Der lange Weg zur Konzernverantwortung und Konzernhaftung in der Schweiz
Die Schweiz, trotz ihrer 8,5 Millionen Einwohner, ist bekannt als Sitz von mehreren Konzernen des Global 500, das bekannte Ranking der weltweit größten Unternehmen des Magazins Fortune. Aber nicht nur Nestlé, Glencore, HolcimLafarge oder Novartis sind multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz. Seit 2018 führt das schweizerische Bundesamt für Statistik ein ganz genaues Portrait der Unternehmensgruppen in der Schweiz. 2018 zählte die Schweiz 9.272 multinationale Unternehmensgruppen, die schlussendlich durch ein Unternehmen mit Sitz in der Schweiz kontrolliert waren. Diese beschäftigten 918.684 Menschen in der Schweiz. Kein Wunder also, dass sich die parlamentarische Debatte zur Konzernverantwortung und -haftung in der Schweiz in die Länge zieht. Schon über zwei Jahre diskutieren beide Kammern des Parlaments über einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative ‘Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt’. Der lange Weg zeigt, dass für viele – auch innerhalb von Unternehmensverbänden – nichts gesetzlich zu verankern, nicht als die beste Lösung erscheint.
Über die Volksinitiative ‘Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt’, den indirekten Gegenvorschlag des Nationalrats und den weiteren schwächeren Gegenvorschlag ohne Haftung des Ständerats ohne Haftungsnorm debattiert das Parlament schon über zwei Jahren. Doch am Dienstag entschied sich das Parlament für den schwachen Gegenvorschlag ohne Haftung für Unternehmen. Damit wird die Konzerninitiative nicht zurückgezogen. Wahrscheinlich im November aber spätestens im Februar 2021 werden Schweizer Bürger*innen für oder gegen den Text der Volksinitiative stimmen müssen.
So unterschieden sich die drei Vorlagen voneinander und so geht es weiter:
Die Volksinitiative ‘Für verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt’
Die Volksinitiative, auch Konzernverantwortungsinitiative oder Kovi in der Schweiz genannt, hat zum Ziel, die Bundesverfassung (BV) zu ändern. Sie besteht auf eine neue Bundesverfassungsbestimmung. Der vorgeschlagene Artikel 101a BV trägt den Titel ‘Verantwortung von Unternehmen’ und beschreibt den Geltungsbereich der Sorgfaltsprüfungspflicht für Unternehmen im Bereich Menschenrechte und Umwelt, die Bedingungen der Haftung im Falle eines Schadens und regelt das anwendbare Recht im internationalen Privatrecht. Falls dieser Verfassungsartikel zur Abstimmung kommt und angenommen wird, müsste er noch auf Gesetzesstufe umgesetzt werden.
Gemäß dem Text der Initiative haben Unternehmen mit satzungsmäßigem Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung in der Schweiz auch im Ausland die international anerkannten Menschenrechte sowie die internationalen Umweltstandards zu respektieren. Sie sind dazu zu einer angemessenen Sorgfaltsprüfung verpflichtet. Diese Pflicht besteht darin, Auswirkungen auf Menschenrechte und die Umwelt zu ermitteln, Maßnahmen zu ergreifen und Rechenschaft über ergriffene Maßnahmen abzulegen. Diese Sorgfaltspflicht ist risikobasiert und stützt sich auf den internationalen Standard der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und entsprechende Leitsätze der OECD. Sie gilt in Bezug auf die Aktivitäten von kontrollierten Unternehmen sowie auf sämtliche Geschäftsbeziehungen.
