Distanzschutz in der Ersten Gewalt
Selbstbegünstigung als Herausforderung des Verfassungsstaats
Es ist ein auf den ersten Blick eigenartiger Befund. Während im Bereich der Exekutive und Judikative Entscheidungen in eigener Sache Gegenstand von Ausschließungs- und Befangenheitsregelungen sind und damit als Problem normativ umfangen und im Grundsatz auch problemadäquat gelöst werden, scheinen vergleichbare Normen für die erste Gewalt zu fehlen. Schon früh hatte Dieter Grimm1) deshalb im Hinblick auf das Phänomen eigeninteressierter Gesetzgebung von einer grundsätzlichen Schwäche der Verfassung gesprochen. Da insoweit (korrigierende) verfassungsrechtliche Regelungen fehlten, die klassischen Befangenheitsregelungen als untauglich ausschieden, weil andernfalls ein nicht hinnehmbares Kompetenzloch entstünde, und auch das Bundesverfassungsgericht als Kontrollinstanz in diesem Bereich nur begrenzte Wirksamkeit entfalten könne, müssten mit der eigeninteressierten Gesetzgebung verbundene Verwerfungen als ausweglos hingenommen werden. Demgegenüber bestritt etwa Martin Kriele2) schon die Existenz des Problems mit der Überlegung, im politischen Prozess existierten nur „nautische Positionen“, eine neutrale Instanz sei deshalb unmöglich. Auf dieser Linie nimmt die herrschende Meinung – für die ich, weil die Diskussion auch auf das Wahlrecht bezogen wird, Martin Morlok3) als einen ausgewiesenen Kenner des Wahlrechts nennen möchte – den Standpunkt ein, im Bereich der Demokratie könne es keinen Distanzschutz geben. Kerngedanke der Demokratie sei Selbstbestimmung. Das Volk – und dann eben auch die Volksvertreter – entschieden aber gleichsam immer in eigener Sache. Ausschließungs- oder Befangenheitsvorbehalte könne es hier nicht geben.
Seit langem gibt es indes eine Diskussion darüber, ob und wie die Befugnisse eines demokratisch gewählten Gesetzgebers in „prekären“ Entscheidungssituationen jenseits der explizit formulierten verfassungsrechtlichen Bindungen begrenzt werden sollten bzw. könnten. Die damit zusammenhängenden Probleme werden plastisch dem Fragenkreis der Entscheidung in eigener Sache zugeordnet. Allerdings ist dieser namentlich von Hans Herbert von Arnim4) mitgeprägte Begriff missverständnisträchtig, gefahrgeneigt und umstritten. Weder besteht Einigkeit, dass die Figur der Entscheidung in eigener Sache im Geltungsbereich des Demokratieprinzips überhaupt Bedeutung erlangen kann, noch ist klar, unter welchen Voraussetzungen eine inkriminierte Entscheidung in eigener Sache vorliegt und wie den mit einer Entgrenzung des Topos verbundenen Gefahren begegnet werden kann. Zu diesem Dreiklang soll ein kurzer Diskussionsbeitrag geleistet werden.
Entscheidung in eigener Sache und Demokratieprinzip
Dass es im Bereich des demokratischen Prinzips keine Verbote des Entscheidens in eigener Sache gebe und geben könne, trifft allerdings nicht zu. Das zeigen namentlich schon die in allen Landesverfassungen bestehenden sog. Finanzvorbehalte, die auf Bundesebene nur deshalb nicht existieren, weil das Grundgesetz eben gar keine substantiellen direktdemokratischen Elemente enthält. Die Finanzvorbehalte stellen im Bereich direktdemokratischer Selbstbestimmungsvariationen (Volksbefragung, Volksentscheid, Volksgesetzgebung) Ausschlussklauseln dar. Bei finanzwirksamen Maßnahmen halten die Landesverfassungen Regelungen bereit, nach denen ausdrücklich Volksinitiative oder Volksbegehren, teilweise auch lediglich den Volksentscheid im Bereich finanzwirksamer Gesetze unzulässig sind. Begründet wird dies mit einer bei finanzwirksamen Maßnahmen besonders bestehenden Gefahr der Selbstbegünstigung; es wird befürchtet, das Volk könne bei einer „Entscheidung in eigener Sache“ geneigt sein, seine Lasten (wie Steuern oder Abgaben) zu senken und seine Vorteile (z.B. staatliche Geldleistungen oder Dienstbezüge) zu erhöhen.5) Manche haben sogar gemeint, Grund der Finanzvorbehalte sei die Besorgnis, dass die Abstimmenden das „notwendige Minimum staatsbürgerlicher Gemeinwohlorientierung“ nicht aufbringen würden und sich „ganz nach ihrer Eigensucht“ richteten.6)
Auch wenn namentlich der pejorative Zungenschlag stört und man sich bei unbefangener Betrachtung fragen mag, warum all diese Gefahren bei parlamentarischen Entscheidungen nicht bestehen sollten, lassen sich die Finanzvorbehalte als Verkörperung eines Grundgedankens demokratischen Distanzschutzes verstehen und belegen, nämlich dass der Grundsatz des nemo iudex in causa sua dem demokratischen Prinzip weder fremd noch grundsätzlich damit inkompatibel ist. Doch wie der Durchsetzung von Partikularinteressen der Abgeordneten begegnen, wenn insoweit ein explizit normativ verankertes Entscheidungsverbot fehlt?
