This article belongs to the debate » Die Verstetigung von Bürgerräten in Deutschland
12 May 2025

Der Bürgerrat als Hybride?

Die politik- und rechtswissenschaftliche Diskussion über Bürgerräte kreist vor allem um die Frage nach rechtlich möglichen und sinnvollen Ausgestaltungsformaten, insbesondere um die Verbindlichkeit der Entscheidung oder Befassungspflichten des Bundestages. Dabei wird oftmals übersehen (oder zumindest nicht explizit ausdekliniert), dass konkrete Anforderungen an die Ausgestaltung aus der Verortung im Staat-Gesellschaft-Gefüge resultieren: Es gehört zu den Grundpfeilern der staatswissenschaftlichen Debatte, dass der gesellschaftliche Bereich durch grundrechtliche Freiheiten, das Staatswesen hingegen durch demokratische und rechtsstaatliche Bindungen geprägt ist. So plakativ diese Unterscheidung erscheint, so wenig gilt sie ausnahmslos: Zu denken ist an den fortwährenden Einfluss, den die gesellschaftliche Sphäre auf den politischen Bereich – in zunehmend institutionalisierter Form – ausübt (s. auch Stolleis).

Der Diskussion über die Institutionalisierung und Ausgestaltung von Bürgerräten sind daher spezifische Überlegungen über deren Verortung voranzustellen. Die maßgebliche Frage ist also zunächst, ob der Bürgerrat eine Einrichtung der gesellschaftlichen oder staatlichen Sphäre ist. Dies hängt (auch) davon ab, in welcher Eigenschaft die Bürgerinnen und Bürger durch den Bürgerrat angesprochen werden: In ihrer Eigenschaft als Staatsvolk oder als Teil der Zivilgesellschaft? Zum anderen ist von Bedeutung, welche Funktionen dem Bürgerrat konkret beigemessen werden bzw. von welcher Grundintention seine Institutionalisierung getragen ist. In der öffentlichen Debatte wie dem wissenschaftlichen Diskurs erscheint der Bürgerrat häufig als Antwort auf das tatsächliche oder vermeintliche „Responsivitätsdefizit” im Verhältnis von Staat und Bürger, woraus zugleich ein Repräsentationsdefizit resultiert. Dies soll dem Problem entgegenwirken, dass Wahlentscheidungen, „die im Wesentlichen zu ‘Personalplebisziten’ verkümmert sind, allein nicht mehr ausreichen, den Willen des Volkes zu komplexen Sachfragen der Politik klar und differenziert genug zum Ausdruck zu bringen” (Schleswig-Holsteinischer LT-Drs. 12/180, 129).

Demokratische Relevanz des Bürgerrats

Der Bürgerrat soll ein „repräsentatives” Abbild der Gesellschaft darstellen und inkludiert daher explizit auch jene Mitglieder der Gesellschaft, die nicht dem Staatsvolk zugehörig sind (Ausländer) oder noch nicht die aktive Staatsbürgerschaft innehaben (Minderjährige, häufig ab 16 Jahren). Jede Form der Willensbildung innerhalb des Bürgerrats entzieht sich daher den konstitutionellen Formen der Einflussnahme nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 und 2 GG. Umgekehrt könnte der darin enthaltene Versuch, den „gesellschaftlichen Willen” zu erfassen und im politischen Diskurs wenigstens wahrzunehmen, wenn nicht zu berücksichtigen, Ausdruck eines Re-Demokratisierungsprozesses sein, der dann der Verbesserung der Responsivität dient, welche wiederum als Leitbild des repräsentativen Demokratieprinzips erscheint.

Dieser Versuch sorgt zugleich für breites Unbehagen: So soll jede Form der staatlichen Initiierung oder Organisation eine so weitreichende Staatsnähe begründen, dass die staatliche Bindung durch das Demokratieprinzip und die Grundrechtsverpflichtung greift (Ernst/Friedemann, VerwArch 2024, 16 (28 f.); Haug, S. 517). Eine rein zivilgesellschaftliche Initiierung und Durchführung des Bürgerrats – wie sie etwa im Falle des Klimabürgerrats vorlag – wird wohl die Ausnahme darstellen.

