Der Supreme Court, die Bilder – und die Binde der Justitia
Zu den möglichen Zugängen zum Verfassungsrecht gehören auch die Bilder als Medien des Verfassungsrechts. Zwei Supreme Court-Entscheidungen von letzter Woche nehmen Bilder sogar direkt mit in ihre Anhänge auf. Sie zeigen die Chancen, aber auch die Tücken einer Nutzung dieses Mediums als Bestandteil gerichtlicher Entscheidungsbegründungen.
1. In der ersten Entscheidung, Walker v. Texas Div., Sons of Confederate Veterans, Inc., ging es um die Auto-Nummernschilder in Texas. Man kann auf diesen Schildern, die von der Regierung ausgestellt werden und in ihrem Eigentum bleiben, für teures Geld eine große Vielfalt von Extra-Sprüchen und Motiven anbringen lassen. Die „Sons of Confederate Veterans, Texas Division“ beantragten vergeblich, als ein solches Motiv auch die Flagge der Konföderierten zuzulassen.
Nach der Mehrheitsmeinung verletzt die Ablehnung dieses Motivs nicht die Meinungsfreiheit. Richter Breyer mit den Richterinnen Ginsburg, Sotomayor, Kagan und, ungewöhnlicherweise, Richter Thomas, nahmen an, die Sprüche und Motive auf den Nummernschildern seien letztlich der Regierung zuzurechnen. Es handele sich also um „government speech“, für die nicht die üblichen strengen Maßstäbe der Meinungsfreiheit gelten. Justice Breyer betont unter anderem, der staatliche Charakter der Schilder sei trotz der privat ausgesuchten Botschaften deutlich erkennbar. Seiner Opinion hängt er ein Bild mit dem Design des beantragten Nummernschildes an.
Die Dissenting Opinion (Richter Alito mit den Richtern Roberts, Scalia und Kennedy) argumentiert dagegen, die Regierung spreche in solchen „specialty licence plates“ mitnichten selbst. Es handele sich um private Meinungsäußerungen, für die Texas lediglich ein begrenztes „öffentliches Forum“ („limited public forum“) begründe. Die Konföderierten-Flagge dürfe deshalb als Motiv nicht abgelehnt werden. Im Anhang bebildert Justice Alito das seinerseits mit einer großen Vielfalt von Nummernschildern, die zugelassene Motive und Sprüche zeigen. Wer zum Beispiel ein Auto an sich vorbeifahren sehe, das auf dem Nummernschild die Aussage „Rather be Golfing“ trage, der werde, so Alito, darin wohl kaum eine regierungsamtliche Stellungnahme für den Golfsport sehen.
Soweit, so gut: Die Abbildungen sowohl der Mehrheit als auch der Minderheit in dieser Entscheidung haben eine vergleichsweise unproblematische Funktion. Sie unterstützen und erläutern, ersichtlich und nachvollziehbar, die juristische Argumentation. Ganz anders sieht das jedoch im zweiten Fall aus.
2. In Brumfield v. Cain ging es um Kevan Brumfield, der eine Polizistin erschoss und dafür in Louisiana wegen Mordes zum Tode verurteilt wurde. Der Supreme Court entschied mit fünf gegen vier Stimmen, dass Brumfield näher dazu angehört werden muss, ob er geistig behindert ist – was die Todesstrafe nach der jüngeren Rechtsprechung ausschließen würde (Richterin Sotomayor mit den Richtern Kennedy und Breyer und den Richterinnen Ginsburg und Kagan).
In seiner Dissenting Opinion schildert Justice Thomas nicht nur ausführlich die Ermordung der Polizistin, Corporal Betty Smothers, sondern auch den Werdegang ihres ältesten Sohnes. Der Fall sei „eine Studie in Kontrasten“: Auf der einen Seite Brumfield, der Smothers ermordet und die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht habe, zu behaupten, seine Handlungen seien das Ergebnis von Umständen jenseits seiner Kontrolle. Auf der anderen Seite Warrick Dunn, der älteste Sohn von Corporal Smothers, der auf Umstände jenseits seiner Kontrolle – nämlich die Ermordung seiner Mutter – reagiert habe, indem er sich um seine Familie gekümmert, eine professionelle Karriere als national erfolgreicher Football-Spieler aufgebaut und seinen Erfolg auf dem Spielfeld in wohltätige Arbeit jenseits des Spielfeldes umgemünzt habe. Als Anhang fügt Thomas seinem Sondervotum ein Foto von Corporal Smothers bei.