Mit Bezug auf die Haftung, sollen Unternehmen für den Schaden haften, den sie selbst oder durch sie kontrollierte Unternehmen verursacht haben. Ob ein Unternehmen ein anderes kontrolliert, bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Laut der Volksinitiative kann eine faktische Kontrolle auch durch wirtschaftliche Machtausübung erfolgen. Theoretisch bedeutet dies, dass nicht nur die Muttergesellschaft eines schädigenden Unternehmens für einen Schaden haften könnte, sondern in Ausnahmefällen auch ein Abnehmerunternehmen, nämlich dann, wenn es durch wirtschaftliche Machtausübung seinen Zulieferer kontrolliert. Da Artikel 101a BV in den nationalen Gesetzen umgesetzt werden müsste, wird es dem Parlament überlassen, das Kriterium der Kontrolle genauer zu definieren. Zusätzlich zum Kriterium der Kontrolle müssen weitere Bedingungen erfüllt werden, bevor die Haftung des kontrollierenden Unternehmens in der Schweiz überhaupt entstehen kann. Zuerst soll das kontrollierte Unternehmen ein international anerkanntes Menschenrecht oder einen internationalen Umweltstandard verletzt haben. Zudem muss das kontrollierte Unternehmen in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung die Verletzung verursacht haben.
In einem zivilrechtlichen Verfahren müsste der oder die Kläger*in zahlreiche Elemente beweisen. Zusätzlich zum Schaden müsste er oder sie beweisen, dass das kontrollierte Unternehmen den Schaden verursacht hat und ein international anerkanntes Menschenrecht oder einen internationalen Umweltstandard in Ausübung ihrer geschäftlichen Verrichtung verletzt hat. Er oder sie müsste auch beweisen, dass das Unternehmen in der Schweiz dieses schädigende Unternehmen tatsächlich kontrolliert. Allerdings müsste der oder die Kläger*in nicht beweisen, dass das Unternehmen in der Schweiz seine Sorgfaltsprüfungspflicht im Bereich Menschenrechte und Umwelt nicht erfüllt hat. Das kontrollierende Unternehmen in der Schweiz kann sich von der Haftung befreien, wenn es beweist, dass es alle gebotene Sorgfalt angewendet hat, um den Schaden zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre. Dieser Beweis wird auch Befreiungsbeweis genannt.
Schließlich regelt die vorgeschlagene Bundesverfassungsbestimmung die Frage des anwendbaren Rechts. Die Sorgfaltsprüfungspflicht und die Bedingungen der Haftung sollen unabhängig vom durch das internationale Privatrecht bezeichneten Recht gelten. Diese Regelung soll sicherstellen, dass Schweizer Gerichte die neu erarbeitete Sorgfaltspflicht und Haftungsbedingungen für kontrollierende Unternehmen in der Schweiz überhaupt anwenden können. Es wäre sonst oft nicht der Fall und diese Bestimmungen wären nutzlos, da das internationale Privatrecht der Schweiz üblicherweise vorsieht, dass das Recht des Staates, in dem der Schaden eintrat, anzuwenden ist.
Der Gegenvorschlag des Nationalrats ist vom Tisch
Der Nationalrat, eine der beiden Kammern des Parlaments, nahm einen indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative im Juni 2018 an. Auch im Juni 2019 und März 2020 hielt er an seinem Vorschlag fest. Doch konnte er nicht die andere Kammer des Parlaments überzeugen und ist definitiv von Tisch. Im Gegensatz zur Volksinitiative bestand der indirekte Gegenvorschlag des Nationalrats aus einer Änderung von Bundesgesetzen und nicht der Verfassung. Der Gegenvorschlag war deshalb spezifischer als die Volksinitiative. Er sollte den Sinn der Volksinitiative widerspiegeln und damit zu Ihrem Rückzug führen. Auch diese Vorlage beschrieb den Geltungsbereich der Sorgfaltsprüfungspflicht (Art. 716a OR), die Bedingungen der Haftung im Falle eines Schadens (Art. 55a OR) und regelte das anwendbare Recht bei transnationalen, zivilrechtlichen Haftungsfällen. Er unterschied sich von der Volksinitiative wie folgt.
In Bezug auf die Sorgfaltspflichten sollte laut dem vorgeschlagen Artikel 716a OR der Verwaltungsrat sicherstellen, dass das Unternehmen in seinen Tätigkeitsbereichen maßgebliche Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt auch im Ausland einhält. Damit gemeint waren international anerkannte Bestimmungen, die für die Schweiz verbindlich sind. Diese Pflicht war auch risikobasiert und stützte sich auf den internationalen Standard der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD Leitsätze. Gegenstand dieser Sorgfaltsprüfung waren auch die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit von kontrollierten Unternehmen und aufgrund von Geschäftsbeziehungen mit Dritten. Der Unterschied zur Volksinitiative bestand darin, dass diese Pflicht Anwendung auf Großunternehmen fand, die zwei der folgenden Größen überschritten: Bilanzsumme von 40 Millionen Franken, Umsatzerlös von 80 Millionen Franken und 500 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt. Es fand aber auch Anwendung auf Gesellschaften, deren Tätigkeit ein besonders großes Risiko der Verletzung birgt.
