Abschied von der Personenwahl
Der Entwurf der Ampelkoalition zur Wahlrechtsreform
I. Zwei Wahlrechtsnarrative
Der heute in den Fraktionen beratene Entwurf für ein Wahlgesetz schlägt ein neues Kapitel in der Geschichte des personalisierten Verhältniswahlrechts auf, die am 16. Februar 1946 in London begann (dazu Knowles). Vertreter der Besatzungsverwaltung in Deutschland und der britischen Regierung verständigten sich damals auf ein Kommunalwahlrecht für die britische Besatzungszone: Ein Teil der Abgeordneten sollte mit relativer Mehrheit in Wahlkreisen, ein anderer nach dem Parteienproporz aus Listen gewählt werden. Die konservativen Militärs hätten den Deutschen am liebsten vollständig das britische Unterhauswahlrecht oktroyiert, in dem sie ihr Demokratieideal verwirklicht sahen. Nur auf der Grundlage einer engen persönlichen Bindung zwischen Wählern und Gewählten würde in Deutschland eine „echte“ Demokratie entstehen. Die Regierungsvertreter, die der Labour-Partei angehörten, favorisierten hingegen ein Verhältniswahlsystem, dessen Einführung auch im Vereinigten Königreich damals diskutiert wurde. Die eigenartige Kombination von Personen- und Verhältniswahl war ein Kompromiss, den die Briten untereinander fanden und dann den Deutschen – in Gestalt von besatzungsrechtlichen Verordnungen – präsentierten.
Der Kompromiss sollte die weitere Wahlrechtsentwicklung in Deutschland prägen. Denn die CDU lernte bereits in der Besatzungszeit die Mehrheitswahl in Wahlkreisen zu schätzen, in denen sie – jedenfalls in NRW – der SPD strukturell überlegen war. Bereitwillig übernahm sie die Demokratieerzählung der konservativen britischen Besatzungsoffiziere. Seit dem Erfurter Programm 1891 war die SPD auf die Verhältniswahl festgelegt und hielt daran – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch in den Nachkriegsjahren fest. Das Wahlsystem sollte danach die Anhängerschaft der Parteien bestmöglich abbilden. Auf der Grundlage des oktroyierten Kommunalwahlrechts (und mit einigen weiteren Einflussnahmen der Briten) wurde in den Jahren 1946/47 in NRW und Niedersachsen ein kompromisshaftes Wahlsystem entwickelt, das wir heute personalisierte Verhältniswahl nennen. Von Anfang an war das System, das 1949 für den Bundestag übernommen wurde, von zwei konkurrierenden Narrativen begleitet: Vom Personenwahlnarrativ der Unionsparteien auf der einen, vom Proporzwahlnarrativ der SPD auf der anderen Seite.
Das Proporzwahlnarrativ hatte (und hat bis heute) eine stärkere Verankerung im geltenden Wahlrecht. Nicht nur bestimmt § 1 BWahlG seit 1956, dass die Abgeordneten des Bundestages nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt werden (§ 1 BWahlG). Auch das Bundesverfassungsgericht betonte früh, dass die vorgeschaltete Kandidatenauswahl in den Wahlkreisen den „Grundcharakter des Verhältniswahlsystems“ nicht ändere. Inzwischen spricht der verfassungsrechtlich (genauer: verfassungsgerichtlich) gebotene weitgehende Ausgleich von Überhangmandaten entscheidend dafür, das Bundeswahlrecht in seiner Gesamtheit als Proporzwahlsystem anzusehen. Das Personenwahlnarrativ käme hingegen in einem Grabenwahlsystem auf seine Kosten, bei dem Personen- und Verhältniswahlsegment ohne Ausgleich nebeneinanderstünden (zu den historischen Erfahrungen mit der Grabenwahl demnächst hier).
