Mit oder ohne Entscheidungsmacht?
Eine empirische Perspektive auf Bürgerräte
Juristische Überlegungen zur verfassungsrechtlichen Rolle und Verstetigung von deliberativen Bürgerräten brauchen ein empirisches Korrelat: In einer demokratischen Gesellschaft sind es letztlich die (idealerweise aufgeklärten) Einstellungen und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger, welche über die Wünschbarkeit von demokratischen Innovationen wie Bürgerräten und ihrer institutionellen Ausgestaltung entscheiden. Deshalb haben wir Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, USA, Irland und Finnland befragt, welche politischen Kompetenzen Bürgerräte haben sollen und wie sie institutionell ausgestaltet sein müssten, um Legitimität bei den Bürgerinnen und Bürgern zu erzeugen.
Verfassungsrechtliche und philosophische Perspektiven auf Legitimation
Wenn es um die verfassungsrechtliche Stellung von Bürgerräten in Deutschland geht, dann ist die juristische Perspektive ziemlich eindeutig. In einem neuen Beitrag schreiben Remschel et al. (2024: Zur Einbeziehung von Bürgerräten in Rechtsetzungsprozesse der Exekutive, 148): „Deliberative Verfahren können schon mangels demokratischer Legitimation nicht in Konkurrenz zur repräsentativen Demokratie treten, sondern sollten als Ergänzung derselben gesehen werden […] Obwohl die Einbeziehung der Bürgerschaft in den politischen Entscheidungsprozess wichtig ist, können die Bürgerräte oder deliberativen Verfahren nicht über die Kompetenzen des Parlaments hinweg entscheiden.“ Diese eingeschränkte Legitimation ist dadurch begründet, dass der Bürgerrat kein hoheitliches Gremium darstellt, welches bindende Entscheidungen treffen dürfte.
Diese juristische Sichtweise hat auch prominente philosophische Unterstützung. Christina Lafont und Nadia Urbinati argumentieren, dass bindende Entscheidungen von Bürgerräten „blindes“ Vertrauen von nicht-teilnehmenden Bürgerinnen und Bürgern implizieren würden, was den partizipatorischen Gedanken demokratischen Regierens unterminiert. Denn die nicht-teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger, so Lafont und Urbinati, können sich nie sicher sein, dass ihre deliberierenden Mitbürgerinnen und Mitbürger ihre Sichtweisen und Interessen effektiv vertreten, insbesondere wenn sie in den deliberativen Verfahren ihre Meinungen ändern (was oft geschieht). Und im Gegensatz zu gewählten Abgeordneten sind ihre lottokratischen „Vertreterinnen und Vertreter“ auch nicht im gleichen Maße rechenschaftspflichtig. Insbesondere können letztere nicht mit Abwahl bestraft werden, wenn sie die Interessen der Bürgerschaft schlecht vertreten haben.
Doch gibt es eine Reihe prominenter Stimmen, die dies dezidiert anders sehen. Claudia Chwalisz, die Begründerin von DemocracyNext (einer Organisation, die den Einsatz von Bürgerräten weltweit propagiert), verweist auf die Unzufriedenheit vieler Bürgerinnen und Bürger mit der Performanz repräsentativer Institutionen und insbesondere deren vielfachem Scheitern bei der Bewältigung von existentiellen Krisen wie dem Klimawandel. Gerade mit Blick auf den Klimawandel haben Bürgerräte (wie der französische Klimabürgerrat) erheblich radikalere Vorschläge gemacht als repräsentative Institutionen. Chwalisz schreibt: „While citizens’ assemblies today are largely advisory and complementary to our existing electoral institutions, it is not impossible to imagine a future where binding powers shift to these institutions— or where they perhaps even replace established governing bodies in the longer term.”