Entscheidung in eigener Sache und verfassungsstaatlicher Distanzschutz
Neben den Finanzvorbehalten der Landesverfassungen kennt aber auch das Bundes(verfassungs)recht einen im Bereich der ersten Gewalt angesiedelten Distanzschutz (etwa, dass Änderungen der laufenden Legislaturperiode als unzulässig angesehen werden, dass die parlamentarische Wahlprüfung verfassungsrechtlich nur „gehalten“ wird, weil es eine nachfolgende verfassungsgerichtliche Rechtskontrolle gibt, dass Abgeordnete, deren Mandat bestritten wird, im parlamentarischen Wahlprüfungsverfahren nicht entscheidungsbefugt sind u.a. mehr).
Man hat versucht, aus diesen und anderen Regelungskomplexen und unter Berufung auf John Rawls’ kontraktualistischer Fairnesskonstruktion ein „allgemeines“ verfassungsstaatliches Distanzgebot zu begründen, das (bestimmte) parlamentarische Entscheidungen in eigener Sache ausschließen kann.7) Dieser Ansatz kann hier nicht nachgezeichnet werden. Rawls berühmte Schleierkonstruktion hat aber Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion und auch die Rechtsprechung des BVerfG gefunden. Hinter dem Bild vom „Schleier des Nichtwissens“ steht die „einfache und einsichtige Überlegung“ (Wolfgang Kersting8)), dass jemand, der Verfassungsprinzipien auszuwählen hat, dabei aber die eigene Interessenlage nicht kennt und damit auch nicht weiß, wie sich die verschiedenen Entscheidungsalternativen auf seine spezifische Situation auswirken, notgedrungen eine Wahl unter allgemeinen Gesichtspunkten vornehmen muss. Vereinfacht liegt der Schleierkonstruktion die Vorstellung einer modellierten Entscheidungssituation zugrunde. Da in ihr die Entscheidenden nicht wüssten, mit welchen Auswirkungen in Bezug auf den Entscheidungsgegenstand auf ihre Lebensumstände, ihren Status, ihre Gesundheit, ihr Fortkommen etc. jeweils zu rechnen sei – sie also als Bettler oder König betroffen sein könnten – sei anzunehmen, dass von mehreren Entscheidungsvarianten diejenige gewählt würde, die auch den Interessen des vulnerabelsten Mitglieds Rechnung trage. Die Schleierkonstruktion greift mithin das Spannungsverhältnis von Eigeninteresse und Gemeinwohlbildung auf und will es dialektisch auflösen.
Sie lässt sich vor diesem Hintergrund als eine bildhafte Umschreibung des Distanzgebots begreifen. Demnach stellt auch der demokratische Verfassungsstaat einen Distanzschutzstaat dar, der legitimatorisch vom Abstand zwischen Interesse und staatlicher Entscheidung lebt. Dieser Distanzschutzgedanke weist eine verfahrensmäßige und eine inhaltliche Komponente auf. Dem verfahrensmäßigen Distanzansatz liegt die Überlegung zugrunde, dass ein bestimmtes Verfahren – etwa der Prozess der parlamentarischen Auseinandersetzung im Verlaufe eines Gesetzgebungsverfahrens – im Grundsatz hinreichende Distanz zwischen den Interessen der Handelnden und der Entscheidung sicherstellen kann. Inhaltlicher Distanzschutz setzt an der Überlegung an, dass bei bestimmten Entscheidungskonstellationen die Wahrung des legitimatorischen Abstandes bei den Entscheidenden bei einer Beteiligung am Entscheidungsverfahren nicht erreicht werden kann, so dass auf Entscheidungsverbote zurückgegriffen werden muss. In der Konsequenz verliert staatliches Handeln, das durch Distanzverlust gekennzeichnet ist, seine Legitimität.
