Das „Respektierte-Rentner-Gesetz“
Zur Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit der Grundrente
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat am 21. Mai 2019 einen Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Einführung der Grundrente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte mit unterdurchschnittlichem Einkommen und für weitere Maßnahmen zur Erhöhung der Alterseinkommen“ präsentiert. Das klingt etwas sperrig, jedenfalls bei weitem nicht so marktgängig wie das „Gute-Kita-Gesetz“ und das „Starke-Familien-Gesetz“ aus dem Familienministerium oder das derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindliche „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ aus dem Gesundheitsministerium. Das Grundrentengesetz ist ein „Respektierte-Rentner-Gesetz“: Zielgruppe sind Personen, die mindestens 35 Jahre grundrentenrechtliche Zeiten (das können Beschäftigungszeiten, aber etwa auch Kindererziehungszeiten sein) aufweisen, daraus aber einen Anspruch auf Altersrente ableiten, der noch nicht einmal das Existenzminimum absichert. Es wird verbreitet als sozialpolitisch fragwürdig, ja unwürdig angesehen, dass diese Menschen am Ende eines langen Arbeitslebens als Bedürftige Leistungen der Grundsicherung beantragen und sich damit in der gleichen Schlange anstellen müssen wie diejenigen, die gar nicht oder nur wenig gearbeitet haben und daher im Alter Grundsicherungsleistungen benötigen. Das Ministerium möchte die „Lebensleistung“ und die „Wertschätzung des Beitrags jedes Einzelnen“ zum Ausdruck bringen und bei dieser Gelegenheit auch „das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung“ stärken. Man spricht daher auch gerne von einer Respektrente – eine wesentlich bessere Vermarktung, denn wer möchte schon respektlos sein?
Der Knackpunkt des Gesetzentwurfs ist die fehlende Bedürftigkeitsprüfung. Es soll nicht darauf ankommen, ob Grundrentenberechtigte noch sonstiges Einkommen sowie Vermögen haben, das sie durch zu respektierende Leistungen oder als glückliche Erben im Verlauf ihres Lebens angehäuft haben. Damit stellt sich das Ministerium gegen den Koalitionsvertrag, der zwar die Einführung einer Grundrente vorsieht, jedoch mit Bedürftigkeitsprüfung. Das ist zumindest koalitionspolitisch untreu. Aber ist es auch sozialpolitisch verfehlt und, wie in mehreren Stellungnahmen behauptet, gar verfassungswidrig? Vor allem die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung und der allgemeine Gleichheitssatz stehen im Fokus der Kritiker (vgl. etwa jüngst die Stellungnahme von Hanno Kube für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft).
Sozialrechtliche Regelungsstrukturen und sozialrechtliche Wirklichkeit
Um die politische und juristische Auseinandersetzung beurteilen zu können, bedarf es zumindest eines Crashkurses zu den sozialrechtlichen Systemstrukturen. Unser sozialstaatliches Arrangement ruht im Wesentlichen auf zwei Pfeilern, der sozialen Vorsorge und der sozialen Fürsorge. Unter die soziale Vorsorge fasst man die fünf Sozialversicherungssysteme. Mit ihnen werden typische soziale Risiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit und eben auch Alter überwiegend in Form von Beiträgen abgesichert, die dann – etwas vereinfacht gesagt – den Rechtsgrund für die Erbringung von Leistungen bilden, wenn der Versicherungsfall eintritt. Da diese Leistungen im Wesentlichen und cum grano salis auf eigenen Beiträgen beruhen, kommt es auf die Bedürftigkeit nicht an. Die gesetzliche Krankenversicherung kommt daher auch für den Schnupfen der gesetzlich versicherten Partnerin einer Großkanzlei auf. Der zweite Pfeiler besteht aus steuerfinanzierten Sozialleistungen, in deren Genuss nur kommt, wer bedürftig ist. Die Bedürftigkeit hängt vom Leistungsziel ab und wird daher bei der Grundsicherung anders definiert als etwa bei der Ausbildungsförderung. Während also im Sozialversicherungsrecht Versicherung und Beitragszahlungen die sozialen Leistungsansprüche auslösen, ist es im Bereich der sozialen Fürsorge die Bedürftigkeit. Wer nicht bedürftig ist, kann auch nicht erwarten, aus Mitteln der Allgemeinheit versorgt zu werden.