Einstellungen und Wünsche zu Bürgerräten
Doch wie sehen Bürgerinnen und Bürger selber die Rolle von Bürgerräten? Welche Machtbefugnisse würden sie Letzteren geben? Würden Bürgerinnen und Bürger es als legitim ansehen, wenn ihre durch das Los gezogenen Mitbürgerinnen und Mitbürger für sie bindende Entscheidungen treffen würden – oder möchten sie lieber Bürgerräte, welche die Politik und Bürgerschaft lediglich beraten?
Um dies herauszufinden, haben wir mit mehr als 8000 repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, den USA, Irland und Finnland Umfrage-Experimente durchgeführt (hier und hier). Konkret wurden Conjoint-Experimente durchgeführt, bei denen die Befragten jeweils zwischen zwei Szenarien mit zufällig zusammengesetzten institutionellen Attributen auswählen mussten. Die Studie wurde 2020 in Deutschland sowie 2021 und 2022 in den USA, Finnland und Irland umgesetzt. Die Ergebnisse zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger in allen vier Ländern Bürgerräte zwar als attraktive institutionelle Innovation ansehen. Machtbefugnisse in Form bindender Entscheidungen durch Bürgerräte aber klar ablehnen sowie eine direkte Involvierung von politischen Entscheidungsträgern in die Bürgerräte wünschen.
Ein verblüffendes Resultat dabei ist, dass diese Ergebnisse in den sehr unterschiedlichen Länderkontexten praktisch identisch sind: Selbst in Irland, wo die Bürgerinnen und Bürger bereits viel Erfahrung mit Bürgerräten haben, wünschen Bürgerinnen und Bürger keine Bürgerräte mit Machtbefugnissen und Autonomie. Auf teilweise Zustimmung (nicht aber in Deutschland!) stößt bei den Befragten jedoch die Idee, Empfehlungen von Bürgerräten mit direktdemokratischen Abstimmungen zu verknüpfen (wie in British Columbia 2004/2005 oder in Irland bei Abstimmungen zu gleichgeschlechtlicher Ehe 2016 und Legalisierung von Abtreibung 2018). Darüber hinaus wünschen die Bürgerinnen und Bürger zusätzliche institutionelle Vorkehrungen, zum Beispiel eine hohe Teilnehmendenzahl (über 100) und Empfehlungen mit klarer Mehrheit. Wichtig sei zudem, dass die Teilnehmenden im Losverfahren ausgewählt werden und nicht etwa durch offene Einladungen. Diese führen häufig dazu, dass vorrangig bereits privilegierte Gesellschaftsgruppen am Bürgerrat teilnehmen.
Allerdings verbirgt sich hinter diesem Resultat eine „konservative“ Perspektive. Advokaten von Bürgerräten argumentieren zu Recht, dass die Ablehnung von Bürgerräten mit Machtbefugnissen und Autonomie darauf zurückzuführen ist, dass die Befragten nichts über Bürgerräte wussten und keine konkreten Erfahrungen mit Letzteren gemacht haben. In der Tat hatten in unseren Umfragen nur 15 bis 25 Prozent der Teilnehmenden zuvor überhaupt von Bürgerräten gehört; und nur rund vier Prozent waren schon einmal daran beteiligt. Hätten die Befragten aber an Bürgerräten teilgenommen und gelernt, wie gut sie in der Praxis funktionieren – so das Argument der Advokaten – dann wären sie viel offener für Bürgerräte mit mehr Machtbefugnissen und Autonomie.
Unsere Studie zeigt in der Tat, dass Kenntnisse über Bürgerräte und insbesondere die Teilnahme an Bürgerräten zu mehr Unterstützung für bindende Entscheidungen und autonomes Handeln von Bürgerräten führen. Dies trifft auch für diejenigen Befragten zu, die ein hohes Vertrauen in andere Bürger als politische Entscheidungsträger und ein geringes Vertrauen in Politik und politische Institutionen haben und mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind. Diese Offenheit bedeutet jedoch nicht, dass solche Bürgerinnen und Bürger tatsächlich für Bürgerräte mit Machtbefugnissen und Autonomie sind. Letztlich bevorzugen selbst jene Befragten, die an Bürgerräten teilgenommen haben und Vertrauen in andere Bürgerinnen und Bürger als politische Entscheidungsträger haben, keine Bürgerräte mit Machtbefugnissen und wünschen sich nicht mehr Autonomie (im Vergleich zu Bürgerräten mit beratender Funktion und Involvierung von politischen Entscheidungsträgern).