II. Ein radikal ehrlicher Vorschlag
Das Nebeneinander von Personen- und Proporzwahlnarrativ war so lange unschädlich, wie das personalisierte Verhältniswahlrecht in der Praxis funktionierte. Solange die Mandatsanteile der Parteien in etwa dem Proporz entsprachen, war die systematische Verortung der Wahl in den Wahlkreisen eine theoretische Übung. Mit dem starken Anstieg der Überhangmandate in der 18. und ihrem weitgehenden Ausgleich ab der 19. Wahlperiode, wurde der Reformbedarf im Bundeswahlrecht jedoch unübersehbar. Um ein weiteres Anwachsen des Bundestages zu verhindern, musste das Verhältnis von Personen- und Proporzwahl überdacht werden. Das Personenwahlnarrativ wurde als „Lebenslüge des deutschen Wahlrechts“ enttarnt (S. und C. Schönberger, FAZ v. 9.5.2019, S. 6). Für die Verwirklichung einer echten Personenwahl in einem Grabenwahlsystem war und ist keine parlamentarische Mehrheit zu finden, da davon ausschließlich die Union profitieren würde (vgl. die Berechnungen bei Behnke).
Der Reformentwurf der Ampelkoalition ist darum bemüht, das Personenwahlnarrativ zu verabschieden und dem Proporzwahlnarrativ zu seinem Recht zu verhelfen. Er geht dabei auch sprachlich ehrlich vor: Die Wahl der Abgeordneten wird nicht mehr als eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl, sondern nur noch als Verhältniswahl bezeichnet (§ 1 Abs. 2 Satz 1). Die „Wahl in den Wahlkreisen“ – bislang in der Systematik des BWahlG und auf dem Stimmzettel der „Wahl nach Landeslisten“ vorangestellt – wird in den Proporz einbezogen. Sie dient nur mehr dazu, Bewerber zu ermitteln, die vorrangig bei der Mandatsverteilung zu berücksichtigen sind – „soweit dies mit den Grundsätzen der Verhältniswahl vereinbar ist“. Diese Vereinbarkeit ist nur innerhalb des Proporzanteils der Parteien gegeben (§ 1 Abs. 3). Dementsprechend sind Parteibewerber in den Wahlkreisen nur gewählt, wenn sie eine relative Mehrheit der Wahlkreisstimmen erzielen und nach dem Proporz zum Zuge kommen. Überhangmandate gibt es nicht mehr. Vielmehr bleiben Wahlkreise, deren Gewinner nicht vom Proporzanteil gedeckt war, unbesetzt. Der Entwurf nennt das „Hauptstimmendeckung“. Um die gewählten Wahlkreisgewinner einer Partei zu ermitteln, werden sie im jeweiligen Land nach ihrem Wahlkreisstimmenanteil gereiht (§ 6 Abs. 1). Reicht die Hauptstimmendeckung nicht für alle aus, kommen nur die Wahlkreisersten mit den größten Stimmenanteilen zum Zug.
Der Entwurf will den Grundcharakter der Verhältniswahl „konsequent“ umsetzen. Man könnte auch sagen „radikal“, denn der Vorschlag führt das Bundeswahlrecht auf seine Wurzel – die Verhältniswahl – zurück. Da das neue Verfahren in besonderem Maße erklärungs- und vermittlungsbedürftig ist, bekommen die Stimmen einen neuen Namen und eine neue Reihenfolge: Die proporzrelevante Stimme (bislang: Zweitstimme) soll „Hauptstimme“ heißen und auf dem Stimmzettel an erster Stelle stehen. Sie allein entscheidet schließlich über die Mandatsverteilung auf die Parteien. Die bisherige Erststimme rückt an zweite Stelle und wird „Wahlkreisstimme“ genannt. Gegenüber der „Hauptstimme“ ist sie nachrangig, da sie ihre Wirkung nur bei bestehender „Hauptstimmendeckung“ entfalten kann.
III. „Organisierte Wahlfälschung“?
Dass der Reformvorschlag vor allem die Kritik der CSU hervorrufen würde, war zu erwarten. Schließlich gewinnen die Christsozialen zuverlässig den Großteil der Wahlkreise in Bayern (2021: 45 von 46) selbst bei einem Proporzanteil von unter 40 Prozent (2021: 34 %). Entsprechend hoch im Kurs steht gerade bei der CSU das Personenwahlnarrativ mit seinem Ideal der persönlichen Bindung zwischen Wählern und Abgeordneten. So überrascht es zwar in der Wortwahl, aber nicht in der Sache, wenn der CSU-Generalsekretär die Ampel ob des Entwurfs der „organisierte[n] Wahlfälschung“ zeiht und Deutschland mit „Schurkenstaaten“ gleichsetzt, in denen direkt gewählten Abgeordneten der Einzug ins Parlament verweigert würde (FAZ).
