Die Haftung von Zertifizierungs- und Prüfunternehmen als gebotener Bestandteil eines effektiven Lieferkettengesetzes
Die Bemühungen von Zivilgesellschaft und Politik um ein deutsches Lieferkettengesetz rücken Unternehmen mit weltumspannenden Produktionsketten ins Zentrum der Debatte um den Schutz von Umwelt und Menschenrechten. Die Debatte fußt auf wiederholt herangezogenen Fällen schwerster Verletzungen menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten, wie dem tödlichen Großbrand in der Textilfabrik Ali Enterprises in Pakistan wegen Nichteinhalten essentieller Brandschutzvorschriften. Im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht deshalb nicht zufällig die Forderung nach einem produzierende Unternehmen und international aufgestellte Retailer verpflichtenden Gebot, im Rahmen der eigenen Wertschöpfungskette Umwelt und Menschenrechte durch umfassende Risikoanalysen und hierauf abgestimmte Maßnahmen effektiv zu schützen. Wer aufgrund von globalisierten Produktionsschritten wirtschaftlich profitiert und dabei Schäden an Umwelt und Menschenrechten anrichtet, soll hierfür Verantwortung übernehmen müssen.
Diese Perspektive ist verständlich, verengt den Diskurs jedoch, und räumt insbesondere Auditierungs- und Zertifizierungsunternehmen nicht den Platz ein, welcher der Branche aufgrund ihrer faktischen Bedeutung für das Funktionieren einer globalisierten Wirtschaft und den effektiven Schutz von Umwelt und Menschenrechten zukommen sollte.
I.
Die zentrale Rolle von Prüfdienstleistungen und Konformitätsbescheinigungen für globalisierte Produktionsketten wird schnell deutlich: Zertifikate dominieren das globale Wirtschaftsleben unabhängig davon, ob sie gesetzlich vorgeschrieben oder durch die Wirtschaft selbst ins Leben gerufen worden sind (vgl. Schucht, NJW 2019, 1335).
Bei Zertifikaten handelt es sich um typischerweise von dritter, nicht öffentlich-rechtlicher Stelle ausgestellte Bescheinigungen, die bestätigen, dass ein bestimmter, von unabhängiger Stelle erstellter Maßstab (= Standard) durch das zertifizierte Unternehmen eingehalten wird. Dabei können Zertifikate von der Produktion über interne Management- und Compliance-Strukturen alle Bereiche eines Unternehmens erfassen. Grundlage der Zertifizierung sind Prüfungen und Tests (= Audits), welche durch die Zertifizierungsstelle, idealerweise unter Wahrung eines internen 4-Augen-Prinzips, durchgeführt werden. Die Befähigung zur Zertifizierung wird dem Zertifizierungsunternehmen durch die jeweilige Akkreditierung verliehen, welche je nach gewähltem Maßstab entweder von staatlichen oder privaten Drittstellen erteilt wird.
Zertifikate erfüllen daher ihren jeweiligen Adressaten – also beispielsweise Einkäufer*innen, Verbraucher*innen oder Behörden – gegenüber die Aufgabe, die Einhaltung von Standards zu bestätigen, denen aus technischen, rechtlichen oder ethischen Gründen zwar Bedeutung zugewiesen wird, zu deren Überprüfung die Adressaten aber selbst nicht in der Lage sind. Zertifizierungssiegel bieten den Unternehmen so die Möglichkeit, Produkte gegenüber Vertragspartner*innen und Verbraucher*innen als besonders umwelt- oder menschenrechtsfreundlich zu bewerben, um auf diese Weise einen Marktvorteil zu erlangen.
Zugleich stärken sie das Vertrauen in das Angebot von Unternehmen, deren Produktionsweise den Zertifizierungsadressaten im Einzelnen dank der Zertifizierung nicht weiter bekannt sein muss. Zertifizierungsunternehmen tragen damit als Gatekeeper (Vgl. Wagner, JZ 2018, 134) wesentlich zum Entstehen, dem Erhalt und der Entwicklung transnationaler Liefer- und Produktionsketten zwischen bspw. europäischen Großkonzernen und Zulieferern aus Ländern des globalen Südens, also zum Funktionieren eines globalen Wirtschaftsverkehrs insgesamt bei. Auf die Parallelen zur nach der Bankenkrise 2007 geführten Diskussion um die Bedeutung der „Big-4“-Wirtschaftsprüfungsunternehmen für das Funktionieren der Finanzbranche sei ohne Möglichkeit zur weiteren Ausführung nur hingewiesen.
