Clash of Prosecutors
Die Europäische Staatsanwaltschaft als Garant für den kroatischen Rechtsstaat
Korruption muss in einem Rechtsstaat verfolgt werden. Aber was, wenn der Rechtsstaat zwei Gesichter hat? So jedenfalls könnte sich derzeit die kroatische Bevölkerung fühlen. Dort wird seit dem 15.11.2024 heftig darüber debattiert, wer die Korruption im Land verfolgen darf. Nachdem der Gesundheitsminister, Vili Beroš, und sieben weitere Personen wegen eines Korruptionsskandals um die Beschaffung von medizinischen Geräten festgenommen wurden, spielt sich ein bislang beispielloser Konflikt zwischen der kroatischen Staatsanwaltschaft und der erst 2021 eingeführten Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) ab. Die anfängliche Hoffnung auf gute Kooperation zwischen nationaler und europäischer Staatsanwaltschaft ist in Kroatien zerbrochen und das typisch europäische „Zusammenruckeln“ erzeugt ein besorgniserregendes Knirschen zwischen den Institutionen. Der Konflikt gipfelte in einem Schreiben an die Kommission, in dem die EUStA systematische Rechtsstaatsdefizite im Sinne der Konditionalitätsverordnung (VO 2020/2092, kurz: KVO) anprangert und sie zum Einschreiten auffordert. Insgesamt wird deutlich, dass sich die EU in Kroatien derzeit, insbesondere durch die Arbeit der EUStA, neue Legitimität erarbeitet, weil sie aktiv gegen Korruption vorgeht. In den Augen der kroatischen Bevölkerung ist die EU daher immer weniger eine bürokratische Zumutung, sondern vielmehr eine mächtige Institution, die Gerechtigkeit fördert und Missstände bekämpft, die von der eigenen Justiz nicht adressiert werden.
Korruption im Gesundheitswesen
Am 15. November 2024 durchsuchte die kroatische Antikorruptionsbehörde USKOK um 7:10 Uhr das Haus des Gesundheitsministers Vili Beroš und nahm ihn wegen des Verdachts der unlauteren Einflussnahme fest. Um 9 Uhr trat USKOK vor die Presse und nur eine halbe Stunde später war der Gesundheitsminister bereits abgesetzt. Um 10 Uhr gab die EUStA bekannt, dass sie seit Juli aufgrund schwerwiegenderer Vorwürfe gegen acht Verdächtige, darunter auch Beroš, ermittelt. Im Zentrum dieser Anklage steht Hrvoje Petrač, der laut EUStA eine kriminelle Vereinigung anführte, die Bestechungsgelder verteilte, um Ausschreibungen für medizinische Geräte zu manipulieren. Das Ziel soll gewesen sein, sowohl Mittel des EU-finanzierten kroatischen Nationalen Wiederaufbau- und Resilienzplans 2021–2026 wie auch des kroatischen Staatshaushalts zu vereinnahmen. Just an diesem Tag plante die EUStA einen richterlichen Durchsuchungs- und Haftbefehl zu beantragen und die Ermittlungen dadurch weiter voranzutreiben. Der Zugriff sollte vier Tage später erfolgen. Wenn es sich nicht um einen höchst unwahrscheinlichen Zufall handelt, muss man sich die Frage stellen, weshalb die nationale Justiz im letzten Moment der EUStA zuvorkam.
Jedenfalls: Von den Ermittlungen und auch der Festnahme durch USKOK habe die EUStA erst durch Presseberichte erfahren. Die beiden Staatsanwaltschaften scheinen ihre Ermittlungen somit nicht koordiniert zu haben. Der unionsrechtlich vorgesehene Austausch mit beidseitigen Informations- und Unterrichtungspflichten (Art. 24 Abs. 1 bis 8 EUStA-VO) wurde offensichtlich umgangen.
Zusätzlich skeptisch macht, dass gegen Beroš von USKOK und der EUStA unterschiedliche Vorwürfe mit völlig unterschiedlichen Strafmaßen erhoben werden. Während USKOK Beroš „nur“ vorwarf, seinem Bekannten Saša Pozder von der Firma Medical Innovation Solutions (MIS) Vorteile bei der Vergabe von Robotermikroskopen in der neurochirurgischen Klinik von Krešimir Rotim verschafft zu haben, erhebt EUStA umfassendere Vorwürfe, darunter auch, dass der Minister selbst erhebliche Bestechungsgelder angenommen haben soll. Bei den manipulierten Ausschreibungen sollen weiter die Verkaufspreise dem Zwei- bis Dreifachen des üblichen Marktwerts entsprochen haben; ein Gesamtschaden von mehr als 600 Tausend Euro.
