Das OMT-Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Fünf Beobachtungen
1. Nüchternheit ist Trumpf
Der EuGH hat sich nicht provozieren lassen. Mit Umsicht und durchgehend nachvollziehbarer Argumentation hat er die unionsrechtlichen Fragestellungen aufgearbeitet, die ihm das Bundesverfassungsgericht unterbreitet hatte – unter Verzicht auf jede Schärfe, Süffisanz oder Großspurigkeit. Es ist schade, dass man schon diese Selbstverständlichkeit gemessen an Stil und Substanz eines Teils der deutschen rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung zur causa OMT begrüßen muss.
Allgemein wäre es mehr als wünschenswert, wenn die Freundschaft oder auch nur die Freundlichkeit nicht aufhörte, wenn und weil es um viel Geld geht – wo es „nur“ um die Grundrechte geht, streiten wir doch auch nicht so polemisch. Dass mancher innerhalb und außerhalb des Bundesverfassungsgerichts sich andere Antworten aus Luxemburg gewünscht (aber seien wir ehrlich: doch wohl kaum erwartet!) haben mag, steht auf einem anderen Blatt – und so verwundert es nicht, dass der Gerichtshof nach der erwartbaren Auffassung vieler in Deutschland ein „fehlerhaftes“, jedenfalls aber ein im Ergebnis fatales Urteil gefällt hat. Ich sehe das nicht so und möchte mit diesem Beitrag zur Versachlichung der Debatte und zur Aufklärung einiger Zusammenhänge beitragen – wohlgemerkt zu den rechtlichen, da mir anders als vielen anderen eine Nebenqualifikation als Nationalökonom leider fehlt.
2. Währungspolitik oder Wirtschaftspolitik?
Dass sich Wirtschafts- und Währungspolitik voneinander unterscheiden lassen, ist die Prämisse des primären Unionsrechts, namentlich der Vorschriften über die Wirtschafts- und Währungsunion. Die Kompetenzasymmetrie – ausschließliche Kompetenz der Union für die Währungspolitik der Euro-Staaten, aber keine echten Regelungsbefugnisse in der Wirtschaftspolitik – ist oft genug als Geburtsfehler der gemeinsamen Währung beklagt worden. Gemessen daran sollte es eigentlich rechtswissenschaftlich möglich sein, ein Handeln der EZB dem einen oder dem anderen Sachbereich zuzuordnen und dementsprechend sagen zu können, ob sie dazu befugt war oder nicht. Wo und vor allem wie die Grenzen zu ziehen sind, verrät uns das Unionsrecht aber nicht – leise Zweifel an der eigenen Unterscheidung streut es vielmehr selbst, indem es die EZB ergänzend zur „Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik in der Union“ ermächtigt (Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV).
Ich sehe nur drei mögliche Abgrenzungskriterien: nach der Zwecksetzung, nach der getroffenen Maßnahme oder nach den Auswirkungen des Handelns der EZB. Natürlich erscheint es auf den ersten Blick ein wenig naiv, wenn der Gerichtshof vor allem darauf abstellt, was die EZB mit dem OMT-Programm erreichen wollte – denn das wirkt so, als könne die EZB einfach eine geldpolitische Zielsetzung vorschieben, um sich für eine Maßnahme zuständig zu machen (im Sinne dieses Vorwurfs verstehe ich auch das Bundesverfassungsgericht).
Bevor man dies aber dem Gerichtshof oder auch der EZB vorwirft, muss man die Frage beantworten können, worin die Alternative liegt: Ist die Abgrenzung nach dem Typus getroffener Maßnahmen oder ihren Auswirkungen denn vorzugswürdig? Nein: Es ist praktisch nicht denkbar, dass sich die Effekte eines bestimmten Handelns allein auf die Wirtschafts- oder nur auf die Währungspolitik beschränken, und die gewählten Instrumente sind ohnehin politikbereichsneutral. Mit anderen Worten: So vehement im deutschen Schrifttum auch für eine strikte und damit kompetenzwahrende Abgrenzung der beiden Politikbereiche eingetreten wird – diese Kompetenzklarheit ist eine Illusion.
Dem Gerichtshof bleibt also im bestehenden Setting der Wirtschafts- und Währungsunion gar nichts anderes übrig, als nach der Zielsetzung eines Handelns zu fragen. Und damit landen wir unweigerlich bei der zentralen Prämisse des OMT-Programms: der Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus. Wenn die Prämisse stimmt, dass die EZB infolge der verschuldungsbedingt stark divergierenden Zinsentwicklung in der Union mit ihrem normalen geldpolitischen Instrumentarium nicht mehr hinreichend durchdringt, um auftragsgemäß für die Preisstabilität arbeiten zu können, und dass dem Problem durch die in Aussicht genommenen Anleihekäufe entgegengewirkt werden kann, dann ist das OMT-Programm der Währungspolitik und damit dem Kompetenzbereich der EZB zuzuordnen.
