. Die vier Freiheiten binden den Unionsgesetzgeber, aber weniger eng als den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.
Die Implikationen der Antworten von Prof. Müller und Prof. Meier sind interessant und weitreichend. Eine vollumfängliche Bindung des europäischen Gesetzgebers würde bedeuten, dass der Demokratisierbarkeit der EU eigentümlich enge Grenzen gesetzt sind. Man könnte dann zwar das politische System der EU weiter parlamentarisieren, beispielsweise durch durch ein Parlamentsrecht auf Gesetzesinitiativen. Die Steuerungsfähigkeit des Unionsgesetzgebers bliebe aber merkwürdig begrenzt, denn er könnte, sobald eine Materie den Binnenmarkt tangiert, fast immer nur liberalisieren. Entsprechend bedeutungsarm wäre dann der Ausgang europäischer Wahlen.
Aber auch die Antwort von Prof. Meier hat es in sich. Gäbe es keinerlei Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, dann dürfte er genau jene Binnenmarkthindernisse, die der EuGH unter Verweis auf die Grundfreiheiten beseitigt hat, durch Ausübung seiner Binnenmarktkompetenz wieder in Kraft setzen, durch Autorisierung oder europaweite Harmonisierung. Dieses Ergebnis wäre zumindest bemerkenswert. Der Handlungsspielraum des Unionsgesetzgebers wäre gegenüber dem Lösungsvorschlag von Prof. Müller vergrößert. Folglich könnten dann auch EP-Wahlen zu echten Richtungsentscheiden über die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt in der EU werden, vorausgesetzt, dass es den europäischen Parteien gelingt, sich trotz heterogener Länderinteressen auf unterscheidbare Programme zu verständigen (ein politökonomisches, nicht aber europarechtliches Problem).
Wenig Gelegenheit zur Klärung
Tatsächlich bleibt die Befugnis des europäischen Gesetzgebers, Grundfreiheiten einzuschränken, auch rund sechzig Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge ein unausgefochtener, aber schwelender Kompetenzkonflikt in einem im Werden begriffenen politischen System. Bis heute ist weder dem Primärrecht noch der Rechtsprechung des EuGH eine eindeutige Antwort zu entnehmen, und die Einschätzungen in der Fachliteratur haben eine große Spannweite. Die Antworten unserer drei imaginären Professorinnen und Professoren lassen sich konkreten Positionen in den europarechtlichen Fachdebatten zuzuordnen (was ich hier unterlasse).
Nur selten wird grundfreiheitenbeschränkendes Sekundärrecht zum Gegenstand von EuGH-Entscheidungen, entsprechend wenig Kontur hat die Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers. Das zeugt meiner Einschätzung nach davon, wie viel binnenmarktbezogene Gesetzgebung bei Licht besehen aus reiner Kodifikation von Fallrecht besteht. Am prominentesten durchexerziert wurde das Problem bisher in der Saga über das Tabakwerbeverbot. Die auf Grundlage der Binnenmarktkompetenz im heutigen Art. 114 AEUV verabschiedete, aber vor allem gesundheitspolitische Ziele verfolgende Richtlinie 98/43/EG wurde vom EuGH im Jahr 2000 für nichtig erklärt, weil sich dem Gericht nicht erschloss, wie etwa ein Verbot von Tabakwerbung auf Sonnenschirmen den Binnenmarkt fördere (EuGH, C-376/98). Die im Jahr 2003 in Kraft getretene korrigierte Fassung (RL 2003/33/EG) ließ der EuGH hingegen passieren (EuGH, C-380/03), obwohl nicht schrecklich viel anders war. Die Richtlinie verfuhr etwas weniger restriktiv und wartete zudem mit einer geschickteren Begründung auf, warum das Tabakwerbeverbot dem Binnenmarkt diene.
Die unklare Beinfreiheit gegenüber den Binnenmarktfreiheiten ist einer der Gründe, warum die polnischen und ungarischen Nichtigkeitsklagen gegen die 2018 beschlossene Reform (RL 2018/957) der Entsenderichtlinie (96/71/EG) weder klar erfolgversprechend noch von vornherein aussichtslos waren. Die Konstellation ist jener aus der Tabakwerbeverbots-Saga ähnlich, denn die die Reform wurde wie auch die ursprüngliche Richtlinie von 1996 auf Grundlage der Binnenmarktkompetenzen des Unionsgesetzgebers erlassen (hier Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV), diente aber unbestreitbar vor allem dem Arbeitnehmerschutz. Am 28. Mai 2020 legte Generalanwalt Sánchez-Bordona seine Schlussanträge zu den als Rechtssachen C-620/18 (Ungarn) und C-626/18 (Polen) geführten Klagen vor.