Der Missbrauch europäischer Gelder betrifft insbesondere eine Ausschreibung im Klinikum KBC Split 2022. Dieses Millionenprojekt sollte vollständig durch Mittel aus der EU-Aufbaufazilität (RRF) finanziert werden. Die Klinikdirektoren lehnten jedoch ab, sich auf das Geschäft einzulassen. In der Folge stieß die EUStA auf ein Netzwerk krimineller Machenschaften, das weit über diesen Einzelfall hinausging und auch nationale Gelder veruntreute. Bei diesen nationalen Projekten könnte es sich aber um zusammenhängende Fälle nach Art. 22 Abs. 3 EUStA-VO handeln, wodurch auch in diesen Fällen die EUStA zuständig wäre.
USKOK argumentiert indes, dass der Großteil der später erfolgreichen Bestechungen ausschließlich nationale Gelder beträfe. Bei dem Fall in Split lägen zudem sechs Monate zwischen dem Bestechungsversuch und der eigentlichen Ausschreibung; die Bestechung kam zudem nie zustande. Somit seien keine europäischen Mittel veruntreut worden und die entscheidenden drei Fälle beträfen nur das nationale Budget. Die Ausdehnung der Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft, so der Generalstaatsanwalt Turudić, stelle „eine unlautere Einmischung“ dar. Entsprechend drängte man auf Übergabe der Akte und der Zusammenführung der Ermittlungen. Auch wenn die EUStA zunächst noch mit ihrem Evokationsrecht argumentierte, entschied Turudić ohne weitere Koordination zugunsten der kroatischen Staatsanwaltschaft und übernahm die
EUStA-Akten. Am 21.11. widersprach die EUStA aber in einer Pressemitteilung der Auffassung des Generalstaatsanwalts, kritisierte unter anderem seine alleinige Zuständigkeit als unionsrechtswidrig und verfasste ein formelles Schreiben an die Kommission verbunden mit der Rüge systemischer Rechtsstaatsdefizite.
Konfligierende Zuständigkeiten, Justizbehörden und Systemische Defizite
Der vorliegende Fall zeigt die Herausforderung eines Mischsystems auf, das durch einen politischen Kompromiss geschaffen wurde und die Entscheidung im Konfliktfall zunächst nationalen Behörden überlässt. Ermittlungen durch die EUStA genießen grundsätzlich Vorrang (Art. 25 Abs. 1 S. 2 EUStA-VO). Im Konfliktfalle solle jedoch nach Art. 25 Abs. 6 EUStA-VO diejenige Behörde über die sachliche Zuständigkeit entscheiden, die auf nationaler Ebene für die Verteilung der Strafverfolgungszuständigkeiten zuständig ist. Damit hat das Unionsrecht jedenfalls in erster Instanz die Zuständigkeitsentscheidung nicht in der eigenen Hand. Solange europäische und nationale Strafverfolgungsbehörden miteinander kooperieren, wirkt sich dieser neuralgische Punkt nicht aus. Wenn allerdings Uneinigkeiten über die Strafverfolgungszuständigkeit (wie in Kroatien bereits im März) oder generelle Zweifel am rechtsstaatlichen Verfolgungsinteresse bestehen, existiert hiermit eine nationale Blockademöglichkeit für Ermittlungen, auch wenn der EU-Haushalt betroffen ist. Genau solche Ermittlungen behindert nun der kroatische Generalstaatsanwalt, dessen Berufung bereits von Protesten begleitet wurde und international skeptisch beäugt wurde, indem er das Evokationsrecht der EUStA (Art. 27 Abs. 3 EuStA-VO) mit einer Entscheidung pro USKOK konterkarierte. Die EUStA argumentiert, dass es sich um Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union handele beziehungsweise um mittelbar zusammenhängende Straftaten, die USKOK müsse daher seine Ermittlungen niederlegen (Art. 27 Abs. 5 EUSTA-VO). Turudić widerspricht dem nach Maßgabe des Art. 25 Abs. 1 EUStA-VO, weil seiner Ansicht nach nur nationale Gelder betroffen gewesen seien (vgl. Art. 22 Abs. 1 EUStA-VO).