Nach dem Bundesverfassungsgericht stimmt das nicht, denn in Karlsruhe hat man sich kundig gemacht und folgt lieber der abweichenden Einschätzung der Bundesbank als derjenigen der EZB. Geht man aber einmal davon aus, dass die Zentralbanken in der zu Grunde liegenden Frage einen erheblichen Kenntnisvorsprung vor den Verfassungsgerichten haben, dann muss die Annahme der Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus und der Eignung der beabsichtigten Maßnahme, dieser Störung entgegenzuwirken, nach den allgemeinen Grundsätzen nur plausibel sein. Dass es einzelne Ökonomen und Verfassungsgerichte gibt, die das bestreiten, lässt an der Plausibilität der Annahmen aber nicht ernsthaft zweifeln. Ich verstehe gut, dass dieses Kontrollniveau vielen zu lax erscheint – aber andere rechtliche Maßstäbe gibt es derzeit nicht, und nun den EuGH für die Anwendung dieser allzu weichen primärrechtlichen Maßstäbe zu kritisiere, finde ich unredlich.
3. Verbotene monetäre Haushaltsfinanzierung durch das OMT-Programm?
Die grundsätzliche Vereinbarkeit des OMT-Programms mit Art. 123 Abs. 1 AEUV liegt aus meiner Sicht ziemlich auf der Hand: Wenn dort ausdrücklich nur der „unmittelbare“ Erwerb von Staatsanleihen durch die EZB verboten wird und außerdem die EZB-Satzung ihr den Ankauf von Staatsanleihen ausdrücklich erlaubt – wieso wird die Befugnis zum Anleihekauf in Deutschland dann so hartnäckig bestritten?
Für manche wird damit wohl der geldpolitische Rubikon überschritten – dieses Argument kann und muss aber nur als politisches Argument ernstgenommen werden, nicht als rechtliches. Nach geltendem Primärrecht ist es allenfalls möglich, aus Art. 123 Abs. 1 AEUV ein Umgehungsverbot zu folgern, nach dem der Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt nicht den gleichen Effekt der monetären Haushaltsfinanzierung haben darf, den der Erwerb der Anleihen aus der Hand des emittierenden Staates hätte. Diesen Schluss zieht der Gerichtshof auch. Nun wird man sich darüber streiten, ob die hier eingezogenen Sicherungen eine Umgehung hinreichend effektiv verhindern; was der Gerichtshof hierzu ausführt, erscheint mir wohlüberlegt und hinreichend differenziert. Ich sehe deshalb kein – wohlgemerkt: rechtliches – Problem in der Feststellung, dass die EZB mit ihrem OMT-Programm, das den Ankauf von Staatsanleihen unter ganz bestimmte Voraussetzungen gestellt hatte, nicht gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verstoßen hat.
4. Verschleifung von ultra vires- und Identitätskontrolle in der Maßstabsbildung des Bundesverfassungsgerichts
Auf der Grundlage des Honeywell-Maßstabs für ausbrechende Rechtsakte musste das Verfassungsgericht in seinem Vorlagebeschluss zur Darlegung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Fragen eine offensichtliche und erhebliche Kompetenzüberschreitung der EZB darlegen. Damit hat es sich in eine heikle Lage manövriert: Denn eine unionsrechtliche Bestätigung des Handelns der EZB müsste nun ebenso wie das OMT-Programm selbst als offenkundige und erhebliche Kompetenzüberschreitung angesehen werden.
Immerhin hätte man dann wenigstens einen Rechtsakt, auf den die ganze ultra vires-Konstruktion überhaupt passt (wenn man die Prämissen dieser Konstruktion teilt, was ich nicht tue, hier aber nicht erneut darstellen will). Auf die Ankündigung eines Programms zum künftigen Ankauf von Staatsanleihen kann die ultra vires-Konstruktion als Rechtsgeltungskontruktion nicht angewendet werden: Die Konstruktion fußt auf der Prämisse, die innerstaatliche Geltung eines Unionsrechtsakts beruhe auf dem in den Zustimmungsgesetzen enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl für das Unionsrecht. Dieser Rechtsanwendungsbefehl erfasse aber kompetenzwidriges Handeln nicht, sodass dies in Deutschland unbeachtlich sei (so die sehr klare Formulierung im Maastricht-Urteil, womit übrigens die Relativierung in Honeywell unvereinbar ist, nach der nur evidente und schwerwiegende Kompetenzverstöße beachtlich sein sollen).