Diese Polemik ist freilich nur auf der Grundlage des Personenwahlnarrativs plausibel. Den am Proporzgedanken orientierten Reformvorschlag ficht sie nicht an. Denn es gibt nach dem Entwurf keine Personenwahl, die gefälscht, keine direkt gewählten Abgeordneten, denen der Einzug ins Parlament verweigert werden könnte. Parteibewerber, die in einem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinen, sind nicht gewählt, sondern erhalten lediglich eine bessere Aussicht auf ein Mandat als ihre parteiinternen Konkurrenten. Im Wahlkreis gewinnt man keine Mandate mehr, sondern Chancen auf Mandate, über deren definitive Zuteilung allein nach Proporzgesichtspunkten entschieden wird. Da der Entwurf den Proporz zum zentralen Kriterium der Mandatszuteilung erhebt, geht auch die Berufung auf die Wahlgleichheit ins Leere: Denn jeder Wahlkreissieger erhält die gleiche Chance auf ein Mandat. Ob sie sich verwirklicht, hängt allein vom Proporz ab, an dem sich auch die Gleichheit der Wahl zu orientieren hat.
Das Personenwahlelement ist abgeschafft. Es gibt (grundsätzlich) keine direkt gewählten Abgeordneten mehr, sondern nur Wahlkreisbewerber, die – bei hinreichender Hauptstimmendeckung – bei der Mandatszuteilung vorrangig berücksichtigt werden. Der radikal ehrliche Entwurf hätte terminologisch sogar noch etwas ehrlicher sein und ganz darauf verzichten können, von der „Wahl eines Wahlkreisbewerbers“ zu sprechen (so aber § 1 Abs. 2 Satz 2). Denn bei der „Wahl“ im Wahlkreis handelt es sich nicht um eine mandatsverschaffende Wahl im engeren Sinne, sondern um eine Vorauswahl in der Konkurrenz um Mandate.
IV. Personenwahlrechtliche Relikte
Dass der Entwurf sich von der „Wahl in den Wahlkreisen“ terminologisch nicht völlig lösen konnte, dürfte an seinen personenwahlrechtlichen Relikten liegen. So hält der Entwurf an der Grundmandatsklausel als Ausnahme von der Fünf-Prozent-Hürde fest (§ 4 Abs. 2 Nr. 2). Das ist angesichts seiner nachvollziehbaren Skepsis gegenüber der Aussagekraft von Wahlkreisergebnissen wenig plausibel. Wer die Personenwahl verabschieden will, kann im relativen Wahlkreiserfolg schwerlich eine Legitimation für die Berücksichtigung von Parteien bei der Proporzverteilung sehen, die aufgrund ihres schlechten Abschneidens in der Hauptstimme eigentlich nicht an der Mandatsverteilung teilnehmen. Die Beibehaltung der Grundmandatsklausel wird man als Kompromissangebot an die Fraktion DIE LINKE verstehen dürfen, die darauf existenziell angewiesen ist.
Das andere personenwahlrechtliche Relikt im Entwurf ist dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken, das 1976 die „Möglichkeit, Wahlvorschläge zu machen“, zu einem „Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl“ stilisierte. Damit soll es unvereinbar sein, das Wahlvorschlagsrecht auf die politischen Parteien zu beschränken. Daher sieht sich auch der Reformentwurf genötigt, an der Kandidatur von parteilich nicht gebundenen Bewerbern in den Wahlkreisen festzuhalten und diese im – höchst unwahrscheinlichen – Fall ihrer Wahl direkt mit einem Mandat zu versehen (§ 6 Abs. 2). Dass die Wahl von parteilich ungebundenen Bewerbern in einem echten Verhältniswahlsystem keinen rechten Platz hat, offenbart die fragwürdige Prämisse der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung: Sie ist nur in einem System mit Personenwahlelement plausibel. Das Wahlsystem soll aber – so urteilt dasselbe Gericht in ständiger Rechtsprechung – zur politischen Disposition des Gesetzgebers stehen.