Nicht zuletzt angesichts des exzeptionellen Grades an Politisierung des Konflikts kommt der Vorschlag des Generalanwalts, die Nichtigkeitsklagen abzuweisen, nicht überraschend. Niemand hatte erwartet, dass der EuGH diesen Kraftakt untergraben würde. Interessant ist in unserem Zusammenhang aber, wie der Generalanwalt zu seinem Ergebnis gelangte, speziell: Welche Art von Test musste die Reform in der Abwägung des Generalanwalts bestehen, um vor den Grundfreiheiten Bestand zu behalten? Wie, mit anderen Worten, hätte er den imaginären Disput zwischen unseren Expertinnen und Experten Müller, Meier und Schmidt entschieden?
Gibt es die Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers?
In Rn. 106 des Schlussantrags zur ungarischen Klage lesen wir:
Richtig ist, dass das Verbot von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Unionsorgane gilt.
Folgt der EuGH diesem Vorschlag, ist Prof. Meier aus dem Rennen. Das ging schnell. Der Unionsgesetzgeber ist demnach an die Grundfreiheiten gebunden. Prof. Meier möge aber sicherheitshalber in Hörweite bleiben, bis wir mehr über die Kontur des an die Unionsorgane gerichteten Verbots wissen.
Es bleiben Prof. Müller (vollumfängliche Bindung an die Grundfreiheiten) und Prof. Schmidt (lockere Bindung). In den Rn. 33-34 des Schlussantrags zur polnischen Klage, sachlich im Einklang mit den Rn. 105 und 107 des Schlussantrags zur Klage Ungarns, äußert sich Generalanwalt Sánchez-Bordona wie folgt:
Bei dieser Analyse gelange ich zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu nationalen Maßnahmen, mit denen die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen länderübergreifender Dienstleistungen beschränkt wird, nicht ohne Weiteres auf die Prüfung der Vereinbarkeit einer Unionsregelung (wie der Richtlinie 2018/957), die dieses Phänomen harmonisiert, mit Art. 56 AEUV übertragen werden kann.
Entgegen dem Vorbringen der polnischen Regierung kann eine Harmonisierungsrichtlinie Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs einführen, die, wenn sie von einem einzigen Mitgliedstaat erlassen würden, gegen Art. 56 AEUV verstoßen würden.
In dieser Klarheit haben wir das noch nicht gelesen: Der Unionsgesetzgeber ist befugt, genau jene Binnenmarktbeschränkungen einzuführen, die der EuGH auf mitgliedstaatlicher Ebene verboten hat. Genau das hatte Prof. Meier, den wir gerade freundlich verabschiedeten, vertreten. Zwar geht es hier zunächst nur um die Dienstleistungsfreiheit, aber bekanntlich strebt der EuGH nach Kohärenz über die einzelnen Grundfreiheiten hinweg.
Auch Prof. Müller dürfen wir an dieser Stelle aus unserer Runde entlassen, und er braucht sich auch nicht in Hörweite zu halten: Die oben proklamierte Bindung des Unionsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, so viel steht fest, ist nicht dieselbe wie jene des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers. In Rn. 35 des Schlussantrags zu Polen finden wir dafür folgende Begründung:
Denn jede Harmonisierungsmaßnahme, die ein grundlegendes soziales Interesse, wie die Rechte der entsandten Arbeitnehmer, schützt, erschwert in gewisser Weise die Dienstleistungsfreiheit der Unternehmen, die diese Arbeitnehmer einsetzen. Diese Beschränkung hat jedoch wesentlich geringere Auswirkungen auf den Binnenmarkt als eine gleichwertige nationale Maßnahme, da sie im gesamten Gebiet der Union gilt.
Das ist unmittelbar einsichtig, wenn Harmonisierungsmaßnahmen Heterogenität minimieren. Bemerkenswert ist aber, dass dies auch für die hier vorliegende Konstellation gelten soll, in der die Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer ja gerade nicht unionsweit vereinheitlicht werden: Was auf Entsandte übertragen werden darf, ergibt sich aus der Gesetzgebung des Empfängerlands, ohne dass die Heterogenität des in der EU zur Anwendung kommenden Arbeits- und Sozialrechts eingeebnet oder auch nur vermindert würde. Durchgesetzt oder zumindest verbessert wird vielmehr die Geltung des Prinzips „ein Land, ein Arbeitsrecht“.