Leider hält sich die sozialrechtliche Wirklichkeit aber nicht trennscharf an diese heuristische Kategorisierung. Damit sind wir wieder bei der Grundrente. Renten der gesetzlichen Rentenversicherung sind im Grundsatz lohn- und beitragsbezogen, d. h. die Höhe der Rente richtet sich nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte (§ 63 Abs. 1 SGB VI). Diese werden in jährliche Entgeltpunkte umgerechnet, wobei ein Entgeltpunkt (1,0) genau der Höhe des Durchschnittsentgelts aller versicherten Beschäftigten entspricht. Maßgebend für die Höhe der Altersrente ist dann zudem, wann die Rente in Anspruch genommen wird (vor, mit oder nach Erreichen der Regelaltersgrenze) und wie hoch der Rentenwert ist. Alles Weitere ist höhere Mathematik, aber man kann zumindest sagen, dass die Erhöhung der Entgeltpunkte eine entscheidende Stellschraube für diejenigen ist, deren Renten unter dem Existenzminimum liegen. Der Gesetzentwurf sieht dementsprechend vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen (35 Jahre Grundrentenzeiten, Durchschnittswert von mindestens 0,24 und höchstens 0,8 Entgeltpunkten) ein aus allgemeinen Steuermitteln finanzierter Zuschlag auf die Entgeltpunkte gewährt wird. Es geht also um eine Grundsicherung, die aber organisatorisch und konzeptionell (Rente, daher keine Bedürftigkeitsprüfung!) über die Rentenversicherung abgewickelt wird. Das Ministerium rechnet mit einem Aufwand von jährlich etwa 4 Milliarden €, der kontinuierlich ansteigen wird.
Verfassungsrechtsdogmatik und sozialrechtliche Wirklichkeit
Die verfassungsrechtliche Kontroverse knüpft daran an, dass die steuerfinanzierten Zuschläge auf die Entgeltpunkte vermeintlich systemfremde Elemente sozialer Fürsorge in ein maßgeblich durch die Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen geprägtes soziales Vorsorgesystem implantieren. Ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist das aber sicher nicht. Man kann zwar darüber diskutieren, ob wegen der Organisation über die Rentenversicherung der Kompetenztitel Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG („Sozialversicherung“) oder wegen des steuerfinanzierten Anliegens der Grundsicherung die „öffentliche Fürsorge“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) einschlägig ist. Letztlich lässt das Bundesverfassungsgericht aber ja auch die Kombination von Kompetenztiteln zu, was hier sicherlich die naheliegende Lösung ist. Im Übrigen würde ein Verstoß des Gesetzentwurfs gegen Kompetenzvorschriften ja nur zur Folge haben, dass die Länder zuständig wären, was offensichtlich absurd wäre.
Etwas anspruchsvoller ist die Argumentation mit Art. 3 Abs. 1 GG. Die Behauptung unterstellt, dass jede Abweichung vom Äquivalenzprinzip, also der Beitragsbedingtheit der Leistungen, eine Beeinträchtigung von Art. 3 Abs. 1 GG darstellt. Gleichheitsdogmatisch kann man schon über diese Prämisse streiten. Wir kennen eine vergleichbare Diskussion im Steuerrecht: Hier soll das Leistungsfähigkeitsprinzip gleichheitsrechtlich „gesetzt“ sein; es wird als Inbegriff der Steuergerechtigkeit angesehen, weshalb die Verfolgung außerfiskalischer Lenkungsziele (Umweltschutz etc.) mit Rechtfertigungszwang den durch das Leistungsfähigkeitsprinzip geprägten allgemeinen Gleichheitssatz beeinträchtigen soll. Das lässt sich aber nur mit einem normativ aufgeladenen (d. h. durch den Grundsatz der Leistungsfähigkeit angereicherten) Begriff der Gleichheit vertreten. In der Gleichsetzung der Leistungsfähigkeit mit der Steuergerechtigkeit liegt letztlich