Die Macht der Sonntagsfrage
Sollten wir über ihre Regulierung nachdenken?
Für das Jahr 2024 sind entscheidende Wahlen geplant – unter ihnen die US-Präsidentschaftswahl und die Wahlen zum Europäischen Parlament. In Deutschland werden in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die Landtage gewählt. Wahlumfragen, insbesondere die Sonntagsfrage, sind zu einem integralen Bestandteil von Wahlkämpfen geworden; gleichzeitig steht auch deren Zuverlässigkeit im Zentrum medialer Aufmerksamkeit. Eine Debatte über die Kommunikation und Darstellung von Meinungsumfragen ist in Deutschland dringend notwendig. Eine bindende Selbstverpflichtung der Umfrageinstitute und Medienhäuser wäre eine vielversprechende Lösung.
Die Komplexität der Sonntagsfrage und ihre Auswirkungen
Es kommt häufig vor, dass Umfragen zu den Wahlabsichten der Bevölkerung von tatsächlichen Wahlergebnissen abweichen, wie dies prominent nach den US-Wahlen 2016 und 2020, dem Brexit-Referendum 2016 oder der Sachsen-Anhalt-Wahl 2021 der Fall war. Diese Diskrepanzen führen oft zu Diskussionen über die Zuverlässigkeit und die potenziell ‚schädliche‘ Macht der Sonntagsfrage. Im Zusammenhang mit dem anhaltenden demoskopischen Höhenflug der AfD wurde sogar die Frage aufgeworfen, ob die Umfragen selbst für diesen Anstieg mitverantwortlich sein könnten. Nicht zuletzt hat sich das Landgericht Hamburg mit den Erhebungsmethoden von Meinungsforschungsinstituten beschäftigt, um ein Urteil über deren Repräsentativität zu fällen.
Hintergrund dieser Debatten ist, dass Wahlumfragen nicht nur die Präferenzen der Bevölkerung abbilden, sondern letztere auch beeinflussen können. Die Sonntagsfrage kann somit nicht nur ein hilfreiches Mittel sein, um informierte Wahlentscheidungen zu treffen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass diese Wahlentscheidungen auf ungenauen oder gar fehlerhafteten Sonntagsfragewerten beruhen. Zugleich werden Wahlen oft nur knapp entschieden. Seit 2000 wurde in den Mitgliedsländern der Europäischen Union bei mehr als jeder vierten Parlamentswahl ein Sieg mit einem Vorsprung von weniger als 2,5 Prozentpunkten errungen.
Ob und wie die Sonntagsfrage Wahlergebnisse beeinflusst, ist Gegenstand intensiver Debatten und die Liste potenzieller Effekte ist lang. Hierzu gehören Bandwagon, Momentum, Titanic oder auch Underdog-Effekte. Außerdem gewinnen strategische Wahlentscheidungen angesichts einer sich diversifizierenden Parteienlandschaft und einer zunehmenden Anzahl an Parteien an Bedeutung.
Die Bedeutung dieser Effekte variiert je nach Kontext und Dynamik der jeweiligen Wahlkämpfe. Trotzdem haben sie eines gemeinsam: Sie sind von der Qualität und Aussagekraft der Sonntagsfrage abhängig. Eben diese wird allerdings von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, deren Auswirkungen für Wähler:innen nur schwer abzuschätzen sind. Wie werden die Teilnehmer:innen der Umfragen ausgewählt? Wie repräsentativ sind sie für die Wahlbevölkerung? Wie viele Bürger:innen entscheiden erst am Wahltag, welcher Partei sie ihre Stimme geben? Welche Methoden werden durch Umfrageinstitute angewandt, um mögliche Verzerrungen in den Erhebungen zu korrigieren?
Sonntagsfragen sind mit Vorsicht zu genießen
Die durch Institute und Medien veröffentlichten Umfragewerte suggerieren in der Regel mehr Präzision, als es angesichts dieser Fragen angebracht wäre. Eine Möglichkeit, Wähler:innen auf Teile der Unsicherheiten von Umfragewerten aufmerksam zu machen, ist die Darstellung von Schwankungsbreiten. Einfach gesprochen: Diese zeigen den Bereich an, in dem sich ein Umfragewert mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegt. Schwankungsbreiten liefern zwar kein vollständiges Bild über die Zuverlässigkeit einer Umfrage1), sie unterstreichen allerdings den Fakt, dass Sonntagsfragewerte mit Vorsicht zu betrachten sind.
Schwankungsbreiten finden in der deutschen Berichterstattung nur geringe Beachtung. Oftmals werden diese separat von den Umfrageergebnissen, zum Beispiel in Infoboxen, ausgewiesen. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 haben deutsche Medien Schwankungsbreiten gemäß unserer Daten in 23% ihrer Beiträge erwähnt, explizit dargestellt und besprochen wurden diese aber nahezu nie.