Die OMT-Ankündigung hat aber als Realakt keine Geltung, auch ihre innerstaatliche Geltung steht damit nicht in Rede. Sie kann im völkerrechtlichen Sinne, aber nicht im bundesverfassungsgerichtlichen Sinne ultra vires sein. Ich ahne: Vielen LeserInnen wird das zu rechtsgeltungstheoretisch sein, weil man ja nicht bestreiten kann (und ich auch nicht bestreiten will), dass das OMT-Programm Auswirkungen in Deutschland gehabt hätte. Solche Auswirkungen können aber mit der ultra vires-Rüge nicht aufgefangen werden.
Und so ganz traut sich das Bundesverfassungsgericht auch selbst nicht über den Weg: Denn es verschleift bis zur Unkenntlichkeit mit der ultra vires-Rüge das Argument, letztlich entstünden durch das Handeln der EZB Haftungsrisiken, die der Haushaltsautonomie des Bundestages zuwiderlaufen könnten. Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob sich dieser Vorwurf im Rahmen einer Individualverfassungsbeschwerde operationalisieren lässt, die ich ohnehin verneinen würde: Mit dem Argument müsste man streng genommen die Notwendigkeit einer parlamentarischen – wohlgemerkt: es geht um den Bundestag, nicht um das Europäische Parlament! – Kontrolle jedweden Offenmarkthandelns der EZB begründen, weil dieses immer finanzielle Rückwirkungen haben kann, primär durch eine Verkürzung der Ausschüttungen an die nationalen Zentralbanken, in allerletzter Konsequenz möglicherweise sogar bis hin zum Bundeshaushalt. Eine solche Kontrolle kann aber auch mit Blick auf das geltende Primärrecht niemand ernstlich mit Rechtsargumenten fordern.
Doch wo fängt dann gemessen an Art und Maß der geldpolitischen Intervention der EZB das Problem der deutschen Verfassungsidentität an (so hoch muss man es im Einklang mit der bisherigen Verfassungsrechtsprechung ja aufhängen) – und lässt sich das überhaupt bestimmen? Wenn der EuGH etwas anderes geantwortet hat als man hören wollte, dann sollte man das nur dann kritisieren, wenn man die Frage, ob es für das OMT-Programm überhaupt einen grundgesetzlichen Maßstab gibt, positiv beantworten zu können glaubt. Man sollte jedenfalls nicht vergessen, wie überaus voraussetzungsvoll die Prämissen dieser verfassungsrechtlichen Konstruktionen sind, und deshalb auch nicht empfindlich sein, wenn gelegentlich daran erinnert wird.
5. Das Ende der Geschichte
Wie es nun weitergeht, lässt sich schwer absehen. Zunächst einmal muss in Karlsruhe die gar nicht so unwichtige Frage der Senatsbesetzung geklärt werden: Dürfen die Richterin König und der Richter Maidowski als Nachfolgende der Richterin Lübbe-Wolff und des Richters Gerhardt, gegen deren Stimmen und gewichtige Einwände die Vorlage beschlossen wurde, ins Verfahren eintreten?
Wenn nein, bliebe es bei einer für die Beschlussfähigkeit ausreichenden 6er-Besetzung mit der Folge, dass für eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit 4 Stimmen erforderlich wären, also immerhin eine Zweitdrittelmehrheit im verbliebenen Senat. Dafür spricht, dass nach § 15 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG nach dem Beginn der Beratung einer Sache weitere RichterInnen nicht hinzutreten können.
Nun könnte man argumentieren, mit der Vorabentscheidung sei die „Sache“ des Zwischenverfahrens beendet und es beginne eine neue „Sache“, die auch neu und damit in neuer Besetzung beraten werde. Mir erscheint das deshalb zweifelhaft, weil ja mit dem Vorlagebeschluss die Fragen, um die es auch jetzt nach der Vorabentscheidung geht, nicht nur gestellt, sondern bereits beantwortet wurden. In der weiteren Beratung geht es also vor allem um den Umgang mit und gegebenenfalls die Distanzierung von dem Vorlagebeschluss. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die neu dazugekommenen RichterInnen, die nicht über den Vorlagebeschluss mitentschieden haben, auch jetzt nicht mitentscheiden dürfen.