die Wertung, dass Steuern primär der Erzielung von Einnahmen dienen. Eine solche Präponderanz eines vermeintlich immanent gerechten Merkmals der Leistungsfähigkeit vor anderen Differenzierungskriterien wird behauptet, aber nicht wirklich begründet. Immerhin dienen ja viele Steuern auch der Verhaltenslenkung, ohne dass man das immer klar von der fiskalischen Absicht trennen könnte. Noch deutlicher ist es mit dem Äquivalenzprinzip. Es prägt das Sozialversicherungsrecht ja weitaus weniger als das Leistungsfähigkeitsprinzip das Steuerrecht. Denn es gibt auch noch das Solidarprinzip. So bekommen in der Kranken- und in der Pflegeversicherung alle Versicherten die gleichen Leistungen, unabhängig davon, ob sie in ihrem langen Versichertenleben Hunderttausend Euro oder keinen einzigen Cent einbezahlt haben. Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung gibt es übrigens einen steuerfinanzierten Zuschuss von jährlich 14,5 Milliarden € für „versicherungsfremde Leistungen“ (§ 221 Abs. 1 SGB V), von dem man nur noch weiß, dass er während der Finanzkrise eingeführt wurde, aber nicht mehr genau, was er eigentlich wo und warum im Jahre 2019 ausgleichen soll. Auch die Rentenversicherung kennt beitragsfreie Zeiten, die dann gleichwohl Leistungsansprüche auslösen, namentlich die durch Beitragszahlungen des Bundes finanzierten Kindererziehungszeiten (§ 56 SGB VI), mit denen fingiert wird, dass Elternteile, die ein Kind erziehen, drei Jahre lang ein durchschnittliches Einkommen erzielt haben. Bislang hat noch niemand behauptet, dass das verfassungswidrig ist; im Gegenteil sind die Kindererziehungszeiten Folge einer recht teuren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 87, 1). Die (natürlich steuerfinanzierten!) Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung betragen derzeit etwa 76 Milliarden € und machen damit fast ein Viertel der Einnahmen der Rentenversicherungsträger (und mehr als ein Fünftel der Ausgaben des Bundes) aus. Umverteilung und sozialer Ausgleich sind also seit jeher Wesenselemente der Sozialversicherung, ja sie sind ihre Raison d’être. Und noch ein letztes: Die Höhe des Elterngeldes hängt von der Höhe des zuvor erzielten Einkommens ab und wird trotzdem aus Steuern finanziert. Die schon erwähnte Partnerin der Großkanzlei freut das, ihren Sekretär, der zeitgleich Vater wird, eher weniger. Aber das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 9. 11. 2011, 1 BvR 1853/11) hat das akzeptiert.
Die verfassungsrechtsdogmatische Frage einer Ungleichbehandlung kann diese einfach-rechtlichen Systemstrukturen nicht einfach ausblenden. Sonst wäre das ganze Sozialversicherungsrecht eine einzige Beeinträchtigung von Art. 3 Abs. 1 GG. Daher findet sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass allein schon die solidarische Modifikation der Äquivalenz von verbeitragtem Einkommen und Leistungen in der Rentenversicherung per se rechtfertigungsbedürftig ist; insoweit muss ich dem geschätzten Kollegen Hanno Kube mit Astrid Wallrabenstein widersprechen. Ein Gleichheitsproblem besteht vielmehr erst dann, wenn im Rahmen des sozialen Ausgleichs Versicherte ohne Sachgrund ungleich behandelt werden. Wer zudem, wie etwa Hans-Jürgen Papier, verfassungsrechtlich etwas aus den ohnehin fragwürdigen Großformeln wie Systemgerechtigkeit oder Folgerichtigkeit ableiten will, hat vielleicht etwas zu optimistische Vorstellungen von der Systemreinheit der Sozialversicherung oder unterschätzt ganz einfach die notwendige Irrationalität politischer Kompromisse.