Angesichts der praktischen Irrelevanz der Einzelbewerberkandidatur (noch nie zog ein parteiunabhängiger Bewerber in den Bundestag ein) mag man nachvollziehen können, dass der Entwurf sich nicht durch ihre Abschaffung angreifbar machen wollte. Andererseits gibt das Personenwahlrelikt Anlass zu einem verwegenen Gedankenspiel: Was passiert, wenn etwa die CSU, um der Kappung der Wahlkreismandate zu entgehen, ihre Kandidaten als Einzelbewerber aufstellen lässt, also nicht in einer Parteiversammlung (§ 21 BWahlG), sondern durch eine Unterschriftensammlung (§ 20 Abs. 3 BWahlG) nominiert? Das Parteibuch allein macht Kandidaten nicht zu Parteibewerbern; sogar eine Platzierung auf der Landesliste wäre unschädlich. Für eine vergleichbare Situation im geltenden Wahlrecht wird der Einwand des Rechtsmissbrauchs erwogen (Wolf, in: Schreiber, BWahlG, § 20 Rn. 18). Darauf sollte es ein Reformgesetzgeber freilich nicht ankommen lassen.
V. Radikal genug?
Der Entwurf löst ein, was er verspricht: Er gewährleistet den Parteienproporz – ist also nach dem Proporznarrativ „gerecht“ – und stellt zudem sicher, dass die Abgeordnetenzahl von 598 (von zwei unerheblichen Ausnahmen abgesehen) nicht überschritten wird. Man kann sich angesichts seiner Skepsis gegenüber der Personenwahl mit relativer Mehrheit freilich fragen, weshalb er sich von den Wahlkreisen nicht völlig verabschiedet hat. Auch wenn sie nur noch eine Vorauswahl sein wird, prägt die Wahlkreiswahl dennoch das Gesamtsystem, vor allem aber die Wahlpraxis und den Wahlkampf. Das Prinzip der Hauptstimmendeckung führt zudem zu Wahlkreisen, die durch keinen Abgeordneten „vertreten“ sind. Das wird in der Wählerschaft nicht ohne Kritik bleiben, denn das Personenwahlnarrativ, das mit den Wahlkreisen verbunden ist, ist nicht so leicht zu verabschieden, wie die Personenwahl selbst. Eine aufwendige Vermittlungsarbeit wird nötig sein, um den Grundgedanken des Wahlrechts in der Wählerschaft zu verankern (um die Kenntnis des Wahlsystems war es freilich schon bisher schlecht bestellt).
Systematisch stimmiger wäre es, die (Einpersonen-)Wahlkreise ganz aufzugeben. Doch darf man ihre Bedeutung für das demokratische System insgesamt nicht übersehen. Diese liegt nicht in der – mehr behaupteten als belegten – persönlichen Bindung zwischen Abgeordneten und Wählern, auch nicht in der regionalen Repräsentation, die auch Listenabgeordnete sicherstellen können. Vielmehr stärkt die Nominierung von Wahlkreiskandidaten die demokratischen Strukturen innerhalb der Parteien. Denn durch sie erhalten die niederen Ebenen der Parteien eine tragende Rolle in der Wahlvorbereitung, in die die Parteieliten nicht (ohne weiteres) hineinregieren können. § 21 BWahlG, der die Aufstellung von Wahlkreisbewerbern in Mitglieder- oder Delegiertenversammlungen regelt, dürfte für die Bottom-Up-Struktur der Parteien von größerer Relevanz sein als manche Bestimmung des Parteiengesetzes. Durch die Kandidatenwahl vor Ort wird die zentrale Rolle der Parteien im demokratischen Prozess niedrigschwellig erfahrbar, nicht nur für Parteimitglieder, sondern auch für die interessierte lokale Öffentlichkeit. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten, die Parteibasis in die Wahlvorbereitung einzubeziehen, etwa durch Mehrpersonenwahlkreise oder regional gegliederte Listen. Angesichts der langen Tradition der Einpersonenwahlkreise ist es aber nachvollziehbar, dass der Entwurf sich einen noch radikaleren Schritt versagt hat. Die ersten Erfahrungen mit dem reformierten Wahlrecht werden, so es denn eine Mehrheit findet, bereits 2025 gesammelt. Danach wird sich zeigen, ob die Wahlkreise in ihrer heutigen Form eine Zukunft haben. Eines steht jetzt schon fest: Die Erzählung von der Personenwahl gehört, wenn der Entwurf beschlossen wird, der Vergangenheit an.