Diese Frage stellt sich auch bei der Debatte um die Verbindlichkeit der Entscheidungen des Bürgerrats. Bereits die bloße Befürchtung – und zwar sowohl auf Seiten des Staats als auch auf Seiten der Gesellschaft –, bei den besonderen Organen der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung könnte der Eindruck entstehen, man sei an die Entschließung gebunden, könnte ihre Zuordnung zur Staatssphäre begründen. Auch ohne formale Rechtsverbindlichkeit der Ergebnisse stellte sich diese Beteiligungsform dann als Teilhabe an der Staatsgewalt dar.

Es hilft, hier auf die Maßstäbe zurückzugreifen, die bei anderen Formen der Volksbefragung eingeführt wurden. So wurde die vom BVerfG aufgeworfene Frage, ob Volksbefragungen „eine Veranstaltung des gesellschaftlich-politischen oder des staatsorganschaftlichen Bereichs” (BVerfGE 8, 104 (113)) seien, sowohl vom BVerfG  selbst (BVerfGE 8, 104 (114)) als auch vom BayVerfGH (BayVerfGH Rn. 95 ff.) zugunsten der Staatssphäre entschieden. Volksbefragungen eröffnen danach dem Staatsvolk eine Mitwirkung an der demokratischen Willensbildung, die sich als Teilhabe an der Staatsgewalt, als Ausprägung des status activus darstellt (BVerfGE 8, 104 (5. Ls.)). Fraglich ist, ob sich diese Argumentation auch auf Bürgerräte übertragen lässt. Während Volksbefragungen sich allerdings (begriffsnotwendig) an das Staatsvolk richten, sollen Bürgerräte ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft sein. Die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Urnengänge Wahl und Volksbefragung, die für BVerfG und BayVerfGH entscheidend ist, dürfte nicht ohne Weiteres auf den Bürgerrat übertragbar sein, geht es doch bei letzterem weniger um Dezision als Deliberation. Die Teilnehmenden eines Bürgerrats machen gerade nicht „in derselben Weise und nach denselben Regeln wie bei Wahlen zum Parlament und Volksabstimmungen” von einem Stimmrecht Gebrauch (so BVerfGE 8, 104 (114) zu Volksbefragungen).

Einwohnerversammlungen auf Bundesebene?

Ein besserer Vergleich könnten deshalb die Einwohnerversammlungen sein, die immerhin den Gemeindeordnungen von zwölf Ländern bekannt sind (Bremen und Hamburg kennen gar keine Einwohner-/Bürgerversammlung; Bayern und Hessen ausschließlich eine Bürgerversammlung). Im Einzelnen unterscheiden sich die Regelungen in den Ländern dabei erheblich hinsichtlich Auftrag und Regelungstiefe, weshalb dem Folgenden die Rechtslage in Baden-Württemberg zugrunde liegt. Die Einwohnerversammlung beruht auf dem Prinzip kollektiver Selbstverwaltung, das bereits aus praktischen Gründen nicht auf die Bundesebene übertragbar, jedenfalls aber nicht im Grundgesetz angelegt ist. Interessant ist, dass das ursprüngliche Konzept einer Bürgerversammlung später für alle Einwohner der Gemeinde i.S.d. § 10 Abs. 1 GemO BW geöffnet wurde. In diesem Kontext wurde auch diskutiert, ob diese Erweiterung zu einer Verschiebung des kommunalverfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges führe. Dies ist ein Argument, das auch der Bürgerrats-Debatte nicht fremd ist (s. Ziekow, S. 34 und passim). Einwohnerversammlungen dürfen unabhängig von ihrem Gegenstand keine, auch keine unverbindlich-politischen Beschlüsse fassen. Hierin scheint der gefundene Kompromiss zu liegen, um eine „Verschiebung des verfassungsrechtlichen Kompetenzgefüges” bereits im Keim zu ersticken. Die Versammlungen sollen die Gemeindeorgane in die Lage versetzen, bei noch nicht abgeschlossener Willensbildung in einer örtlichen Angelegenheit Anregungen und Impulse aus der Einwohnerschaft zu erhalten. Sie schaffen damit ein persönliches Dialogforum zur Erörterung wichtiger Gemeindeangelegenheiten zwischen den Gemeindeorganen und den Einwohnern.