Auch wenn man diesen Gedanken eines aus dem Modell eines Vertragsschlusses im Urzustand entwickelten verfassungsstaatlichen Distanzgebots akzeptiert und ihn auch auf die Gesetzgebung überträgt, bleiben allerdings sowohl die Voraussetzungen einer inkriminierten Entscheidung in eigener Sache unklar als auch Entgrenzungsgefahren bestehen. Denn wie kann, wenn Parlamentarier praktisch immer mehr oder minder in eigener Sache entscheiden, eine inkriminierte Entscheidung in eigener Sache überhaupt detektiert und in ihrem Anwendungsbereich begrenzt werden?
In der Tat sind Abgeordnete als Amtsträger der Fremdnützigkeit bei ihrer Aufgabenwahrnehmung verpflichtet. Zugleich sollen und dürfen sie aber auch eigene Sonderinteressen in den parlamentarischen Repräsentationsprozess einbringen. Ihre subjektiven Interessen, Neigungen, Wertungen, Erwartungen und Wünsche sind involviert und sollen auch gar nicht unberücksichtigt bleiben. Dabei wird im Regelfall davon ausgegangen, dass die Durchsetzung „störender“ Sonderinteressen durch das An- und Abgleichen der divergenten Interessen im Verlaufe der repräsentativen Entscheidungsfindung verhindert wird. Das Gelingen dieses Prozesses ist von bestimmten Funktionsvoraussetzungen abhängig. Der kompetitive Ausgleichsgedanke wird namentlich dann unterminiert, wenn die Entscheidungsträger eine (strukturell) gleiche Interessenlage aufweisen und von der Entscheidung nicht nur indirekt, sondern direkt betroffen sind.
Referenzgebiete
Als Paradebeispiel einer solchen inkriminierten Entscheidung in eigener Sache lässt sich die Abgeordnetenfinanzierung anführen. Hier besteht mit Blick auf die oben beschriebenen Funktionsvoraussetzungen das strukturelle Defizit darin, dass alle Abgeordneten das gleiche Interesse haben und dass alle von der Entscheidung in gleicher Weise unmittelbar betroffen sind. Die Ausfilterung störender Sonderinteressen ist gleichsam lahmgelegt. Und trotz etlicher Reformen der letzten Jahre zeigt sich hier die strukturelle Dysfunktionalität einer Entscheidung in eigener Sache, namentlich bei der Gewährung einer Altersentschädigung, die nicht – wie das BVerfG gefordert hatte – lediglich begrenzt gewährt wird und darum unangemessen privilegierend wirkt.
Überhaupt scheint in den letzten Jahren die Sensibilität gegenüber parlamentarischen Entscheidungen, die eine hinreichende Distanz zum Gegenstand oder den Folgen der Entscheidung vermissen lassen, zuzunehmen. Auch andere, der Nachhaltigkeit besonders verpflichtete Referenzgebiete ließen sich dem Themenkreis zuordnen, beispielsweise die Staatsverschuldung oder der Klimaschutz. Hier sind die Auswirkungen freilich indirekter, liegen etwa im Bereich des Klimaschutzes oder der Staatsverschuldung weniger in unmittelbar statusrelevanten Gewinnen als vielmehr in der Externalisierung von Kosten.
Der vom BVerfG9) unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ als Distanzgebot ins Zentrum gerückte Gedanke ist aber vergleichbar. Weil die gesetzliche Konstruktion die Durchsetzung störender Eigeninteressen des Gesetzgebers (!) nicht verhindern konnte, verlangte das Gericht beim Erlass des Finanzausgleichgesetzes die „Abschirmung“ störender „aktuelle(r) Finanzierungsinteressen, Besitzstände und Privilegien“. Obschon damit kein „Schleier des Nichtwissens“ über die Gesetzgebung des Finanzausgleiches gelegt werden könne, sei eine zeitliche Abschichtung als Distanzschutz notwendig.
Auch die dem Klimabeschluss zugrunde liegende Konstruktion einer intertemporalen Freiheitssicherung, die künftige und höhere Freiheitsbelastungen schon in die gegenwärtige Verhältnismäßigkeitsprüfung einstellt, passt ebenfalls gut zur Schleierkonstruktion und der Überlegung, ob eine Klimaschutzregelung auch dann konsensfähig wäre, wenn unter dem Schleier verborgen wäre, ob der Zustimmende auf einer künftig überfluteten Insel, einem vollständig ausgetrockneten Landstrich oder einer vom Klimawandel (zumindest noch) weitgehend verschont gebliebenen Gegend lebte.
