Der deutsche Exekutivföderalismus in der Pandemie
Rechtsverordnungen des Bundes als Ausweg aus der Konsensfalle
Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes scheint den Herausforderungen der COVID-19-Pandemie nicht gewachsen. Wenn der bayerische Ministerpräsident für mehr Bundeskompetenzen plädiert und am gleichen Tag die Bundeskanzlerin die Länder an ihre Pflicht zur Umsetzung beschlossener Maßnahmen erinnert, nachdem beide kurz zuvor bis in die frühen Morgenstunden mit den anderen Spitzen der Landesregierungen um Konsens gerungen haben, dann zeigt sich das föderale System nicht in Bestform. Jedenfalls scheint es weit entfernt von einer klaren Zuweisung von Zuständigkeiten und Abgrenzung der Verantwortlichkeiten, auf die es zur Bewältigung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Infektionsschutzgesetz, IfSG) ankommt. In dieser Situation kann verfassungsrechtliche Klärung durch ein genaueres Verständnis der Architektur des bundesdeutschen Exekutivföderalismus erwartet werden. Dabei ist sowohl das Verhältnis von Regeln und ihrem Vollzug als auch das Verhältnis von Bund und Ländern in den Blick zu nehmen. Dies führt zu der Erkenntnis, dass der Bund derzeit seiner Verpflichtung nicht ausreichend gerecht wird, die zur Bewältigung der epidemischen Lage erforderlichen Verhaltensregeln durch Gesetz und insbesondere durch Bundes-Rechtsverordnungen festzulegen.
Angesichts der aktuell verwirrenden Zuständigkeits- und Verantwortungsverteilung zwischen Bund und Ländern denken Rechtswissenschaftler über eine Ausführung des Infektionsschutzgesetzes im Auftrag des Bundes nach. Aber die Praxis der Bundesauftragsverwaltung – nicht zuletzt auf dem Gebiet des Atomrechts – wird niemanden motivieren, dieses Modell auf das Infektionsschutzrecht zu übertragen, zumal dafür eine Verfassungsänderung notwendig wäre. Andere wollen den konsensualen kooperativen Föderalismus durch einen Bund-Länder Regierungsausschuss institutionalisieren, lassen dabei aber offen, wie eine solche kooperative Beratungsrunde mit klaren Verantwortlichkeiten – insbesondere einer parlamentarischen Kontrolle durch Bundestag und/oder Landtage – in Einklang zu bringen sein soll. Auch das aus der Struktur der Art. 83 ff. GG folgende grundsätzliche Verbot der Mischverwaltung droht bei solchen Vorschlägen für einen Konsens-Föderalismus auf der Strecke zu bleiben. Eher in die richtige Richtung scheinen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zu deuten, die in der gebotenen Kürze und Klarheit daran erinnern, dass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) auch Infektionsschutzmaßnahmen in Schulen, Kindergärten und anderen Gemeinschaftseinrichtungen umfasst. Woran es aktuell offensichtlich fehlt, sind nämlich offensichtlich verbindliche bundeseinheitliche Regeln. Wo die Verantwortlichkeit für den Erlass dieser Regeln im föderalen System des Infektionsschutzrechts angesiedelt ist, scheint allerdings aus dem Blick geraten zu sein.
Der Infektionsschutz in Deutschland folgt dem Standard-Muster des Exekutivföderalismus, wie er in den Art. 70 ff. und Art. 83 ff. GG ausgeformt ist: Der Bund verfügt über weitreichende (konkurrierende) Gesetzgebungsbefugnisse und kann durch Gesetz und Rechtsverordnung die allgemeinen Verhaltensregeln festlegen, die er zum Schutz vor Infektionen für erforderlich erachtet. Die Länder haben diese Regeln vor Ort durch ihre Behörden und insbesondere durch die bundesverfassungsrechtlich ihnen zugehörigen Kommunen zu vollziehen. Die Pflicht der Länder, die Gesetzes des Bundes auszuführen, folgt unmittelbar aus Art. 83 GG und ist Dreh- und Angelpunkt der gesamten Mechanik, die das grundgesetzliche System der Ausführung von Bundesgesetzen durch die Länder prägt. Für die Durchsetzung dieser Pflicht der Länder zur loyalen Ausführung der Bundesgesetze sieht Art. 84 GG in den Absätzen 3 und 4 zwar Instrumente der Bundesaufsicht vor. Diese wurden aber bislang noch nie eingesetzt, weil die Länder ihrer Vollzugspflicht genügen und eine engmaschige verwaltungsgerichtliche Kontrolle diesen Landesvollzug des Bundesrechts begleitet, kontrolliert und auch für seine Bundeseinheitlichkeit sorgt, soweit nicht der Länderexekutive Ermessensspielräume und damit Raum für eigenständige Vollzugsstrategien eingeräumt sind. Wenn nach diesem exekutiv-föderalen Modell in Deutschland die Luftreinhaltung, die Ordnung des Straßenverkehrs oder die Lebensmittelsicherheit durch Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes geregelt und diese Regeln von den Ländern vollzogen werden, so spricht prima facie nichts dafür, dass dies beim Infektionsschutz anders sein sollte.