Das untenstehende Beispiel verdeutlicht das Problem. Unter dem Titel „AfD kommt der Union immer näher“ veröffentlichte die Bild am 14. August diesen Jahres Zahlen des Meinungsforschungsinstituts INSA. Hier wird der Rechtsaußenpartei ein Zustimmungszuwachs von 0,5 Prozentpunkten bescheinigt. Ein Urteil, das auf Basis der Schwankungsbreiten der Umfragewerte, unzulässig ist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Differenzen in den Stimmenanteilen der Parteien nicht schlichtweg auf statistische Fehler zurückzuführen sind.2)
Können Schwankungsbreiten Wahlentscheidungen beeinflussen?
In der Regel neigen Medienmacher:innen dazu, sich auch auf geringfügige Veränderungen in Umfragewerten zu stützen, um Dynamiken in der öffentlichen Meinung zu beschreiben. Solche Darstellungen werden jedoch problematisch, wenn Bürger:innen ihr Wahlverhalten nach diesen ausrichten, ohne die den Umfragen inhärenten Unsicherheiten angemessen zu berücksichtigen. In einer kürzlich erschienenen Studie zeigen wir, dass genau dies der Fall sein kann.
Die Studie wurde vor der Bundestagswahl 2021 durchgeführt. In dieser Zeit lagen die CDU/CSU und die Grünen seit Monaten in den Sonntagsfragen aller Umfrageinstitute auf den ersten beiden Plätzen der Wähler:innengunst. Der letztendliche Wahlsieg der SPD ist noch nicht absehbar gewesen.
Wird ein politisches Rennen als offen wahrgenommen, so unsere Ausgangshypothese, sollten mehr Wähler:innen einer der beiden größten Parteien ihre Stimme geben. In solch einer Situation ist nicht nur der Wahlausgang, sondern auch der anschließende Regierungsbildungsprozess, offen. So auch im Fall des lang gesehenen Zweikampfes zwischen den Unionsparteien und den Grünen.
In diesem Kontext wurden den Teilnehmenden unseres Experiments unterschiedliche Umfragen vorgelegt. Für einen Teil der Befragten wurden hierbei die jeweiligen Schwankungsbreiten explizit dargestellt – für einen anderen nicht.
A: Umfrage ohne Schwankungsbreiten (eigene Darstellung)
B: Umfrage mit Schwankungsbreiten (eigene Darstellung)
Unsere Befunde zeigen, dass Bürger:innen unterschiedliche Wahlentscheidungen abhängig von der Darstellung der Schwankungsbreiten treffen. Wurden diese in einem knappen Rennen gezeigt, so tendierten mehr Bürger:innen dazu, der CDU/CSU oder den Grünen ihre Stimme zu geben.
Hinzu tritt, dass diese Unterschiede durch eine entsprechende Interpretation getrieben sind. Der beschriebene Effekt war nur zu beobachten, wenn den Umfragen eine Einschätzung beigefügt wurde, die die Offenheit des Wahlausgangs unter Bezugnahme auf die Schwankungsbreiten unterstrich. Dies betont die besondere Verantwortung, die den Medien in diesem Zusammenhang zukommt.
Veröffentlichungsverbote sind keine Lösung
Dass Umfragen für den politischen Wettbewerb von großer Bedeutung sein können, zeigen auch andere Beispiele. So werden dem ehemaligen österreichischen ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz und zwei Demoskopinnen die Finanzierung und Veröffentlichung geschönter Umfragen aus dem Jahr 2017 vorgeworfen. Unterschiedliche Forschungsarbeiten zeigen, dass nicht nur Wähler:innen von Umfragen beeinflusst werden können, sondern auch Parteien beispielsweise ihre Wahlkampfstrategien an dem Auf und Ab von Umfragewerten ausrichten.
Oft wird die Publikation von Umfragewerten unmittelbar vor Wahlen untersagt. Laut des diesjährigen Berichts der World Association for Public Opinion Research existieren in 46% der 157 weltweit untersuchten Länder sogenannte Blackout Periods. Dass solche Versuche jedoch nicht von Erfolg gekrönt sind, verdeutlicht das Beispiel der französischen Präsidentschaftswahl aus dem Jahr 2017. Hier wurden Umfrageergebnisse in Belgien und der Schweiz veröffentlicht und waren Wähler:innen somit trotz Verbot frei zugänglich.