Der tatsächliche Bedarf der Wirtschaft an Dritt-Zertifizierungen zeigt sich schon an der beobachteten Zunahme zertifizierbarer Standards im Bereich des sogenannten Factory Auditings oder auch Social Auditings. Dieses bezieht mittlerweile einerseits von den Zulieferern einzuhaltende Managementstandards wie ISO 9001 oder ISO 14001, andererseits aber auch die Einhaltung sogenannter Sozialstandards mit ein. Sozialstandards stehen dabei in engem Verhältnis zum Konzept der Corporate Social Responsiblity, und beschäftigen aufgrund des gewachsenen öffentlichen Bewusstseins für die Einhaltung von umwelt- und menschenrechtlichen Mindestanforderungen seit mehreren Jahren Unternehmenszusammenschlüsse, internationale Organisationen wie auch Nichtregierungsorganisationen. Sie haben als branchenweit geltende Maßstäbe die unübersichtliche Menge an jeweils nur für einzelne Unternehmen geltenden Codes of Conduct weitestgehend abgelöst. Doch allein für die Textilbranche nennt die Clean Clothes Campaign gegenwärtig noch immer sechs unterschiedliche, miteinander um Relevanz konkurrierende Maßstäbe für die Einhaltung von sozialen Rechten. Dabei steht hinter diesem Wettbewerb nicht allein das Streben nach verfeinerten Operatoren und Messtechniken oder besser ausgebildeten Auditor*innen. Factory Auditing ist eine schnell wachsende Wirtschaftsbranche mit mehreren Milliarden Dollar Umsatz. Diesen generieren sowohl Institutionen wie SAI, welche die jeweiligen Maßstäbe wie z.B. den SA8000 verwalten und die jeweiligen Auditor*innen ausbilden, als auch global agierende Zertifizierungsunternehmen wie der TÜV.
Die Relevanz der Zertifizierungsunternehmen spiegelt sich auch in ihrer Einbeziehung in öffentlich-rechtliche Kontroll- und Genehmigungssystemen wider. So spielen Zertifizierungsstellen bereits seit Mitte der 80er Jahre eine zentrale, neben staatliche Kontrollstellen tretende Rolle im Rahmen des gesamten EU-Produktsicherheitsrechts (Wagner, JZ 2018, 134). Andere Länder, so beispielsweise Brasilien, haben die Privatisierung des Monitorings im Rahmen von Genehmigungsverfahren für menschen- und umweltrechtssensitive Wirtschaftsbereiche wie den Bergbau noch weiter vorangetrieben. In Ländern wie Bangladesch und Pakistan wurden staatliche Betriebsinspektionen faktisch von privaten Auditoren vollständig ersetzt.
Es kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen, dass Zertifizierungsunternehmen ebenso in massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen involviert sind wie Produzenten oder Retailer. Beim eingangs benannten Fall der für den deutschen Textilhersteller KiK produzierenden Textilfabrik Ali Enterprises in Pakistan hatte das Prüfunternehmen RINA im Auftrag des Fabrikeigentümers der Produktionsstätte hohe Sicherheitsstandards zertifiziert – beim nur wenige Wochen später erfolgten Brand starben 258 Arbeiter*innen, weil Fenster vergittert und Notausgänge verschlossen waren. Im Fall des Dammbruchs nahe der brasilianischen Stadt Brumadinho hatte das brasilianische Tochterunternehmen des TÜV SÜD gerade vier Monate zuvor den Damm für stabil erklärt. Beim Dammbruch starben 272 Menschen, der Minenschlamm verseuchte Trinkwasser und Böden der Region. Die Ermittlungen der brasilianischen und deutschen Staatsanwaltschaften deuten darauf hin, dass die Sicherheitsrisiken des Damms beim TÜV-Süd-Konzern bekannt gewesen, und zugunsten guter Beziehungen zum wirtschaftsstarken Bergbauunternehmen zurückgestellt worden sein könnten.
In beiden Fällen führten die Auditierungen und Zertifizierungen nicht zu einer Verbesserung der menschen- und umweltrechtlichen Lage, sondern ermöglichten stattdessen den (Weiter-)Betrieb menschen- und umweltrechtswidriger Produktionsweisen. Eine rechtliche Haftung droht den Zertifizierungsunternehmen nach gegenwärtigem deutschem Recht allenfalls gegenüber den eigenen Vertragspartnern. Eine Haftung gegenüber den in den jeweiligen Produktionsländern lebenden und unmittelbar in ihren Menschenrechten verletzten Personen besteht typischerweise nicht.
Vor diesem Hintergrund ist eine Einbeziehung von Zertifizierungs- und Prüfunternehmen in den Regelungsbereich eines Lieferkettengesetzes, wie es zum Beispiel auch die „Initiative Lieferkettengesetz in ihrem Gutachten fordert, zur Erreichung eines effektiven Menschenrechtsschutzes erstrebenswert.
II.
Sie ist darüber hinaus aber auch von Verfassung wegen erforderlich, jedenfalls aber geboten.
Ein Gesetzesentwurf, der Zertifizierungs- und Auditierungsunternehmen nicht in seinen Regelungsbereich einbeziehen würde, sieht sich dem verfassungsrechtlichen Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit ausgesetzt – würde dann nämlich der verfolgte Zweck des Lieferkettengesetzes überhaupt erreicht, zumindest aber in angemessener Weise gefördert?