Dieses Modell basiert auf der Unterscheidung zwischen den abstrakt-generellen bundesrechtlichen Regeln und ihrem einzelfallbezogenen Vollzug durch Landes- und kommunale Behörden, die sie „vor Ort“ mit Blick auf die konkreten Umstände konkretisieren, anwenden und durchsetzen. Wer die angemessene und zügige staatliche Reaktion auf bedrohliches Infektionsgeschehen nicht in die Hände endloser Konsensrunden auf zweifelhafter kompetenzieller Grundlage geben will, hat sich also zunächst der Frage zuzuwenden, ob es bei den erforderlichen staatlichen Maßnahmen um abstrakt-generelle Regeln oder um einzelfallbezogene Vollzugsakte geht. Trotz aller theoretischen Probleme dieser Unterscheidung fällt es aus rechtspraktischer Perspektive nicht schwer zu erkennen, dass die Beschlüsse von „Bund und Ländern“ bzw. die Beschlüsse der „Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder“ abstrakt-generelle Regeln zum Inhalt haben, soweit sie sich nicht auf Bitten und Empfehlungen beschränken. Bei den aktuell gebotenen Entscheidungen geht es etwa um Beherbergungsverbote, um die Pflicht zum Tragen von Masken z.B. in öffentlichen Verkehrsmitteln oder um das Gebot, gastronomische Betriebe und Einzelhandel zu schließen. Solche Schutzmaßnahmen, die inzwischen in § 28a Abs. 1 IfSG aufgelistet sind, mögen im infektionsschutzrechtlichen Normalfall Gegenstand behördlicher Anordnung „vor Ort“ sein. Im Fall einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite müssen sie dagegen zum Inhalt flächendeckender und einheitlicher, für das gesamte Bundesgebiet geltender Regeln werden. Es geht also um Normsetzung und nicht mehr um einzelfallbezogene Vollzugsmaßnahmen. Dies gilt auch dann, wenn die normativen Gebote und Verbote an die Voraussetzung geknüpft werden, dass auf die Ebene des Landkreises, des Bezirks oder der kreisfreien Stadt bestimmte Schwellenwerte wie z.B. eine 7-Tage-Inzidenz von 100 überschritten werden („Notbremse“). Für die deshalb gebotene Rechtsetzung hat der Bund aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die umfassende Gesetzgebungskompetenz. Wie bereits erwähnt, umfasst diese Gesetzgebungskompetenz insbesondere auch Infektionsschutzmaßnahmen in Schulen, Kindergärten und anderen Gemeinschaftseinrichtungen. Der Bund könnte also regeln, auch wirksam regeln, und vor allem autonom ohne Konsens mit allen Ländern regeln. Der vielbeschworene Konsens zwischen Bund und Ländern wäre auch nicht etwa deswegen erforderlich, weil bundesrechtliche Regelsetzung zum Schutz vor der Verbreitung des Coronavirus der Zustimmung des Bundesrates bedürfte. Denn solange der Bundesgesetzgeber die Einrichtung der Vollzugsbehörden in den Ländern und das Verwaltungsverfahren der Länder beim Vollzug der Regeln unangetastet lässt, ist nicht ersichtlich, woraus eine Zustimmungsbedürftigkeit resultieren sollte.