Hinzu kommt noch, dass der Unionsgesetzgeber bei der Befähigung zur Übertragung ganzer Tarifgitter auf Entsandte zum Mittel der Autorisierung greift, also zur Maximierung einer Wahlfreiheit. In der geänderten Fassung von Art. 3, Abs. 8 der Entsenderichtlinie heißt es an der betreffenden Stelle: Es „können die Mitgliedstaaten auch beschließen…“.1) Diese Autorisierung macht nur dann einen Unterschied, wenn die Entscheidungen der Mitgliedstaaten nicht im Anschluss vom EuGH unter Verweis auf die Dienstleistungsfreiheit verboten werden dürfen. Es handelt sich um einen Akt sekundärrechtlicher Steuerung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten. Die Einsicht, dass das geht, ist nicht trivial und ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Erschließung sozialer Reformpotenziale.
Wie fest ist die Bindung?
Wie es aussieht, hat Prof. Schmidt unseren imaginären Disput gewonnen. Freilich hatte sie sich klug zwischen zwei Extremen positioniert: An die Grundfreiheiten ist der Unionsgesetzgeber weder vollumfänglich gebunden, noch bleibt er gänzlich von ihnen ungebunden. Zwischen den Extremen verbleibt viel Raum. Welchen Umfang hat die verbliebene Restbindung?
Rn. 109 des Schlussantrags zur ungarischen Klage lautet:
Die Kontrolle, die der Gerichtshof über die Gültigkeit einer Harmonisierungsrichtlinie im Rahmen einer Nichtigkeitsklage ausüben kann, umfasst die Prüfung, ob sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, verleiht ihm aber nicht die Befugnis, die ihrem Inhalt zugrunde liegenden politischen Entscheidungen zu ersetzen. Als allgemeiner unionsrechtlicher Grundsatz verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die von einer Unionsbestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen.
Und in Rn. 36 des Schlussantrags zur polnischen Klage, sachlich identisch mit Rn. 111 des Schlussantrags zur ungarischen Klage, führt der Generalanwalt aus:
Der Unionsgesetzgeber verfügt im Licht [der] Rechtsprechung zur Kontrolle der Verhältnismäßigkeit von Harmonisierungsvorschriften in einem so komplexen Bereich wie dem der länderübergreifenden Zurverfügungstellung von Arbeitnehmern über ein weites Ermessen. Zu klären ist, ob er von dieser Befugnis offensichtlich [Kursivsetzung im Original] unangemessen Gebrauch gemacht hat, als er das Interessengleichgewicht, zu dem er in der Richtlinie 96/71 gelangt war, durch die Richtlinie 2018/957 geändert hat.
Der Unionsgesetzgeber muss also, wenn er Grundfreiheiten wie die Dienstleistungsfreiheit beschränkt, nicht durch den strengen, auf mitgliedstaatliche Maßnahmen angewandten vierstufigen Cassis de Dijon– bzw. Gebhard-Test hindurch. Namentlich braucht er für die Rechtfertigung seiner Entscheidungen keine zwingenden Gründe des Allgemeininteresses. Er hat vielmehr einen weiten Ermessensspielraum, der durch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit begrenzt wird und der hier nicht spezifisch auf die Grundfreiheiten verengt, sondern als allgemeiner unionsrechtlicher Grundsatz aufgerufen wird. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf etwaigen offensichtlichen Missbrauch der Handlungsermächtigung zu prüfen. Aus Rn. 110 des Schlussantrags zur ungarischen Klage wird deutlich, dass diese Erfordernisse nach gängiger Rechtsprechung neben dem Übermaßverbot ein Verbot der Anwendung offensichtlich unangemessener Mittel umfassen, ein Gebot der Berücksichtig aller erheblichen Faktoren und Umstände sowie die Notwendigkeit einer sich auf objektive Kriterien stützenden Untersuchung auf entstehende Nachteile für andere Wirtschaftsteilnehmer. (Am Rande und aus aktuellem Anlass: Gefordert wird also eine auf die Wirkungen abzielende Folgenabschätzung.)
