Der demokratische Normalfall
Wahlgesetzgebung in eigener Sache
Wenn Wahlgesetzgebung kritisiert wird, ist der Hinweis auf die „Entscheidung in eigener Sache“ rasch zur Hand. Wer will schon bestreiten, dass die Abgeordneten bei Wahlrechtsänderungen auch an ihre eigenen Wiederwahlchancen denken? Dass sie diese Chancen bei jeder Entscheidung im Blick haben sollten, um ihrer Verantwortung gegenüber den Wähler:innen gerecht zu werden, erscheint unerheblich: Denn beim Wahlrecht geht es nicht um irgendeine Sachfrage, sondern um die Regeln des demokratischen Prozesses, die – auch das kann niemand bestreiten – vor Manipulationen geschützt werden müssen.
Populistische Versuchung
Bei der Rede von der „Entscheidung in eigener Sache“ geht es aber nicht nur um diesen Gemeinplatz. Die Floskel suggeriert Befangenheit, Missbrauch und Willkür. Sie ist Ausdruck eines grundlegenden Unbehagens gegenüber der Entscheidungskompetenz des Parlaments im Recht der Politik. Zumindest ist ihre Verwendung geeignet, dieses Unbehagen zu schüren, wie beispielhaft der folgende Satz aus einem Leserbrief zeigt: „Das Wahlrecht ist ein Recht des Volks, nicht ein Recht der Gewählten in eigener Sache“ (FAZ v. 19. Mai 2023, S. 7). Der populistische Anklang ist unüberhörbar: Nicht die Abgeordneten, sondern „das Volk“ soll über das Wahlrecht entscheiden. Freilich kann das Volk unter dem Grundgesetz Entscheidungen zu Wahlrechtsfragen nur mittelbar treffen, nämlich „durch die besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Von diesen Organen kommen wiederum in erster Linie die Organe der Gesetzgebung in Betracht, von denen immerhin eines – der Bundestag – unmittelbar demokratisch durch das Volk legitimiert ist. Aus der Perspektive des Demokratieprinzips des Grundgesetzes ist die Entscheidung über das Wahlrecht an keiner Stelle besser aufgehoben als beim Parlament.
Errungenschaft der Demokratie
Dass die Entscheidungskompetenz des Parlaments in Wahlrechtsfragen kein Übelstand, sondern eine historische Errungenschaft der Demokratie ist, zeigt ein kursorischer Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte. Im Konstitutionalismus des 19. Jahrhundert waren es zunächst die Monarchen, die über das Wahlrecht aus eigener Machtvollkommenheit entschieden. Immerhin führte die übliche verfassungsrechtliche Verankerung des Wahlrechts dazu, dass es nicht ohne Mitwirkung der Repräsentationskörperschaften geändert werden konnte. Im doppelten Sinne revolutionär war vor diesem Hintergrund das Reichswahlgesetz, das die Frankfurter Nationalversammlung 1849 ohne Beteiligung der deutschen Monarchen verabschiedete. Infolge der Niederschlagung der Revolution kam es nie zur Anwendung, bildete aber die Grundlage für das Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, das ins Kaiserreich übernommen wurde und bis 1918 in Geltung blieb. Bei der Beratung im Norddeutschen Reichstag stand eine Frage im Vordergrund: Ob die Wahlkreise durch Verordnung oder durch Gesetz eingeteilt werden sollten, ob also die monarchische Exekutive allein oder nur zusammen mit dem gewählten Parlament die – im Mehrheitswahlsystem zentrale – Frage des Wahlrechts entscheiden sollte. Der Reichstag setzte die Wahlkreiseinteilung durch Gesetz durch und verteidigte so seine Mitentscheidungsbefugnis „in eigener Sache“ – dass er davon keinen Gebrauch machte, ist eine andere Geschichte.