In der Sache sind die Szenarien von Maximilian Steinbeis schon benannt worden. Wenn schon wieder kritisiert wird, der EuGH habe nicht unbedingt ein Friedensangebot gemacht, ist das nur die halbe Wahrheit: Er hat nämlich auch keine Kriegserklärung abgegeben. Wer gern in wirkmächtigen Bildern eines Machtkampfs zwischen Gerichten schwelgt oder nicht ohne Lust am finalen Showdown danach fragt, wer denn nun das letzte Wort hat, den wird das vielleicht enttäuschen. Aus meiner Sicht hat der Gerichtshof dagegen genau die Antwort gegeben, die angemessen ist: eine Rechtsantwort auf eine Rechtsfrage. Es wäre zwar naiv anzunehmen, institutionelle Eigenlogiken und Fragen der Machtverteilung hätten dabei keine Rolle gespielt. Das ist aber solange unschädlich, wie sie die seriöse Rechtsbegründung, die wir durchgehend vorfinden, nicht überlagern.
Es wäre sehr beachtlich und ein Zeichen von Stärke und Souveränität, wenn dies dem Bundesverfassungsgericht nun auch gelingen würde – dazu gehörte freilich die Einsicht, dass die Frage nach dem letzten Wort in einer Verbundverfassung rechtlich falsch und politisch unklug gestellt ist.
Jeder Beitrag zur Versachlichung der Debatte und zur Aufklärung rechtlich-ökonomischer Zusammenhänge ist zu begrüßen.
Die „Griechenland-Krise“ und auch das Urteil des EUGH zu „OMT“ sind Folge von „Aufklärungen“, welche das Verstehen von Zusammenhängen rechtlicher Bestimmungen und ökonomischer Realitäten eher verschleiern.
Fortgesetzt wird diese Verschleierung auch hier, ob gewollt oder nicht, damit, dass Art. 123 Abs. 1 AEUV (deutsche Fassung) nicht wörtlich zitiert, sondern entsprechend dem herrschenden Verständnis „aufgeklärt“ wird, wie er zu verstehen sei:
„Wenn dort ausdrücklich nur der „unmittelbare“ Erwerb von Staatsanleihen durch die EZB verboten wird und außerdem die EZB-Satzung ihr den Ankauf von Staatsanleihen ausdrücklich erlaubt – wieso wird die Befugnis zum Anleihekauf in Deutschland dann so hartnäckig bestritten?”
Doch ist in Art. 123 Abs. 1 AEUV weder von Staatanleihen noch von Ankauf die Rede.
Art. 123 Abs. 1 AEUV: “verboten . . . der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln . . . durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.“
Das Wesentliche dieser Aussage im Art. 123 Abs. 1 AEUV ist also, dass der Erwerb von “Staats”-Schuldtiteln durch die EZB und NZB verboten ist. Mit diesem Verbot sollte verhindert werden, dass “Staatsverschuldungen” weiter zunehmen. Ein entscheidendes ökonomisches Kriterium zur Beurteilung auch von „OMT“.
Nach diesem Kriterium ist aber das Wesentliche dieser Bestimmung nicht ein Erwerbsverbot von “Staats”-Schuldtiteln durch die EZB und NZB, sondern der Verbot des Verleihens von Geld an “Staaten” durch die EZB und NZB. Und in diesem Zusammenhang ist das Verbot zu verstehen, als Sicherheit Rückzahlungsversprechen (Schuldtitel) der anleihenden “Staaten” anzunehmen (zu „erwerben“).
“Anleihekäufe” (ein in Deutsch unsinniges Wortekonstrukt) und „Kauf von Staatsanleihen“ (eine sachlich falsche Aussage) ermöglichen ein rechtliches beliebiges Verstehen, aber keine sachliche Aufklärung.
Es geht um die Aufklärung wodurch „Staatsverschuldungen“ weiter zugenommen haben und welchen Anteil die Verleihung von Geld an „Staaten“, trotz Verbot, durch die EZB und NZB hatte und haben wird. Eine nur rechtliche Aufklärung dazu ist keine, sondern trägt zur weiteren Verschleierung bei.
@Blickensdörfer: Hier hast Du Deinen Fisch. >
Zu Beobachtung Nr. 5: Das BVerfG hat (allerdings ohne Begründung) in “Sechserbesetzung” bereits am 3. Juni 2015 entschieden, dass der Senat in der Besetzung mit den Richtern König und Maidowski entscheiden wird. Wenn ich das richtig sehe, ist der Beschluss aber nicht veröffentlicht.