Allerdings kann auf das aktuelle Infektionsgeschehen offensichtlich nicht zeitnah und situationsadäquat mit Änderungen des Infektionsschutzgesetzes reagiert werden. Deshalb ist die Rechtsverordnung das Mittel der Wahl. Bekanntlich ermächtigt das Infektionsschutzgesetz insbesondere in seinem § 32 die Landesregierungen, Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Hier liegt das Problem. Anstatt bundeseinheitliche Regelungen zu erlassen, die leicht durch eine Rechtsverordnung des Bundes getroffen werden könnten, ringen Kanzlerin mit Minsterpräsidentinnen und Ministerpräsidenten im Monatsrhythmus darum, den Flickenteppich aus 16 verschiedenen Landes-Rechtsverordnungen nicht zu bunt werden zu lassen und im Interesse wirksamen Infektionsschutzes einheitlich einzufärben. Die politischen Gründe, warum dies nicht gelingt, können hier nicht analysiert werden. Verfassungsrechtliche Klarheit sollte allerdings darüber herrschen, dass dieser Missstand allein der politischen Zögerlichkeit des Bundesgesetzgebers anzulasten ist. Nichts steht verfassungsrechtlich nämlich einer einfachen Änderung des Infektionsschutzgesetzes entgegen, die die Zuständigkeit für den Erlass von Corona-Schutzverordnungen von den Landesregierungen auf die Bundesregierung oder auf das Bundesministerium für Gesundheit verlagert. Art. 80 Abs. 1 GG überlässt die Auswahl zwischen den drei möglichen Ermächtigungsadressaten für Rechtsverordnungen den Zweckmäßigkeitserwägungen des Bundesgesetzgebers. Angesichts des kontinuierlichen und verbreiteten Rufs nach „einheitlichen“ Regeln dürfte diese Zweckmäßigkeit kaum zu bezweifeln sein.
Der Erlass von Rechtsverordnungen auf bundesgesetzlicher Grundlage durch die Landesregierungen gehört auch nicht zur „Ausführung“ von Bundesgesetzen, die nach Art. 83 GG den Ländern als „eigene Angelegenheit“ zugewiesen ist. Die in der verfassungsrechtlichen Literatur vereinzelt vertretene Gegenansicht verkennt, dass die Normsetzung durch Rechtsverordnungen nicht zu den vollzugstypischen Konkretisierungsaufgaben zählt, die nach der Grundstruktur des Exekutivföderalismus der Art. 83 ff. GG in der Regel den Ländern vorbehalten sind. Deshalb kann Art. 80 Abs. 1 GG es den Zweckmäßigkeitsüberlegungen des Bundesgesetzgebers überlassen, ob die „Regeln“ durch die Bundesregierung (bzw. ein Ministerium) oder die Landesregierungen erlassen werden.
Für die Länder bleibt mit dem Vollzug der bundeseinheitlich geltenden Regeln vor Ort nach dem grundgesetzlichen Modell des Exekutivföderalismus genug zu tun. Bei ihnen liegt die Herkulesaufgabe, die Verwaltungsstrukturen, das Personal und die finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die für den Vollzug des Infektionsschutzgesetzes und der auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsverordnungen notwendig sind. Von der Ausstattung der Gesundheitsämter über den Aufbau und den Betrieb der Impfzentren bis hin zur polizeilichen Durchsetzung der Maskenpflicht reicht das Spektrum der den Ländern obliegenden Vollzugsaufgaben. Und vieles spricht dafür, dass den Ländern diese Aufgabe durch bundeseinheitlich geltende Regelungen eher erleichtert würde.
Das grundgesetzliche System der Verteilung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern erweist sich auch unter den Bedingungen der Pandemie als funktionsadäquat. Woran es fehlt, ist der politische Mut auf Bundesebene, die gegebenen verfassungsrechtlichen Instrumente zu nutzen. Die zuständigen Organe des Bundes sind aufgerufen, die erforderlichen Regeln zur Eindämmung des Infektionsgeschehens zu treffen – durch Gesetz und insbesondere durch Bundes-Rechtsverordnungen. Dazu bedarf es lediglich geringfügiger Änderungen des Infektionsschutzgesetzes, die die Zuständigkeit für den Erlass von Corona-Schutzverordnungen von den Landesregierungen auf die Bundesregierung verlagern. Dazu bedarf es keines Konsenses mit den Ländern, sondern einer verantwortungsvollen Bundesgesetzgebung, die auch durch den Bundesrat mangels Zustimmungsbedürftigkeit nicht blockiert werden kann. Dass die zuständigen Bundesorgane bei einem weiteren Zuwarten und einer Fortsetzung des konsensföderalen Weges möglicherweise nicht nur gegen epidemiologische Notwendigkeiten, sondern auch gegen ihre verfassungsrechtliche Schutzpflicht für Leben und Gesundheit verstoßen, steht auf einem anderen Blatt.