Zur Frage der Haftung enthielt der Gegenvorschlag einen vorgeschlagenen Artikel 55a OR mit dem Titel «Haftung für tatsächlich kontrollierte Unternehmen». Das ging dem Ständerat zu weit. Mit dieser spezifischen Haftung blieben zwar die Haftung und der Mechanismus des Befreiungsbeweises bestehen, aber der persönliche und materielle Anwendungsbereich der Haftung war beschränkt. Der persönliche Anwendungsbereich der Haftung beschränkte sich auf Unternehmen, die zur Sorgfaltsführung verpflichtet sind und die das schädigende Unternehmen tatsächlich kontrollieren. Wie der Gegenvorschlag klarstellte, konnte eine tatsächliche Kontrolle nur innerhalb eines Konzernes bestehen. Das bedeutete, dass Artikel 55a OR nicht anwendbar gewesen wäre für Schäden, die eine kontrollierte Geschäftsbeziehung, wie zum Beispiel ein kontrollierter Zulieferer, verursacht hätte. Der materielle Anwendungsbereich der Haftung war beschränkt auf Schäden an Leib und Leben oder Eigentum im Ausland. Das sollte sicherstellen, dass Beeinträchtigungen der Umwelt oder Verletzungen von Menschenrechten, wie zum Beispiel Meinungs- und Versammlungsfreiheit, nicht gelten gemacht werden, wenn sie nicht zugleich Schäden an Leib und Leben oder an Eigentum verursachten. Schließlich musste bei Streitigkeiten nach Artikel 55a OR zuerst ein Schlichtungsverfahren stattfinden. Dennoch gingen diesen Beschränkungen dem Ständerrat nicht weit genug.
Der Gegenvorschlag des Ständerats setzt sich durch
Der Gegenvorschlag des Ständerats lässt sich kürzer zusammenfassen. Das Initiativkomitee kommunizierte, dass es ihn als ungenügend für den Rückzug der Initiative betrachtet. Es war also nie ein richtiger „Gegenvorschlag“. Die Initiat*innen nannten ihn übrigens „Alibi-Vorschlag“. Hauptgründe dafür sind, dass er keine Regelung zur Haftung für kontrollierte Unternehmen enthält und dass die vorgesehene Sorgfaltsprüfungspflicht nicht den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte entspricht. Damit spiegelt dieser Gegenvorschlag die wesentlichen Elemente der Volksinitiative nicht wider.
Im Gegenvorschlag des Ständerats bleiben einzelne Aspekte der Sorgfaltspflichten übrig. Unternehmen, die mindestens 500 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt und entweder eine Bilanzsumme von 20 Millionen Franken oder Umsatzerlöse von 40 Millionen Franken haben, haben eine Berichtserstattungspflicht. Der nichtfinanzielle Bericht muss Rechenschaft über Umweltbelange, insbesondere die CO2-Ziele, Sozialbelange, Arbeitnehmerbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung der Korruption geben. Verfolgt das Unternehmen in Bezug auf einen oder mehrere Belange kein Konzept, hat es dies im Bericht klar und begründet zu erläutern. Unterlässt das Unternehmen die Berichtserstattung, muss es mit einer Busse rechnen.
Über die Berichterstattungspflicht hinaus müssen nur jene Unternehmen in der Schweiz Sorgfaltspflichten in der Lieferkette einhalten, welche mit grossen Mengen von ‘Konfliktmineralien’ zu tun haben und Unternehmen, die Produkte anbieten, für welche ein Verdacht auf Kinderarbeit besteht. Diese Sorgfaltspflichten sind im vorgeschlagenen Art. 964h OR weiter definiert. Es bestehen im Vorschlag aber keine Sanktionen bei der Unterlassung dieser Sorgfaltspflichten.