Bürgerrat und Einwohnerversammlung sind schon deshalb nicht vergleichbar (anders wohl Ernst/Friedemann, VerwArch 2024, 16 (25)), da zwischen beiden Institutionen letztlich beachtliche Unterschiede bestehen. Zwar werden Einwohnerversammlungen stets durch den Gemeinderat eingesetzt (womit sie weitere Ähnlichkeit mit dem durch den Bundestag eingesetzten Bürgerrat aufweisen), ihre Einsetzung kann aber – in Baden-Württemberg und Sachsen – auch von den Einwohnern mithilfe eines Quorums (zwischen 2,5 und 5 %) erzwungen werden, womit die staatliche Einflussnahme spürbar relativiert wird. Erschwerend tritt hinzu, dass die Einwohnerversammlung allen Einwohnern die Möglichkeit der Teilhabe bietet, während der Bürgerrat immer nur auf eine Auswahl beschränkt werden kann.

Nur Scharade im grundrechtsfreien Raum?

Der Elefant im Raum bleibt der Umstand, dass in der staatlichen Sphäre grundsätzlich kein Grundrechtsschutz gilt. Abgeordneten etwa wird das parlamentarische Rederecht als Statusrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, jedoch nicht aus der Meinungsfreiheit zuerkannt. Man stelle sich das vor: der Bürgerrat – also ein deliberatives Konzept – nur Scharade im grundrechtsfreien Raum.

Mit Blick auf Enquetekommissionen zeigt sich, dass dort die Beschränkung von Grundrechten nicht unbekannt ist. Sachverständige nehmen an solchen Kommissionen zur Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgabe und auf Augenhöhe mit Abgeordneten teil. Um eine Ungleichbehandlung beider Gruppen zu verhindern, ist ihre Rechtsposition anzupassen (vgl. Austermann, in BeckOK GG, § 56 GOBT Rn. 11), weshalb die Meinungsfreiheit konsequenterweise durch ein statusgebundenes Rederecht ersetzt werden müsse. Andere Grundrechte – wie insbesondere die Wissenschaftsfreiheit – bleiben jedoch unberührt. Könnte man Bürgerräte in diesem Sinne als „Sachverständige des täglichen Lebens” verstehen? Anders als in Enquetekommissionen ist es jedoch nicht deren Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern im freien deliberativen Diskurs Argumente auszutauschen. Auch das in der Kommission relevante Zusammenspiel mit Abgeordneten entfällt bei Bürgerräten.

Eine dem Abgeordnetenstatus vergleichbare Stellung vermittelt der status activus. Vorschläge, Einwohnern im Bürgerrat einen solchen zuzusprechen (so Ernst/Friedemann, VerwArch 2024, 16 (29)), ist entgegenzuhalten, dass der status activus dem Bürger, also alleine dem Einwohner deutscher Staatsangehörigkeit, im Hinblick auf seine Beteiligungs-, Mitwirkungs- und Einwirkungsrechte bei der Ausübung staatlicher Gewalt vorbehalten ist (s. auch Epiney, Der Staat 34 (1995), 557). Das ist bereits mit Blick auf die Einwohnerversammlung problematisch. Aber auch Bürgerräte – oft auch als mini-publics bezeichnet – zielen grundsätzlich darauf, einen repräsentativen Ausschnitt der (nicht nur deutschen) Gesellschaft widerzuspiegeln. Der Teilnehmer ist als Bourgeois, nicht als Citoyen gefragt.

Parteien als Spiegelbild?

Was bedeuten diese Überlegungen nun für den Bürgerrat, der freiheitlich-deliberative mit hoheitlich-regulierenden Elementen zusammenführt, indem er öffentliche und staatliche Willensbildung miteinander verzahnt? Ein weiterer Vergleich liegt auf der Hand: Auch Parteien sind organisierter Ausdruck (zivil-)gesellschaftlicher Erwartungen und Wünsche, also quasi ein „Transmissionsriemen“ zwischen privater und öffentlicher Willensbildung. Diese Zwitterrolle der Parteien spiegelt sich auch in Art. 21 GG: Solange die Partei in ihrer verfassungsrechtlich-monopolistischen Rolle im Repräsentativsystem agiert, ist sie auch organisatorisch den Prinzipien repräsentativer Demokratie unterworfen und muss daher bspw. ihre innere Ordnung an demokratischen Grundsätzen ausrichten (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG). Dagegen tritt sie in der gesellschaftlich-politischen Sphäre in Konkurrenz zu zahlreichen Akteuren der Zivilgesellschaft wie Vereinen, Gewerkschaften, Kirchen und Medien. Hier kann und muss die Partei Trägerin von Grundrechten sein, da sie an der Willensbildung des Volkes mitwirkt. Wenn es nun aber keinen wahren Volkswillen und erst recht kein Gemeinwohl a priori gibt, muss diese Willensbildung, um eine freiheitliche zu sein, zunächst Grundrechtsschutz genießen. Zudem muss sie frei von staatlichem Einfluss bleiben, was sich insbesondere im staatlichen „Neutralitätsgebot“ widerspiegelt. In ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Parteien mithin trotz ihres verfassungsrechtlichen Status keine Verfassungsorgane.