“…Wenn der bayerische Ministerpräsident für mehr Bundeskompetenzen plädiert und am gleichen Tag die Bundeskanzlerin die Länder an ihre Pflicht zur Umsetzung beschlossener Maßnahmen erinnert, nachdem beide kurz zuvor bis in die frühen Morgenstunden mit den anderen Spitzen der Landesregierungen um Konsens gerungen haben, dann zeigt sich das föderale System nicht in Bestform…”
Der juristisch nicht so beschlagene, dafür aber politisch aufmerksame Beobachter würde möglicherweise auch in Betracht ziehen, dass der bayerische Ministerpräsident
* der seine im vergangenen Jahr explodierenden Umfragewerte ausschließlich auf den Ruf gebaut hat, der brutalstmögliche Corona-Bekämpfer von allen zu sein;
* der deshalb ebenfalls im vergangenen Jahr, wo immer es möglich war, aus dem Konsens der anderen Bundesländer ausgebrochen und eigene Maßnahmen on top drauf gesetzt hat, völlig egal wie sinnig oder unsinnig;
* der aber trotzdem und leider im Vergleich zu den anderen Bundesländern eine ziemlich miese Erfolgsbilanz im “war on Corona” aufweisen kann;
dass besagter bayerischer Ministerpräsident mit dieser Mahnung eine ziemlich durchsichtige politische Agenda verfolgt, weshalb dem oben zitierten Beobachter dann der Schluss, dass “…das föderale System nicht in Bestform…” sei, etwas gewagt erscheinen könnte.
Möglicherweise hat dieser bayerische Ministerpräsident inzwischen sogar nolens volens verstanden, dass es nicht möglich ist, Corona in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Begriffs “zu besiegen”, weshalb er, wie er erklärt, auch keinerlei Probleme hat, Kompetenzen an den Bund abzugeben. Schließlich ist dann der Bund am Ende des Tages für die “Niederlage” verantwortlich und der bayerische Ministerpräsident hätte einen willkommenen Sündenbock. Wir Bayern wissen schließlich aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass die CSU und ihre Ministerpräsidenten schon immer gegen schlechte Entscheidungen des Bundes waren, an dessen Regierung die CSU offensichtlich auch noch nie beteiligt war. Wie kämen denn sonst diese schlechten Entscheidungen zustande?
Sehr geehrter Prof. Hermes,
ich habe sowohl Ihren als auch den Blogeintrag von Johannes Gallon (https://verfassungsblog.de/aenderung-ifschg/) zu diesem Thema gelesen und stelle mir nun die Frage, wie sie Ihre Ansicht begründen, dass eine Übertragung der Verordnungsermächtigung oder aber jeder Verordnungserlass nicht gem. Art. 80 II GG der Zustimmung des Bundesrates bedarf? (vgl. auch hier https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/recht-corona-massnahmen-103.html)
Vor diesem Hintergrund könnte mE nämlich nicht von “lediglich geringfügigen Änderungen” gesprochen werden, da zu erwarten wäre, dass die Länder ggf. die Zustimmung im Bundesrat verweigern würden und auch politisch ihren Unmut äußern würden.
Über eine kurze Aufklärung wäre ich Ihnen dankbar.
Sehr geehrter Herr Schöneseiffen,
vielen Dank für diese wichtige Frage, die mir Gelegenheit gibt zu präzisieren und zu ergänzen: Nach der wohl herrschenden Auffassung in der Literatur und nach einer älteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1970 (BVerfGE 28, 66, 76 ff.) bedarf ein Bundesgesetz, das von den Länden als eigenen Angelegenheit ausgeführt wird (wie das Infektionsschutzgesetz), der Zustimmung des Bundesrates , wenn es die Bundesregierung zu Rechtsverordnungen ermächtigt, die die Bundesregierung dann ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen könnte. Der Bundestag hat also in der gegenwärtigen Situation zwei Möglichkeiten: Entweder (1) er regelt möglichst genau und abschließend im Infektionsschutzgesetz (ohne Zustimmung des Bundesrates) oder (2) er ermächtigt die Bundesregierung/das Bundesministerium zur Regelung des Weiteren durch Rechtsverordnung, die ohne Zustimmung des Bundesrates erlassen werden kann. In diesem zweiten Fall braucht die entsprechende Änderung des Infektionsschutzgesetzes der einmaligen Zustimmung des Bundesrates. Die von mir vorgeschlagene Lösung bedarf also dieses einmaligen “Kraftaktes” der Mehrheit im Bundesrat.