29 August 2024

Bayerns Werk und Bundes Beitrag

Lektionen aus dem bayerischen Umgang mit der AIDS-Krise 

Es gibt Vorschriften des Grundgesetzes, die wirken so nüchtern und trocken, so technisch und inspirationslos, dass es einiges an Phantasie bedarf, um ihre ganze Wirkmacht zu begreifen. Art. 83 GG ist eine solche Vorschrift. „Die Länder führen die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus“, heißt es dort. Anders als dieser kurze Satz vermuten lässt, ist die darin begründete Verwaltungskompetenz der Länder nicht nur ein langweiliger Baustein der föderalen Kompetenzverteilung. Sie ist vielmehr ein Einfallstor, um das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger massiv zu beeinflussen. Ein Blick ins Bayern der späten 1980er-Jahre zeigt, welche diskriminierenden und stigmatisierenden Auswirkungen dies für einzelne Bevölkerungsgruppen haben kann. Im Folgenden wird anhand des bayerischen Umgangs mit der AIDS-Krise untersucht, wie wirkmächtig die Ausführungskompetenz der Länder, aber auch die Rechtsaufsicht des Bundes über diese Ausführung ist. 

Die AIDS-Krise

In den 1980er-Jahren erreichte die AIDS-Krise Deutschland. Im Angesicht dieser neuartigen Krankheit sah sich die Politik zum Handeln verpflichtet; nicht zuletzt aufgrund ihrer aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG abgeleiteten Schutzpflicht für die Gesundheit. Unter Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) entwickelte die damalige Bundesregierung ein bundeseinheitliches Konzept, quasi ein „Sofortprogramm“ im Kampf gegen AIDS. Die Priorität lag dabei auf Aufklärung und Beratung; die Eigenverantwortlichkeit der Menschen sollte betont und gestärkt, Stigmata abgebaut werden. Rita Süssmuth wurde nicht müde zu betonen, man wolle „die Krankheit, nicht die Betroffenen bekämpfen. 

Ein Bundesland allerdings positionierte sich von Anfang an gegen die Strategie des Bundes: Bayern. Genauer, eine Person: Peter Gauweiler (CSU), seinerzeit Staatssekretär im Innenministerium, etablierte sich in der öffentlichen Debatte schnell als lautester Gegner des Bundeskonzepts. Und es blieb nicht bei öffentlicher Kritik. Am 25. Februar 1987 beschloss die bayerische Staatsregierung einen „Maßnahmenkatalog zum Vollzug des Seuchenrechts“. Darin vorgesehen waren unter anderem Zwangstests für besonders ansteckungsverdächtige Personen. Der Katalog ließ auch direkt verlauten, wer als besonders ansteckungsverdächtig angesehen wurde: (männliche) Homosexuelle, Drogenkonsumenten und Prostituierte. 

Kamen die Personen dem angeordneten HIV-Test nicht nach, sollte dieser durch eine Vorführung durch die Polizei ermöglicht werden. Vorgesehen waren außerdem verpflichtende HIV-Tests vor der Einstellung in den öffentlichen Dienst und vor Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung. Solche Maßnahmen griffen tief in die Grundrechte der Betroffenen ein; vom Recht auf körperliche Selbstbestimmung bis zur allgemeinen Handlungsfreiheit und dem Gleichbehandlungsgebot. 

Der Maßnahmenkatalog zog viel öffentliche Kritik nach sich. Der Bundesverband der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes nannte das bayerische Vorgehen ungeeignet und schädlich. Die Regelungen würden zu Ausgrenzungen führen. Die Auswirkungen auf das Leben der als besonders ansteckungsverdächtig definierten Bevölkerungsgruppen waren massiv. 

Doch Bayern blieb standhaft – und zwar mit einem einfachen Argument: Der Katalog stelle lediglich eine angemessene und notwendige Ausführung des Bundesseuchengesetzes dar. Und dieses dürfe die bayerische Exekutive laut Art. 83 GG nun einmal als eigene Angelegenheit ausführen. 

Auftritt: Bayern

So weit, so halb richtig. In der Tat war das Bundesseuchengesetz ein Bundesgesetz, das in die Ausführungskompetenz der Länder fiel. Und tatsächlich konnte man argumentieren, dass eine HIV-Infektion eine „übertragbare Krankheit“ iSd § 1 Bundesseuchengesetz darstellte. Dies allein bot den Ländern aber keinen Freifahrtschein, um in systematischer Art und Weise massiv in die Grundrechte ganzer Bevölkerungsgruppen einzugreifen. Vielmehr waren nach § 10 Abs. 1 Bundesseuchengesetz lediglich Maßnahmen zulässig, die „notwendig“ waren, um durch die AIDS-Pandemie „drohende Gefahren“ abzuwenden. Das bedeutet, dass jede Einzelmaßnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, also geeignet, erforderlich und angemessen sein musste. 