Die verfassungsrechtliche Gesetzgebungslehre unterstellt der Legislative, dass sie an ihre Gesetze den Anspruch stellt, auch ohne exekutive Gewaltanwendung tatsächlich beachtet und eingehalten zu werden. Um dem gerecht zu werden müssen Gesetze – so auch ein Lieferkettengesetz – neben allgemeinen Postulaten zum Gerechtigkeitsgehalt auch grundgesetzlichen Mindestanfordernissen entsprechen. Von besonderer Bedeutung ist hier die in einem weiteren Sinne verstandene Verhältnismäßigkeit der Maßnahme: Unabhängig vom konkreten Gesetzestext und den daraus möglicherweise folgenden Eingriffen in Grundrechte von Unternehmen oder anderweitige Verfassungsprinzipien hat der Gesetzgeber bei der Erarbeitung und Ausgestaltung eines Lieferkettengesetzes das gewählte Mittel in ein angemessenes Verhältnis zum verfolgten Zweck zu setzen (zu all dem Schneider, Gesetzgebung 2002, S. 36-45). Dies folgt schon aus dem Gebot der allgemeinen Rechtsstaatlichkeit (BVerfGE 90, 145). Das Mittel des Gesetzgebers muss bei prognostischer Einschätzung überhaupt geeignet sein, den angestrebten Zweck zu erreichen, ihn aber jedenfalls zu fördern (vgl. Maunz/Dürig/P. Kirchhof GG Art. 3 Abs. 1 Rn. 258).
Dabei lassen Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ganz bewusst einen großen, jedoch von der Sachmaterie geprägten Bewertungs- und Entscheidungsspielraum (vgl. BVerfGE 30, 250). Dieser verengt sich, je mehr Informationsmaterial der Prognoseentscheidung zugrunde liegt, und je bedeutender die beeinträchtigten Rechtsgüter sind (Maunz/Dürig/Grzeszick GG Art. 20 VII. Rn. 121-123) Ist insofern schon bei der Gesetzgebung abzusehen, dass der angestrebte Zweck aufgrund des Zuschnitts des Gesetzes nicht gefördert werden kann, ist dieses wenn nicht schon ungeeignet und verfassungswidrig, dann zumindest politisch untauglich und unsachgemäß. Der Gesetzgeber ist vielmehr gerade dann, wenn er besonders gewichtige Ziele verfolgt, gehalten, seine Maßnahmen an der zu erwartenden Effizienz auszurichten (vgl. Karpen, JuS 2016, 577)
Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber sich auch beim Lieferkettengesetz an seiner Zielsetzung zu messen hat.
Strebt er den Schutz der international anerkannten Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten sowohl im öffentlichen Interesse als auch im individuellen Interesse der unmittelbar Betroffenen an, muss er auch in verhältnismäßiger weil erfolgsversprechender Weise regulieren. Die grundlegende Entscheidung, von der bislang verfolgten Politik der freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft abzuweichen und eine rechtliche Verantwortlichkeit der Unternehmen einzuführen, genügt diesen Anforderungen, verspricht sie doch eine Verbesserung der menschen- und umweltrechtlichen Situation entlang der gesamten Produktionskette.
Das so verstandene Verhältnismäßigkeitsgebot gilt aber auch hinsichtlich des zu bestimmenden konkreten Regelungsbereichs des Gesetzes. Insofern hat das Lieferkettengesetz zum Schutz von Umwelt und Menschenrechten gerade solchen Branchen gegenüber zu gelten, die wie der Zertifizierungssektor erwiesenermaßen eine bedeutende mittel- und unmittelbare Bedeutung in Bezug auf internationale Produktionsketten sowie die mit diesen einhergehenden menschen- und umweltrechtlichen Risiken haben. Ohne Prüf- und Zertifizierungsunternehmen in ein Lieferkettengesetz einzubeziehen, droht das vom Gesetz erreichte Schutzniveau mangels effektiver, weil nicht ebenfalls vom Gesetz erfasster Kontrollen und Prüfinstanzen menschen- und umweltrechtlich unzureichend zu bleiben, wie die oben benannten Fälle aus Brasilien und Pakistan stellvertretend anmahnen.
Dass Zertifizierungsunternehmen dabei die menschen- und umweltrechtlichen Schäden oftmals nicht selbst verursachen, rechtfertigt aufgrund des von den Zertifizierern in Anspruch genommenen Vertrauens in die eigene Tätigkeit und die oftmals quasi im öffentlichen Interesse ausgeführten Prüftätigkeiten keinen Ausschluss vom Lieferkettengesetz. In den United Nations‘ Guiding Principles ist die menschenrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen längst auch für Fälle anerkannt, in denen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen vom Unternehmen zwar nicht selbst verursacht wurden, das Unternehmen sich aber nicht in ausreichender Weise um die Verhütung oder Minderung von negativen Auswirkungen auf Menschenrechte bemüht hat, die auf Grund einer Geschäftsbeziehung mit der eigenen Geschäftstätigkeit unmittelbar verbunden sind.
Gerade mit Blick auf die Gatekeeper-Funktion von Zertifizierungsunternehmen ist daher eine gleichrangige Verantwortung von Zertifizierungsunternehmen mit Produzenten und Retailern festzustellen. Dies hat der Gesetzgeber bei der Überführung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in deutsche Haftungtatbestände zu berücksichtigen.
III.
Für darüberhinausgehende legislatives Handeln in Bezug auf die Zertifizierungsbranche bieten die genannten Beispiele auch au