Ebenso wäre ein Veröffentlichungsverbot vor dem Hintergrund der Freiheit der Berichterstattung der Medien umstritten. Darüber hatte im Zuge der Bundestagswahl 2021 auch der Hessische Verwaltungsgerichtshof in einem Rechtsstreit zwischen dem Bundeswahlleiter und Forsa zu entscheiden. Gegenstand ist die Frage gewesen, ob Sonntagsfragewerte, die auch Informationen zum Wahlverhalten von Briefwähler:innen enthalten, eine unzulässige Veröffentlichung von Wähler:innenbefragungen darstellen würden. Unter Verweis auf Artikel 2 und Artikel 5 des Grundgesetzes entschied das Gericht zugunsten des Meinungsforschungsinstituts.
Kommunikation von Unsicherheiten als zentrale Herausforderung
Das Problem sind nicht die Umfragen selbst, sondern die Art und Weise, wie sie in der öffentlichen Debatte genutzt werden. Doch genau hier liegt die Krux: Medien sollten dazu angehalten werden, die Berichterstattung über Umfragen selbst zu regeln, anstatt solche Entscheidungen den Parlamenten zu überlassen.
Eine wichtige Herausforderung besteht darin, die Bedeutung methodischer Details der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hier sollte die Darstellung von Umfragewerten über die bloße Nennung der Schwankungsbreiten hinausgehen. Ein geeignetes Mittel kann deren graphische Darstellung sein. Auch sollten Umfrageinstitute und folgend auch Journalist:innen andere wichtige Informationen, wie die Anzahl der unentschlossenen Wähler:innen, benennen. So können mögliche negative Effekte auf Entscheidungen der Bürger:innen am Wahltag vermieden werden.
Eine Selbstverpflichtung aller Umfrageinstitute wurde zum Beispiel in Österreich im Jahr 2017 eingeführt. In dieser verständigte man sich auf Mindeststandards zur Veröffentlichung von Ergebnissen der Sonntagsfrage. Konkret legt die Vereinbarung die Nennung unterschiedlicher Details wie der Stichprobengröße, der Erhebungsmethode oder der Schwankungsbreite fest. Dies führte zu einer deutlichen Qualitätssteigerung der durch die Institute publizierten Wahlumfragen.3)
Ein bindendes Arrangement unter Medien und Umfrageinstituten könnte man auch in Deutschland angesichts der anstehenden Europa- und Landtagswahlen etablieren. Auch wenn Umfrageinstitute ihre Erhebungsmethoden zunehmend verfeinern, bleiben einer jeden Sonntagsfrage statistische Fehlerwahrscheinlichkeiten inhärent. Eine transparente Kommunikation dieser ist angesichts der Vielfalt an Faktoren, die die Qualität von Umfragen beeinflussen, von entscheidender Bedeutung. Diese Verantwortung liegt nicht nur bei den Umfrageinstituten, sondern auch bei den Medien, die diese Daten interpretieren und verbreiten.
References
↑1 | Die Schwankungsbreite bildet nicht die Gesamtheit der Unsicherheiten einer Umfrage ab. Mögliche Stichproben- oder Gewichtungsfehler werden nicht dargestellt. Schwankungsbreiten fassen in der Regel also lediglich die Genauigkeit von Umfragewerten anhand der Anzahl der befragten Personen ins Auge. Einer jeden Umfrage ist solch eine Unsicherheit inhärent, da stets nur ein Bruchteil der Bevölkerung befragt wird. |
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↑2 | Gründe für die fehlende Kommunikation dieser Unsicherheiten geben die Medienhäuser teils selbst. In einem FAQ der Hessenschau heißt es, dass die explizite Diskussion von Schwankungsbreiten „schwierig [sei]. Eine Überschrift in der Art ‘CDU sinkt auf Wert zwischen 35 und 41 Prozent’ wäre schwer vermittelbar”. |
↑3 | Eine ähnliche Richtlinie existiert auch in Deutschland. Diese ist jedoch weniger umfangreich als das österreichische Pendant. Beispielsweise werden statistische Fehlertoleranzen lediglich am Rande erwähnt und nicht explizit in den zu dokumentierenden Informationen einer Umfrage gelistet. |
Das ist (wieder einmal) so ein Beitrag, bei dem man sicher sein kann, er würde (jetzt) nicht geschrieben, hätte nicht Rechtsaußen sondern Grün/Rot so einen Lauf. Ja, Transparenz bei Umfragen ist notwendig. Aber jeder Fehler und die Schwankungsbereiten betreffen alle Parteien gleichmäßig. Die Fragestellung und Systematik ist ja identisch. Solche Beiträge erwecken immer ein bisschen den Anschein es kann nicht sein, was nicht sein darf: Entweder sind die Institute zu dämlich oder die Wähler. Die einzig legitime Diskussion hier ist m. E. die (angesprochene) Macht solcher Umfragen im Sinne einer self fulfilling prophecy.