Wie es weiter geht und warum eine gesetzliche Lösung mit Haftung der richtige Weg ist
Am Dienstag entschied sich das Parlament für den Gegenvorschlag ohne Haftungsnorm des Ständerats. Damit wird die Initiative nicht zurückgezogen und die Schweizer Bürger*innen werden bis spätestens Februar 2021 entweder mit Ja oder Nein über den Text der Volksinitiative zu befinden haben. Diese Abstimmung wird nach einer Kampagne zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen der Initiative stattfinden. Parallel dazu wird der Gegenvorschlag weiterbearbeitet und schließlich als Gesetz verabschiedet.
Es gibt mehrere Gründe, Sorgfaltspflichten und Haftungsbedingungen im Bereich Menschenrechte und Umwelt gesetzlich genauer zu definieren. Aus moralischen Gründen sind bereits alle einverstanden, inklusive Unternehmen, dass Profite nicht aus Menschenrechtsverletzungen und Umweltbeschädigungen entstehen sollen. Hierzu gibt es keine Debatte. Die Debatte geht um die Stabilität, den Ruf und die Rechtssicherheit des Wirtschaftsstandorts Schweiz.
In den 1990er und 2000er durften Unternehmen unterschiedliche moralische Standards in freiwilligen Verhaltenskodizes verankern. Heutzutage sind viele Verhaltenskodizes harmonisiert worden. Sie sind zwar immer noch freiwillig, haben sich aber an die Sorgfaltspflichtstandards der UNO-Leitprinzipien angepasst. Die Erwartung an Unternehmen im Bereich Menschenrechte und Umwelt werden immer kohärenter und präziser. Das bedeutet auch, ganz konkret, dass früher oder später ein Gericht in der Schweiz sich an den Sorgfaltspflichtstandards der UNO-Leitprinzipien orientieren wird, auch ohne Gesetzgrundlagen, um das Verhalten von Unternehmen in der Schweiz zu beurteilen. Genau das sorgt für Unsicherheit innerhalb von Unternehmen, was eine neue Studie der Europäischen Kommission (auf Seite 227) bestätigt:
“Business stakeholders in particular report a high level of concern about the current lack of legal certainty about due diligence requirements for human rights and environmental impacts. This legal uncertainty arises because, even in the absence of a general legal duty for due diligence, companies are increasingly facing legal and other risks and costs as a result of a failure to undertake due diligence.”
Es ist auch ein Grund warum in der Schweiz – und auch anderswo – eine wachsende Zahl von Unternehmen eine rechtssichere und verhältnismässige Regelung einfordern. Der „Alibi-Vorschlag“ erfüllt diesen Zweck nicht.
Die Bestrebung ist für mich besonders erstaunlich und erfreulich zugleich, da diese Idee dem angestrebten Lieferkettengesetz in DE zumindest in struktureller Hinsicht beispielhaft sein kann. Was für mich dennoch unklar ist – vielleicht ist das auch zu politisch gedacht – ist die Idee des Rufs und der Rechtssicherheit des Standortes Schweiz. Wenn die moralische Debatte darüber bereits abschließend geführt wurde, weshalb dann der Ruf der Schweiz als Ort mit klaren Normen und nicht nur freiwilligen Verpflichtungen leiden sollte. Das selbe Prinzip wirkt bei dem Aspekt der Rechtssicherheit, welche ja gerade erst hier nach Beschluss einer solchen Verfassungsänderung gegeben ist. Die verpflichtende Selbstkontrolle und Auskunft könnte abschreckend wirken, so die Idee der Kritik. Das impliziert ja, dass mittelbar mit Verletzung der Regeln erwirtschaftete Profite doch gewünscht sind, wenn man solche Unternehmen nicht abschrecken möchte. Wenn mir jemand beantworten kann, was abseits vom politischen Willen in Deutschland für eine rechtliche Unterscheidung/haftungsrechtliche Ausweitung angestrebt werden müsste, um großer Konzerne und deren Tochtergesellschaften auch transnational mit deutschem Recht (also der besagten Lieferketten-Norm) habhaft zu werden, wäre das sehr zuvorkommend.