Die alleinige Entscheidungsbefugnis des Generalstaatsanwalts (NN 146/20 Art. 8) wird von der EUStA als unionsrechtswidrig eingestuft. In der Pressmitteilung bleibt aber unklar, worauf sich der Unionsrechtsverstoß konkret bezieht. In Betracht kommt die Frage der Unabhängigkeit des Generalstaatsanwalts von politischen Weisungen. Erwägungsgrund 62 EUStA-VO sieht grundsätzlich vor, dass die Entscheidung über die Zuständigkeitsverteilung i. S. v. Art. 25 Abs. 6 EUStA-VO von einer nationalen Justizbehörde zu treffen ist. Sowohl Staatsanwaltschaften als auch Gerichte fallen grundsätzlich hierunter (EuGH. Rs. C-452/16, Rn. 31 ff. m.w.N.). Die kroatische Regierung hat – anders als in Deutschland – kein Weisungsrecht gegenüber dem Generalstaatsanwalt, er handelt als unabhängiges und selbständiges Organ. Insofern dürfte die allgemeine Rechtsstellung des Generalstaatsanwalts nach kroatischem Recht nicht gegen Unionsrecht verstoßen.
Ausschlaggebend dürfte eher sein, dass gegen die Entscheidung des Generalstaatsanwalts kein Rechtsschutz vorgesehen ist. Denn Art. 42 Abs. 2c) EUStA-VO sieht vor, dass der Gerichtshof bei Zuständigkeitskonflikten im Vorabentscheidungsverfahrens über die Auslegung der EUStA-VO entscheidet. Dieser Norm kommt gerade dann eine eigene Bedeutung zu, wenn ein Mitgliedstaat die Auflösung von Zuständigkeitskonflikten nach Art. 25 Abs. 6 EuStA-VO nicht einem Gericht, sondern einer anderen Justizbehörde überlässt. Diese ist dann nicht in den europäischen Rechtsprechungsverbund eingegliedert. Folglich muss der Mitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit implementieren, die den Weg zum EuGH und damit zu einer einheitlichen Auslegung der EUStA-VO im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV ermöglicht. In Deutschland, wo der Generalbundesanwalt in erster Linie zuständig ist, eröffnet § 142b Abs. 2 S. 2 GVG etwa den Weg zum BGH und damit auch über Art. 267 Abs. 3 AEUV zum Gerichtshof.
Das kroatische Recht müsste somit geändert werden, auch um zukünftig eigenmächtige Blockaden des Generalstaatsanwalts zu verhindern. Die Opposition verlangt, dass künftig nicht mehr der Generalstaatsanwalt, sondern das Oberste Gericht über Kompetenzkonflikte entscheidet. Dies würde den Vorgaben des Unionsrechts entsprechen. Aktuell wird im Sabor, dem kroatischen Parlament, ein Normenkontrollantrag bezüglich der aktuellen Regelung beim Verfassungsgericht vorbereitet.
Das Unbehagen in der kroatischen Staatskultur
Viele Fragen bleiben für die kroatische Öffentlichkeit ungeklärt. Die Grenze zwischen legitimen Bedenken und Verschwörungstheorien verschwimmt dabei zunehmend. Ein geleakter WhatsApp-Austausch zwischen den Hauptakteuren dieser Affäre bestätigt düstere Vorahnungen vieler Kroaten. Die Vorstellung ubiquitärer politischer Einflussnahme auf die Justiz und der korrupten Verflechtung von Wirtschaft und Politik, insbesondere über öffentliche Ausschreibungsverfahren, ist längst zu einer Art kroatischen Staatskultur geworden. Der Gesundheitsminister erscheint dabei nur als „kleiner Fisch“, während die entscheidenden Protagonisten weiterhin geschützt werden. Der Skandal zeigte für viele Skeptiker, dass sich die kriminellen Netzwerke offensichtlich nicht an europäischem Geld vergreifen wollen, weil hier tatsächlich eine Strafverfolgung zu befürchten ist. Dagegen machte USKOK den Eindruck Beroš und Teile des Clans noch schützen zu wollen. Da die EUStA in Kroatien über die Missstände in der nationalen Staatsanwaltschaft informiert ist – ihre Mitarbeiter arbeiteten oft selbst zuvor bei USKOK – vermutet man, sie habe die nationalen Behörden bewusst so lange wie möglich rausgehalten. Der unkoordinierte USKOK-Zugriff, der der EUStA nur wenige Tage zuvorkam, sollte nach diesen Theorien vor allem Beweismaterial verschwinden lassen, das weitere Kreise (und vor allem den Premierminister selbst) belasten könnte. Den Vertretern der EUStA wurde damit nicht nur monatelange Vorbereitung zu Nichte gemacht, sondern ihnen drohen wegen der Weitergabe von Ermittlungsinformationen über das sogenannte Lex AP (Artikel 307.a Strafgesetzbuches) auch strafrechtliche Konsequenzen. Dass die Regierungspartei den Skandal erneut als „bad Apple“ behandelt, reiht sich ein in eine Serie von mittlerweile 30 Ministern, die unter Plenković seit 2016 wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten mussten. Ein weiteres Zeichen für die „Übermacht der Unterwelt“ in Kroatien sieht man darin, dass Tamara Laptoš, die europäische Staatsanwältin in Kroatien, im Zusammenhang mit dem Fall Polizeischutz beantragt hat.