Den Betroffenen stand die Möglichkeit offen, gegen Einzelmaßnahmen vor die Verwaltungsgerichten zu ziehen. Dieser Individualrechtsschutz entfaltete laut § 10 Abs. 8 Bundesseuchengesetz keine aufschiebende Wirkung und war mit vielen Kosten und großem Zeitaufwand verbunden. Solche Hürden trafen marginalisierte Gruppen in besonderem Maße, weil ihnen diese Ressourcen fehlten. In diesem Bewusstsein verkündete der Bundesverband Homosexualität bereits wenige Monate nach Beschluss des Maßnahmenkataloges, einen Rechtsschutzfonds einzurichten, um mit „schneller und unbürokratischer“ Hilfe Klagen zu ermöglichen. Wie viele Klagen durch diesen Fonds unterstützt wurden, lässt sich heute leider nicht mehr nachvollziehen.

Parallel versuchte ein Anwalt aus München, Volker Thieler, den Katalog in Gänze gerichtlich anzugreifen. Er erhob sogenannte Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, um die Verfassungswidrigkeit des Kataloges feststellen zu lassen. Doch auch dieses Vorgehen war nicht von Erfolg gekrönt. In seiner Entscheidung vom 13. Juni 1987 stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass es sich bei dem bayerischen Katalog um „Vollzugshinweise“ handele, die lediglich im Innenverhältnis bindend seien, in dem sie bestehende Gesetze auslegten. Neue Rechtssätze nach außen seien nicht normiert worden, so dass der Katalog mangels Außenwirkung auch nicht verfassungswidrig sein könne. Die Klage wurde als unzulässig abgewiesen. 

Auftritt: Bundesregierung

Die vorhandenen (Individual-)Rechtsschutzmöglichkeiten waren also ineffektiv. Umso größere Bedeutung kam der Rechtsaufsicht der Bundesregierung über die Ausführung des Bundesseuchengesetzes zu. Gemäß Art. 84 Abs. 3 GG übt die Bundesregierung die Aufsicht darüber aus, dass die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß ausführen. Ein Instrument, das in der bundesdeutschen Geschichte noch kein einziges Mal zur Anwendung kam. Auch im Falle der bayerischen AIDS-Bekämpfung sah die damalige Bundesregierung von aufsichtsrechtlichen Maßnahmen ab. 

Zwar war öffentlich bekannt, dass Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth wenig bis nichts vom bayerischen Vorgehen hielt, doch außer einer innerparteilichen Auseinandersetzung zwischen ihr und Peter Gauweiler hatte dies für den Freistaat keine Konsequenzen. Unter Verweis auf die aus Art. 83 GG abgeleitete Eigenverantwortung der Länder bei der Ausführung der Bundesgesetze schien die offizielle Kommunikationsstrategie aus Bonn „fragwürdig, aber zulässig“ gewesen zu sein. 

Politisch ist dies kaum überraschend. Dass die unionsgeführte Bundesregierung in Bonn ihre CSU-geführte Schwesterregierung in Bayern öffentlich in den Senkel stellt, entsprach wohl kaum der politischen Realität. 

Juristisch aber war die Politik des Duldens unter den gegebenen Umständen zumindest fragwürdig. Der Maßnahmenkatalog ließ die begründete Vermutung aufkommen, dass die bayerischen Behörden bei Vollzug des Bundesseuchengesetzes systematisch und rechtswidrig in Grundrechte eingriffen . Diese Vermutung alleine hätte nicht automatisch zur Folge gehabt, dass die Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 4 GG die Mangelhaftigkeit der Ausführung feststellte. Unabhängig davon, dass für einen solchen Schritt der Bundesrat hätte zustimmen müssen, hätte die Bundesregierung erst einmal mildere Mittel walten lassen können und aufgrund des Prinzips der Bundestreue wohl auch müssen. Sie hätte also zunächst genauer hinsehen können; im Zweifelsfall dadurch, dass sie gemäß Art. 84 Abs. 3 GG einen Beauftragen nach Bayern entsandt und dieser sich einen genaueren Überblick verschafft hätte. Nach dessen Einschätzung hätte die Bundesregierung dann weitere aufsichtsrechtliche Maßnahmen prüfen können. Ein solches Vorgehen wäre juristisch angemessen gewesen und hätte politische Signalwirkung entfaltet: an die politischen Entscheidungsträger in Bayern, aber insbesondere auch an die Betroffenen. Es hätte gezeigt: Wir verlieren euch nicht aus den Augen.

Auftritt: Bundestag

Die Untätigkeit der Bundesregierung rief ein anderes Bundesorgan auf den Plan: den Bundestag. Die Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen schrieben Anfragen und Anträge, um ihren massiven Unmut über die bayerische AIDS-Politik zum Ausdruck zu bringen und die Bundesregierung zum Handeln zu bewegen. Dazu nutzten SPD und Grüne auch explizit juristische Argumente. Der Antrag der Grünen-Fraktion vom 26. November 1987 führt beispielsweise aufs, dass es den im bayerischen Maßnahmenkatalog vorgesehenen weitreichenden Grundrechtseingriffe an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Das Bundesseuchengesetz sehe diese so nicht vor. Wegen der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie, nach der der Gesetzgeber insbesondere im grundrechtssensiblen Bereich alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss, hätten solche Maßnahmen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber auf eine gesetzliche Grundlage gestellt werden müssen. 