Zwei Lesarten der Ergebnisse
Diese Ergebnisse beinhalten wichtige (obgleich ambivalente) Erkenntnisse für die aktuelle verfassungsrechtliche Diskussion zur institutionellen Rolle von Bürgerräten. Eine mögliche Schlussfolgerung aus unseren Ergebnissen ist, dass es keine eindeutige Forderung der Bürgerinnen und Bürger nach autonomen und mit Machtbefugnissen ausgestatteten Bürgerräten in der Architektur von Demokratien gibt. Im Einklang mit der aktuellen deutschen verfassungsrechtlichen Debatte wie auch der philosophischen Kritik können Bürgerforen demnach nur beratende Funktionen für die Politik und die breite Öffentlichkeit haben. Wie Christina Lafont festhält, können sie beispielsweise helfen, (unreflektierten) Mehrheitsmeinungen zu widersprechen, die öffentliche Meinung besser zu antizipieren oder ein scharfes Auge auf mächtige Interessen zu werfen. Aber sie können demnach die repräsentativen Institutionen niemals ersetzen und eigenmächtig handeln.
Eine andere Lesart unserer Ergebnisse geht von der Feststellung aus, dass insbesondere konkrete Erfahrungen mit Bürgerräten zu mehr Offenheit für Bürgerräte mit Machtbefugnissen und Autonomie führen – was eine Offenheit für eine neue, komplementäre Rolle von Bürgerräten signalisieren könnte, sobald Bürgerräte verbreitet zum Einsatz kommen. Konkret geht es um neue Formen der Koexistenz, bei welchen Bürgerräte auf intelligente Weise mit repräsentativen Institutionen verkoppelt werden (letztere aber nicht ersetzen). Der politische Philosoph Arash Abizadeh hat eine „hybride“ Variante des Zweikammersystems vorgeschlagen, bei denen parteiliche und lottokratische Kammern kombiniert werden (einen ähnlich gelagerten Vorschlag haben Patrizia Nanz und Claus Leggewie mit der „Konsultativen“, einer vierten Gewalt neben Exekutive, Legislative und Judikative gemacht). Abizadeh argumentiert, dass sich parteiliche und lottokratische Kammern auf kongeniale Weise ergänzen könnten: „elections are a mechanism of people’s political agency and of accountability, but run counter to political equality and impartiality, and are insufficient for satisfactory responsiveness; sortition is a mechanism for equality and impartiality, and of enhancing responsiveness, but not of people’s political agency or of holding representatives accountable.”
Von der Utopie in die Realität
Was wie eine Utopie aussehen mag, ist bereits institutionelle Realität. In Ostbelgien und Paris wurde das repräsentative System durch ständige (und verstetigte) Bürgerversammlungen ergänzt. Auch wenn diese Versammlungen nur beratende Funktionen haben, scheint es doch, dass wir in ein Zeitalter der „differenzierten“ Lottokratie eintreten, in dem lottokratische Elemente mit repräsentativen Institutionen auf neue Weise verkoppelt werden. Dabei werden sich zwangsläufig auch Fragen politischer Kompetenzen von Bürgerräten stellen, wie zum Beispiel Initiativ- oder Gegenvorschlagsrechte. In der juristischen Diskussion zur Verstetigung von Bürgerräten sollte darüber nachgedacht werden, wie solche „hybriden“ Formen demokratischen Regierens in der deutschen politischen Praxis möglich gemacht werden könnten.