Parteienskepsis und Kontrollintensität
Schon im Konstitutionalismus wurde die Beteiligung des Parlaments an der Wahlgesetzgebung nicht nur begrüßt. Die Befürchtung war groß, dass über das Parlament die politischen Parteien auf das Wahlrecht Einfluss nehmen könnten, die in der politischen Kultur in Deutschland seit jeher einen schweren Stand hatten. Manch einer sah das Wahlgesetz bei den – überparteilichen und angeblich unparteiischen – Monarchen in besseren Händen. Der Gedanke einer über den Parteien stehenden Instanz, die über die politischen Spielregeln entscheidet, ist der geistesgeschichtliche Ursprung der Kritik an der Wahlrechtsentscheidung in eigener Sache. Die dahinterstehende Parteienskepsis ist nach wie vor wirkmächtig. Nur sehnen sich die heutigen Parteienskeptiker:innen nicht mehr nach Monarchen, sondern nach Gerichten, denen sie das Wahlrecht anvertrauen wollen. An die Stelle des Königs tritt der Verfassungsrichter, der dem Treiben der Parteien Einhalt gebieten soll. Die Verfassungsgerichte werden dazu aufgerufen, Wahlrechtsänderungen als „Entscheidungen in eigener Sache“ besonders streng zu überprüfen. Dass sie diese Anregung nur allzu bereitwillig aufnehmen (vgl. nur BVerfGE 120, 82 [105]), kann nicht überraschen. Da hilft es auch nicht, dass weite Teile der rechtwissenschaftlichen Literatur und einzelne Verfassungsrichter die „Tauglichkeit des Begriffs ‚Entscheidung in eigener Sache‘ als Rechtskategorie“ bezweifeln (so das lesenswerte Sondervotum Müller, BVerfGE 135, 259 [303]; zum Stand der Diskussion vgl. die dortigen Nachweise sowie Drossel, S. 134 ff.). Der Topos erscheint intuitiv so plausibel, dass man glaubt, auf eine verfassungsrechtliche Herleitung verzichten zu können.
Verfassungsrechtliche Maßstäbe
Will man der „Entscheidung in eigener Sache“ über diese intuitive Plausibilität hinaus Substanz abgewinnen, muss man sie in Beziehung zu den Legitimitätsbedingungen des demokratischen Prozesses setzen. Die Wendung beschreibt dann eine Situation, in der ein erhöhtes Risiko besteht, dass eine Mehrheitsentscheidung für die Minderheit inakzeptabel wird. Akzeptabel sind Mehrheitsentscheidungen in repräsentativen Demokratien nämlich nur, solange sie der Minderheit die Chance belassen, bei den nächsten Wahlen selbst zur Mehrheit zu werden (dazu insb. Gusy). Beeinträchtigt eine Mehrheitsentscheidung diese Chance, ist sie Ergebnis eines Versagens des demokratischen Prozesses, das dem Verfassungsgericht als gegenmajoritäre Institution Anlass und Berechtigung zur Intervention gibt. In den Situationen, die gemeinhin als „Entscheidungen in eigener Sache“ umschrieben werden, ist das Risiko eines solchen demokratischen Prozessversagens erhöht, weil die Mehrheit mit ihrer Entscheidung ihre eigenen Wiederwahlchancen beeinflusst. Das Risiko realisiert sich allerdings nur, wenn dadurch wirklich die Chancen der Minderheit beeinträchtigt werden, zur Mehrheit zu werden, wenn sich die aktuelle Mehrheit gegenüber der aktuellen Minderheit also einen Vorteil verschafft. Um diese Fälle juristisch in den Griff zu bekommen, bedarf es jedoch nicht des Rückgriffs auf den Topos „Entscheidung in eigener Sache“. Vielmehr stehen mit der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien Verfassungsgebote zur Verfügung, anhand derer die Verfassungsgerichte Wahlrechtsänderungen überprüfen können.
Dem verfassungsrechtlichen Diskurs über das Wahlrecht steht es gut an, diese aus der Verfassung ableitbaren Maßstäbe heranzuziehen, und auf die Rede von der „Entscheidung in eigener Sache“ zu verzichten. Denn die demokratische Errungenschaft der parlamentarischen Wahlgesetzgebung in Zweifel zu ziehen und die vordemokratische Parteienskepsis zu schüren, gehört gewiss nicht zu den Aufgaben der Rechtswissenschaft in der Demokratie (zu diesen Aufgaben Lepisus). Vielmehr gilt es zu betonen, dass die Wahlrechtsentscheidung der Parlamentsmehrheit in eigener Sache der demokratische Normalfall ist, in den gegenmajoritäre Institutionen nur ausnahmsweise eingreifen sollten, nämlich dann, wenn eine Wahlrechtsänderung die Chancen der Minderheit beeinträchtigt, bei der nächsten Wahl selbst zur Mehrheit zu werden. Wer dagegen ein weitergehendes Eingreifen der Verfassungsgerichte fordert, nur weil ein Wahlgesetz von der Parlamentsmehrheit „in eigener Sache“ erlassen wurde, verwechselt die Verfassungskontrolle mit einer „Gesinnungsprüfung der Wahlrechtsgesetzgebung“ (Drossel, S. 142), zu der die Verfassungsgerichte weder berufen noch in der Lage sind: Nicht auf die Motive des Entscheiders kommt es an, sondern auf die Wirkungen seiner Entscheidung.