Das oppositionelle Bestreben der Bundestagsfraktionen hatte außer einer ausführlichen Diskussion im Plenum keine Konsequenzen. Auffällig ist lediglich, dass die Gesundheitsministerin der CDU ungewöhnlich viel verbale Unterstützung aus Reihen der Opposition erhielt. Auch hier schien den Akteuren klar zu sein, dass nicht Rita Süssmuth, sondern andere politische Kräfte unterbanden, dass der Bund in Bayern kritisch hinsieht. 

Lektionen

Der Vergleich zu heute drängt sich auf. Die COVID-19 Pandemie und die Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes – übrigens der Nachfolger des Bundesseuchengesetzes hat einmal mehr gezeigt, dass es im Falle einer neuartigen Erkrankung berechtigt sein kann, dass die Länder Bundesgesetze verschieden ausführen. Diese Unterschiedlichkeiten, das Ausnutzen eines gewissen Spielraums, sind ist in einem föderalen Staat richtig und wichtig. Es ist sogar vom Grundgesetz so vorgesehen, wenn die Länder die Bundesgesetze als „eigene Angelegenheit“ ausführen. Absolute Konformität ist weder gewollt, noch wäre sie aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsstrukturen und Lebenssituationen in den Ländern angemessen. 

Aber der Spielraum muss enden und die Bundesaufsicht beginnen, sobald ernsthaft in Zweifel steht, ob die Ausführung rechtmäßig ist. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn bei der Bundesregierung der Eindruck entsteht, dass die Länder unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes rechtswidrig in Grundrechte eingreifen und dadurch einer menschenfeindlichen und homophoben Ideologie Raum verschaffen. 

War die bayerische AIDS-Bekämpfung Mittel zum Zweck, um eine homophobe und menschenfeindliche Ideologie mit Leben zu füllen? Oder war die resultierende Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen nur das unvermeidbare Nebenprodukt einer notwendigen Gesundheitspolitik? 

Aussagen führender CSU-Politiker aus der damaligen Zeit unterstützen eine Vermutung. So ließ Bayerns damaliger Schulminister Hans Zehetmaier (CSU) über Homosexualität verlauten, dass dies „contra naturam – naturwidrig“ sei und die Schwulenszene als „Rand dünner gemacht, ausgedünnt werden muss.“ Der damalige CSU-Bundestagsabgeordnete und spätere Bundesinnenminister Horst Seehofer wurde mit den Worten zitiert, der Plan sei, „Infizierte in speziellen Heimen zu konzentrieren“. Peter Gauweiler räumte jüngst ein, dass die damals genutzte Sprache heute wohl nicht mehr angemessen sei. Die Maßnahmen aber verteidigt er bis heute.  

Was kann uns der Blick in die Vergangenheit lehren? Zunächst einmal, dass die Kompetenz zur Ausführung von Gesetzen ein mächtiges Handlungsinstrument der Länder ist. Mischt sich diese Machtposition mit menschenverachtenden Ideologien, kann sie als Ventil missbraucht werden, um diesen Ideologien Vorschub zu leisten. Betrachtet man den politischen Diskurs der letzten Jahre, kann man sich leicht vorstellen, welche marginalisierten Gruppen darunter besonders zu leiden hätten. 

Der Blick zurück zeigt aber auch, dass das Grundgesetz auf solche Szenarien vorbereitet ist. Denn die eigenständige Ausführungskompetenz der Länder in Art. 83 GG steht eben nicht alleine, sondern wird vom Aufsichtsrecht des Bundes begleitet. Diese Bundesaufsicht ist nicht nur ein Recht des Bundes, sie kann auch zur Pflicht werden spätestens dann, wenn der begründete Verdacht im Raum steht, dass die Ausführung eines Bundesgesetzes zur Umsetzung von menschenverachtenden Ideologien genutzt wird, die mit dem Gleichheitsgrundsatz und der Menschenwürde bereits im Ansatz nicht in Einklang zu bringen sind. Denn am Ende ist es der Bund, der für die rechtmäßige Ausführung der Bundesgesetze verantwortlich ist. Diese Pflicht fordert von der Bundesregierung, für die Vorgänge in den Ländern wachsam zu sein. Und ausreichend politisches Geschick, um den zu erwartenden Konflikt mit dem ausführenden Land möglichst effektiv zu lösen zum Schutze derer, die sich alleine nicht gut genug wehren können.

Zwei Kompetenzen, die man von einer Bundesregierung erwarten darf. 

 

Inspiriert wurde dieser Text durch den hörenswerten Podcast „I will survive – Der Kampf gegen die Aids-Krise“.


SUGGESTED CITATION  Brandau, Anna-Mira: Bayerns Werk und Bundes Beitrag: Lektionen aus dem bayerischen Umgang mit der AIDS-Krise , VerfBlog, 2024/8/29, https://verfassungsblog.de/bundesaufsicht-bayern-aids-krise/, DOI: 10.59704/a1478c9277c0a0c9.

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