Die hybride Stellung der Partei – einerseits an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, andererseits in die staatsorganschafltiche Sphäre einzuwirken – macht erforderlich, dass ihre innere Organisation demokratischen Grundsätzen genügt (damit sich die Willensbildung in ihrem Inneren demokratisch vollzieht). Erst diese Anforderung an ihre innere Struktur rechtfertigt ihre Verortung in der gesellschaftlich-politischen Sphäre, obwohl Parteien gleichzeitig (bei der Verflechtung hoher Partei- und Staatsämter deutlich spürbaren) Einfluss auf die Staatsgewalt nehmen.

Ohne Zweifel sind Bürgerräte und Parteien nicht wesensgleich. So ist der politische Einfluss des Bürgerrats geringer als der parteipolitische Einfluss, da dieser nicht an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirkt und auch nicht (jedenfalls mittelbar) an der Ausübung von Staatsgewalt beteiligt ist. Dies ergibt sich bereits aus der unterschiedlichen funktionalen Ausrichtung: Während Parteien (Partikular-)Interessen kanalisieren und zu Mehrheiten akkumulieren, um ihren Positionen mithilfe der Mehrheiten Gewicht in der politischen Arena zu verleihen, suchen Bürgerräte im diversen Meinungskanon Konsens statt Konfrontation. Der Bürgerrat ist in diesem Sinne nicht idem, sondern aliud im Verhältnis zur Partei. Je näher sich der Bürgerrat aber durch faktische oder moralische Verbindlichkeit seiner Entschließungen an eine Staatsgewalt andockt, desto eher besteht das verfassungsrechtliche Bedürfnis, seine innere Struktur an demokratischen Grundsätzen auszurichten. Insofern ist es auch unschädlich, dass die Partei hinsichtlich Gründung und Aufnahme von Mitgliedern frei ist, der Bürgerrat aber notwendigerweise nur denjenigen offensteht, die zufällig ausgewählt wurden, da diese Zufallsauswahl nach den demokratischen Prinzipien der Gleichheit und Willkürfreiheit erfolgt. Sie entfaltet eine vergleichbare kanalisierende Wirkung: Während Parteien ein Homogenisierungsimpuls eigen ist, bieten Bürgerräte einen Raum für größtmögliche Diversität. Damit kanalisieren Parteien und Bürgerräte Ansichten und Interessen entlang ihrer jeweiligen Aufgabenbeschreibung im Gesamtsystem, sodass Bürgerräte nicht nur hinsichtlich ihrer Wirkung, sondern auch ihrer Aufgabe mit Parteien vergleichbar sind.

Der Bürgerrat als Hybride

Als Transmissionsriemen der politisch-gesellschaftlichen Ordnung verbindet der Bürgerrat eine (unbestreitbare) Nähe zur Staatsgewalt mit einer gleichzeitigen (notwendigen) Distanz zu eben jener. Seine Funktionen (Zeccola) kann er nur erfüllen, wenn beide Seiten gleichberechtigt zusammentreten. Politische Parteien könnten aufgrund ihrer Janusköpfigkeit als Vorbild dienen, was die verfassungsrechtliche Maßstabsbildung angeht. Hieraus lässt sich ableiten, dass die Einrichtung und Ausgestaltung des Bürgerrats demokratischen Prinzipien genügen muss. Bei der Durchführung müssen auch Grundrechte und staatliche Neutralitätsgebot Berücksichtigung finden.


SUGGESTED CITATION  Winkler, Daniela; Löffler, Kornelius: Der Bürgerrat als Hybride?, VerfBlog, 2025/5/12, https://verfassungsblog.de/buergerrat_hybride_demokratie/, DOI: 10.59704/071171ee81313292.

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