So verurteilungswürdig der Mord und so berechtigt es ist, der Ermordeten zu gedenken – die Verwendung dieses Fotos durch Thomas wirft doch Fragen auf.
3. Anlässlich der Ernennung von Justice Sonia Sotomayor durch Präsident Obama wurde intensiv diskutiert, ob „Empathie“ für die richterliche Qualifikation erheblich sein kann (vgl. nur hier und, mit Blick auf die Brumfield-Entscheidung, hier). Man wird das jedenfalls für die Ermittlung der Tatsachen und der möglichen Folgen einer Entscheidung zu bejahen haben: Empathie mit dem tatsächlichen Schicksal der auf beiden Seiten Betroffenen sollte die richterliche Sachverhaltsermittlung stets mitprägen. Auch deshalb ist es von Vorteil, wenn in einem Gericht möglichst verschiedene Lebensperspektiven und Erfahrungshintergründe vertreten sind – ebenso wie an allen anderen einflussreichen Positionen. Eine „weise Latina-Frau“ wird Tatsachen auf andere Weise wahrnehmen. Sie mag ihren Richterkollegen Tatsacheneinschätzungen vermitteln können, die ihnen sonst womöglich nicht von vornherein zugänglich wären (zur Diskussion um Sotomayors Überlegungen zu „wise latina women“ siehe nur hier). So konnte Justice Ruth Bader Ginsburg („notorious RBG“) als Frau offenbar besser nachempfinden, was eine „strip search“ in der Schule für ein 13 Jahre altes Mädchen tatsächlich bedeutet, als – zumindest zunächst – ihre männlichen Kollegen (zum Fall Redding siehe hier und hier).
4. Wo es um die Tatsachenermittlung geht, kann es daher auch sinnvoll sein, wenn eine richterliche Begründung ein Bild verwendet, das bekanntlich zuweilen mehr sagen kann als tausend Worte. So war es beispielsweise legitim und angemessen, dass Justice Kennedy die Zustände in den überfüllten Strafanstalten Kaliforniens in der Entscheidung Brown v. Plata von 2011 nicht nur schriftlich schilderte, sondern im Anhang der Entscheidung auch durch Fotos veranschaulichte.
5. Im Fall Brumfield ist dagegen nicht zu erkennen, welche rechtliche Bedeutung der großen Empathie zukommen könnte, die Justice Thomas für die von Brumfield ermordete Polizistin zeigt, deren Foto er in den U.S. Reports verewigt. Welche rechtlichen Maßstäbe für die Anhörung Brumfields gelten müssen, hing weder von ihrer konkreten Person noch gar von der Lebensgeschichte ihres Sohnes in irgendeiner Weise ab.
Was den Lebensweg des Sohnes von Corporal Smothers, also des Football-Stars Warrick Dunn, angeht, sahen das offenbar auch die Richter Roberts, Scalia und Alito so. Sie schlossen sich zwar dem Sondervotum im Übrigen an – nicht aber jener Passage, in der Thomas die Biographie Dunns zusammenfasste. Justice Alito führte dazu (mit Zustimmung von Chief Justice Roberts) aus, diese Ausführungen seien zwar „inspirierend“, aber nicht essentiell für die rechtliche Würdigung:
The story recounted in that Part is inspiring and will serve a very beneficial purpose if widely read, but I do not want to suggest that it is essential to the legal analysis in this case.
Eine Richterin muss die Augen offen halten und sich ein möglichst klares und konkretes Bild vom Sachverhalt und, wo rechtlich relevant, auch von den voraussichtlichen Folgen ihrer Entscheidung verschaffen. Zugleich muss sie sich aber bei Ermittlung, Bewertung und Würdigung des Sachverhalts um das menschenmögliche Maß an Neutralität und Unabhängigkeit bemühen. Auch wenn sich der unbewusste Einfluss von Vorverständnissen und Prägungen, von Sympathien und Antipathien nie ganz ausschalten lassen wird, muss sie doch versuchen, nach Maßstäben zu urteilen, die nicht nur für die konkret betroffenen Personen gelten, sondern die Verallgemeinerbarkeit beanspruchen können. Das Foto von Corporal Smothers in der Brumfield-Entscheidung wirft deshalb Bedenken mit Blick auf ein weiteres Bild auf, nämlich die Figur der Justitia: Trägt sie doch ihre Augenbinde gerade deshalb, weil sie – am Ende – stets ohne Ansehung der konkret betroffenen Personen entscheiden soll.