Testfall: Wegfall der Grundmandatsklausel
In der Diskussion über die jüngste Wahlrechtsreform wird vor allem der Wegfall der Grundmandatsklausel als Entscheidung in eigener Sache kritisiert. Die Ampelfraktionen wollten, so wird insinuiert, die Opposition schwächen, indem sie der Linkspartei ihre wahlrechtliche Lebensversicherung nähmen und die bayerische Regionalpartei CSU in ihren bundespolitischen Ambitionen bedrohten. Denn ohne die Grundmandatsklausel müssten beide Parteien bei der nächsten Wahl mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erhalten, um erneut im Bundestag vertreten zu sein. Die Linke erreichte 2021 nur 4,9, die CSU 5,2 Prozent.
Selbst wenn den Abgeordneten der Ampelfraktionen dieser Gedanke durch den Kopf gegangen ist, als sie für die Wahlrechtsreform stimmten: Grund zur verfassungsrechtlichen Beanstandung – die eben keine „Gesinnungsstrafe“ ist – besteht nur, wenn der Wegfall der Grundmandatsklausel auch wirklich die Gleichheit der Wahl oder die Chancengleichheit der Parteien beeinträchtigt. Und davon kann bei der Abschaffung der Grundmandatsklausel keine Rede sein. Im Gegenteil beeinträchtigt der Fortbestand der Klausel die Wahl- und Chancengleichheit, weil sie Parteien, die drei Wahlkreismandate errungen haben, gegenüber anderen Parteien bevorzugt, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Nicht wenige hielten die Klausel daher bereits bislang für verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat sie – unter Betonung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in Wahlrechtsfragen – nur akzeptiert, weil sie dem legitimen „Anliegen einer effektiven Integration des Staatsvolks“ dienen soll BVerfGE 95, 408 [420]).
Dass der Reformgesetzgeber nun die proporzmäßige Vertretung der Parteien im Parlament stärker gewichtet als diese (etwas diffuse) Integrationsfunktion der Grundmandatsklausel und damit zugleich einen Systembruch in seiner Neukonzeption des Wahlrechts vermeidet (dazu Michl/Mittrop), wird man schwerlich als Überschreitung seines Gestaltungsspielraums ansehen können, jedenfalls nicht, wenn man anerkennt, dass die „Entscheidung in eigener Sache“ als solche keinen Anlass zum Unbehagen gegenüber dem Parlament und noch weniger Grund zur verfassungsgerichtlichen Intervention gibt: Sie ist der demokratische Normalfall, von dem auch im Testfall der Grundmandatsklausel keine Ausnahme geboten ist.
Ja, aber ….. wo wird denn die Grundmandatsklausel exakt reformiert? Noch vor Abstimmung hat der Gesetzgeber sich dazu entschlossen aus der Übertragung des Arbeitsauftrages des Integrationsvorgangs Grundmandates heraus nur den den Arbeitsauftrag zum Grundmandat zu integrieren.
Die Integrationsfunktion wird ja nur vereinfacht und die Gewichtung der Erststimme der Liste am Wahlleiter unterworfen.
“Entscheidung in eigener Sache” in diesem Kontext ist die Frage der Mandatsträger in die Partei durch den Integration – Nicht für das Volk, sondern für die Partei wird man gewählt, die Entscheidung in eigener Sache unterliegt also nicht mehr dem freien Willen des Abgeordneten oder sich zur Wahl gestellt habendne, sondern die Geschäftsordnung des Bundestages soll auch in der Partei nach Verlust/Auslauf des Mandates zählen.
“Das Risiko realisiert sich allerdings nur, wenn dadurch wirklich die Chancen der Minderheit beeinträchtigt werden, zur Mehrheit zu werden, wenn sich die aktuelle Mehrheit gegenüber der aktuellen Minderheit also einen Vorteil verschafft.”
Tja, wie im Akademischen Diskurs üblich, soll man nur als Mitglied der Gruppe wohl Meinungsrechte besitzen, hier also nur dann von der Partei profitieren, wenn man in ein Parlamentarischen Intramarket Spread eingetreten ist.
Die Argumentation der Eigenen Sache Entscheidung hier ist natürlich nicht mehr Richtung Gewinnmaximierung der einzelnen Person gerichtet, sondern Profitmaximierung einer Reflix Klausel. Für unakademische, wahrscheinlich sogar dem Fach fernen Akadamikern ist die Argumentation, das man bei der Umwandlung eines Grundmandates in ein Arbeitsverhältnis, – was man nun verfassungsrechtlich grundgesetzlich oder im Wortlaut des Grundesgesetzes sehen kann, wie man will – natürlich nicht sichtbar, der Konsens der eigenen Sache Mehrheit ist ja die Entscheidung, dass man der Zweitstimme eine möglichst Starre Maximalanzahl an Manddaten vorsetzt.