Der bemerkenswerte Umstand ist die Lockerheit der Restbindung an die Grundfreiheiten. Fast sind wir versucht, den sich noch in Hörweite aufhaltenden Prof. Meier trotz der nominellen Bejahung einer spezifischen Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers in unseren Kreis zurückzubitten, um ihn anschließend zum Sieger zu küren. Denn dass die Ausübung der Unionskompetenzen durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 5 Abs. 4 EUV begrenzt wird, davon gingen wir alle aus – auch ohne Grundfreiheiten. Und schon gar nicht nahmen wir an, dass der EuGH dem europäischen Gesetzgeber erlaubt, von irgendeiner seiner Gesetzgebungskompetenzen offensichtlich unangemessenen Gebrauch zu machen. In derselben Logik gehen wir davon aus, dass der Unionsgesetzgeber das Subsidiaritätsprinzip nicht offenkundig missachten und keine offenen Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit autorisieren darf.
Warum dann das nominelle Bekenntnis zur Grundfreiheitenbindung? Der Generalanwalt wollte hier wohl unterstreichen, dass auch die Grundfreiheitenträger im Test auf Verhältnismäßigkeit hinreichende Berücksichtigung finden müssen. Man kann es vielleicht so ausdrücken: Mit der Ausübung der Binnenmarktkompetenzen muss mindestens eine bewahrende Gestaltung der Rahmenbedingungen bezweckt werden, unter denen sich Grundfreiheiten überhaupt erst ausüben lassen. Der Unionsgesetzgeber ist keinem Liberalisierungsgebot unterworfen, aber der Bezug zur Weiterentwicklung des Binnenmarkts darf auch nicht vollständig verloren gehen. Diese Deutung passt zum Ausgang der ersten Sequenz des Dramas um das Tabakwerbeverbot: Reine Gesundheitspolitik darf mit den Binnenmarktkompetenzen nicht betrieben werden.
Offene Fragen und integrationspolitische Schlussfolgerungen
So bemerkenswert wie erfreulich ist im Ergebnis die Klarheit, mit der Generalanwalt Sánchez-Bordona die Gebundenheit des Unionsgesetzgebers an den für mitgliedstaatliche Binnenmarktbeschränkungen konstruierten Rechtfertigungstest verneint. Als Grundfreiheitenbindung des europäischen Gesetzgebers verbleibt lediglich eine vage Restbindung, die schwer von jenen Begrenzungen seiner Handlungsspielräume zu unterscheiden ist, die es auch ohne Grundfreiheiten gäbe. Erste Konturen eines an den Unionsgesetzgeber anzulegenden, äußerst lockeren, im Kern als Missbrauchskontrolle zu verstehenden Grundfreiheitentest sehen wir nur unscharf aufscheinen. Folgt der EuGH den Schlussanträgen des EuGH, ist eine verstärkte Fachdebatte über die Einzelheiten der Grundfreiheitenbindung des Unionsgesetzgebers zu erwarten.
Viel wichtiger sind aber die praktisch-politischen Implikationen. Der europäische Gesetzgeber ist gut beraten, im Zuge etwaiger Konflikte zwischen seinen Vorhaben und den Grundfreiheiten nicht vorschnell einzuknicken, etwa auf Anraten der juristischen Dienste. Er ist nicht dazu verdammt, als Maschinerie zur Kodifizierung des im Rahmen der EuGH-Judikatur zum Binnenmarkt gegen die Mitgliedstaaten ergangenen Fallrechts zu fungieren. Klare Konturen gewinnt der Spielraum des Gesetzgebers nur, wenn er mutig getestet wird.
Dieser Beitrag erscheint auch auf dem heterodoxen Wirtschaftsportal Makroskop. Ich danke Florian Rödl für wertvolle Kommentare zu einer früheren Fassung.
References
↑1 | Allerdings vernachlässige ich hier, dass der Unionsgesetzgeber an dieser Stelle kodifiziert: Die Möglichkeit der Übertragung ganzer Tarifgitter hatte der EuGH bereits im Zuge seiner Interpretation des Begriffs der Mindestlohnsätze eröffnet, der nun durch den Begriff der Entlohnung ersetzt wurde. Ob der europäische Gesetzgeber auch ohne das hier maßgebliche EuGH-Urteil Sähköalojen ammattiliitto (C-396/13) zur Autorisierungsstrategie hätte greifen dürfen, lässt sich den Schlussanträgen nicht entnehmen. |
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