Sichtbare Rechtsstaatlichkeit
Zwar könnte der Normenkontrollantrag des Parlaments und Änderungen des kroatischen Rechts den Konflikt vorerst unionsrechtskonform befrieden. Dennoch geht die EUStA mit der Rüge systematischer Rechtsstaatsmängel auf Konfrontationskurs mit den kroatischen Behörden. Sie beweist damit ihren Willen, sich durch die robuste Verteidigung ihres Kompetenzbereichs als junge, aber selbstbewusste EU-Institution zu behaupten. Wie die Kommission auf diesen Vorstoß reagieren wird, bleibt abzuwarten. Auch die EUStA regt in ihrer Pressemitteilungen keine konkreten Maßnahmen an, in Betracht kommen aber Rechtsstaatlichkeitsverstöße zulasten des EU-Haushalts i.S.v. Art. 4 Abs. 2 lit. a), c), e) KVO, die die Kommission zu Maßnahmen nach Art. 5 KVO veranlassen könnten. So könnte die Kommission etwa Zahlungen aus der Aufbau- und
Resilienzfaszilität (AFR) aussetzen und dadurch den Druck auf die kroatischen Behörden massiv erhöhen. Da die KVO den EU-Haushalts (Art. 322 Abs. 1 lit. a) AEUV) schützen soll, muss für jeden Verstoß der tatsächliche Zusammenhang zwischen EU-Haushaltsmitteln und dem Wert der Rechtsstaatlichkeit belegt sein. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit darf dabei nicht überstrapaziert werden, um zu verhindern, dass mit der Konditionalitätsverordnung eine generelle Werteaufsicht etabliert wird. Die direkte Behinderung von Korruptionsermittlungen der EUStA allerdings beeinträchtigt die finanziellen Interessen der Union wohl hinreichend unmittelbar (EuGH RS. C-156-/21, Rn. 147) und dürfte somit auch einer engen Definition von Rechtsstaatlichkeit entsprechen. Der Nachteil für EU-Mittel scheint dabei sogar deutlich leichter begründbar zu sein als bei bisherigen Anwendungen (Ungarn und Polen); jedoch überrascht die Dynamik der Eskalation: Statt systematische Rechtsstaatsmängel anzuklagen, hätte die EUStA auch lediglich ein Vertragsverletzungsverfahren in diesem Einzelfall fordern können.
Für viele Kroaten ist die EU hier jene mächtige Institution, die tatsächlich für Ordnung sorgt. Selten zuvor konnte man in den Kommentarspalten der Nachrichtenportale so viele lobende Worte über sie lesen. Während Premierminister Andrej Plenković von einer übertriebenen Viktimisierung der EUStA spricht und Präsident Milanovic behauptet, dass sie eine „juristische Prothese“ und unter der Führung der Rumänin Laura Kövesi ebenfalls politisch höchst abhängig sei, könnte sie für Teile der Bevölkerung zu einer Hoffnungsträgerin werden. Viele Kroaten erinnern sich gegenwärtig daran, warum sie für den EU-Beitritt gestimmt haben. Nicht, weil sie Geld von der EU erhalten, nicht, weil die EU die Roaminggebühren abschafft, und schon gar nicht, weil sie ihr Geld im Ausland nicht mehr wechseln müssen, sondern weil die EU jene Menschen anklagt, die verhindern, dass sie und ihre Kinder eine moderne Gesundheitsversorgung bekommen. Der Kampf gegen die Korruption wird dabei längst nicht mehr von der „eigenen“ Justiz erwartet – diese wird vielmehr beschuldigt, selbst Teil des Problems zu sein. Die Kroaten beginnen, den starken Arm aus Brüssel und Luxemburg zu schätzen, der nicht nur den Eigenverkauf von Rohmilchkäse und das private Schnapsbrennen regelt, sondern in Gestalt der EUStA die verhasste kriminelle Elite in den Schwitzkasten nimmt.