Verfassungsrechtlich zulässig, aber sozialpolitisch diskussionsbedürftig
Der Versuch, politische Debatten durch verfassungsrechtliche Autorität zu beenden, scheint mittlerweile zum politischen Geschäft zu gehören. Der politischen Debattenkultur schadet das ebenso wie dem Verfassungsrecht. Auf der einen Seite gibt es ja einige gute politische Gründe für eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Wir reden hier eben auch von Menschen, die sich noch in Zeiten ohne gesetzlichen Mindestlohn ein langes Arbeitsleben lang abgerackert haben und nun mit Kleinstrenten dastehen. Von der Grundrente würden zudem vor allem Frauen profitieren, deren durchschnittliche Altersrenten nach wie vor etwa ein Drittel unter denjenigen der Männer liegen – hier summieren sich die ganzen strukturellen Benachteiligungen, die Frauen im Verlauf eines Erwerbslebens erleben müssen. Ihre Familienleistungen sind auch Leistungen für die umlagefinanzierte Sozialversicherung, die dringend mehr junge Beitragszahlerinnen und Beitragszahler bräuchte. Es spricht daher Einiges dafür, in einem „Respektierte-Rentnerinnen-Gesetz“ auf eine Bedürftigkeitsprüfung zu verzichten und damit den sozialpolitisch inakzeptablen gender pension gap endlich anzugehen. Dafür kann es dann auch nicht auf das Einkommen von Partnern ankommen, denn die Entwicklung der Alterssicherung geht ja mit gutem gesellschaftspolitischem Grund seit einiger Zeit dahin, eine eigenständige, durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Alterssicherung für Frauen aufzubauen anstatt sie als rentenrechtliches Anhängsel ihres Partners zu behandeln. Versteuert werden muss die Grundrente bei einem entsprechend hohen Partnereinkommen ja ohnehin.
Auf der anderen Seite darf man kritisch fragen, ob das Grundrentengesetz nicht wieder wie bei der Rente mit 63 kurzsichtige Klientelpolitik betreibt, die der nächsten Generation auf die Füße fällt. Möglicherweise würde das Gesetz zwar jede Menge „Falsche“, einige „Richtige“ hingegen nicht erreichen. Zu den „Falschen“: Nur 48% der Rentner sind allein auf die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen, bei den Rentnerinnen sind es immerhin 69% (BT-Drucks. 18/10571, 68). Hier drohen erhebliche Mitnahmeeffekte durch Personen, die anderweitig (namentlich über Betriebsrenten oder auch Vermögen) ordentlich abgesichert sind. Zu den „Richtigen“ würden zweifellos Erwerbsminderungsrentner gehören, die aber aufgrund ihrer Erwerbsminderung regelmäßig nicht auf die notwendigen 35 Grundrentenjahre kommen werden. Verdienen sie nicht den gleichen Respekt?
Über die Zielgenauigkeit einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung muss und darf also nach wie vor ebenso kontrovers diskutiert werden wie über die Frage, ob sie nicht doch besser über Beiträge statt aus Steuermitteln finanziert werden sollte. Verfassungsrechtlich wird die Grundrente aber nicht scheitern.
Ich sehe da schon Ansätze für einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz, gerade auch unter den Begünstigten der Regelung (den Respektierten?).
So ist vorgesehen, daß jede Entgeltpunktzahl zwischen 0,4 und 0,8 einheitlich auf 0,8 aufgestockt werden soll. Jemand, der in dieser Spanne doppelt so viel eingezahlt hat – vielleicht dafür sogar doppelt so viele Stunden gearbeitet hat, in Vollzeit statt Teilzeit –, hätte also nicht einmal mehr einen geringen Vorteil hieraus. Darin kann man durchaus eine gleichheitswidrige Gleichbehandlung von Ungleichem sehen.
Ich stimme Ihnen aber völlig zu, daß das Problem an diesem Entwurf weniger in seiner Verfassungsmäßigkeit liegt und mehr in seiner Eignung, das ausgegebene Ziel (Vermeidung von Altersarmut) zu erreichen. Wenn er das wenigstens leisten würde, könnte man vielleicht über einige Mitnahmeeffekte hinwegsehen. Er würde aber vermutlich nicht einmal die Mehrzahl der armen Alten erreichen und bei weitem nicht alle Erreichten auch tatsächlich über die Armutsgrenze heben.
“So bekommen in der Kranken- und in der Pflegeversicherung alle Versicherten die gleichen Leistungen, unabhängig davon, ob sie in ihrem langen Versichertenleben Hunderttausend Euro oder keinen einzigen Cent einbezahlt haben.”
Das ist für 95% der Leistungen richtig, jedoch hängt das Krankengeld vom Einkommen und damit indirekt von der Beitragshöhe ab.