Entgrenzungsfragen
Die Figur der Entscheidung in eigener Sache bedarf aber nicht nur der Bestimmung ihrer Anwendungsvoraussetzungen. Sie fordert auch – und zwar gerade im Interesse einer ihr wie auch immer zugebilligten Steuerungswirkung – dass Entgrenzungstendenzen entgegengetreten wird. Denn der Vorwurf, es liege eine inkriminierte parlamentarischen Entscheidung in eigener Sache vor, weist eine Schwäche auf. Er ist tendenziell uferlos und geeignet, gegenüber jeder missliebigen Entscheidung in Ansatz gebracht zu werden. Es drohen – namentlich bei Verzicht auf das Eingrenzungsmerkmal der Unmittelbarkeit – die Grenzen der Anwendung eines „Distanzschutzes“ zu verwischen, so dass das „Verbot des Entscheidens in eigener Sache“ jede Operationalität verliert bzw. gleichsam umgekehrt, gegenüber jeder missliebigen Entscheidung in Ansatz gebracht werden kann.
Das zeigt sich etwa dann, wenn – wie das kürzlich Sophie Schönberger10) getan hat – die Wahlgesetzgebung als das „Paradebeispiel des Dilemmas der `Entscheidung des Parlaments in eigener Sache’“ bezeichnet wird. Zur Begründung führte sie aus, „mit den gesetzlichen Bestimmungen über das Wahlrecht entscheiden die Abgeordneten selbst darüber, nach welchen Regeln sie ihre Mandate erwerben und wie die Stimmen der Wählerinnen und Wähler in politische Macht umgesetzt werden“. Damit realisiert sich indes die mit dem Topos der „Entscheidung in eigener Sache“ im Bereich des Demokratieprinzips verbundene Entgrenzungsgefahr vollständig. Es ist dann einfach jede Mehrheitsentscheidung eine Entscheidung in eigener Sache. Für die Figur der Entscheidung in eigener Sache bleibt freilich kein eigenständiger Anwendungsbereich, auch Rechtsfolgen werden nicht thematisiert.
Es droht – was sicher nicht intendiert ist – allein ein mit der Entscheidung in eigener Sache häufig verbundener antiparlamentarischer Reflex übrig zu bleiben. Auch deshalb muss betont werden: Es geht nicht um eine Geißelung einer Selbstbedienungsmentalität, sondern um die Vermeidung einer dysfunktionalen Selbstbedienungskonstellation. Sie ist im Wahlrecht gerade nicht gegeben. Denn im Wahlrecht entscheidet eine parlamentarische Mehrheit, bisweilen (gleichsam, wenn es schlecht läuft) auch gegen die Opposition, von einer strukturell bedingten Interessengleichheit kann aber schon bei Koalitionen kaum die Rede sein. Auch ist das Wahlrecht bis in die jüngste Vergangenheit nicht von einem strukturellen Mangel gekennzeichnet. Seit dem Bestehen der Bundesrepublik gab es innerhalb von zwanzig Legislaturperioden bereits 25 Änderungen des Bundeswahlgesetzes. Unter seiner Geltung hat es in der Bundesrepublik sechs Machtwechsel gegeben, unter dem von den Parlamenten geschaffenen wahlrechtlichen Machterwerwerbsregelungen haben es auf Bundes- und Landesebene neue Parteien in die Parlamente geschafft, mit den Parteien „Bündnis 90/Die Grünen“, „Die Linke“ oder etwa den „Freien Wählern in Bayern haben Newcomer auf Bundes- oder Landesebene auch politische Verantwortung übernehmen können. Würde man es in einer parlamentarischen Demokratie für die Annahme einer Entscheidung in eigener Sache demgegenüber schon ausreichen lassen, dass die Mehrheit entschieden hat, gäbe es nun wirklich nur noch Entscheidungen in eigener Sache. Es verwundert daher auch nicht, dass das BVerfG nur (noch) davon spricht, es handele sich bei der Wahlgesetzgebung „gewissermaßen“ um eine Entscheidung in eigener Sache. Diesen Unterschied zu betonen ist wichtig, weil einer inkriminierten Entscheidung in eigener Sache an sich ein Entscheidungsverbot korrespondiert, das aber im Wahlrecht nicht Platz greifen kann; hier muss das Parlament entscheiden. Dem kann – nebenbei bemerkt – für die Abgeordnetenfinanzierung auch deshalb nicht das Wort geredet werden, weil das Abgeordnetenfinanzierungsrecht von einem zusätzlichen Defizit gekennzeichnet ist. Es gilt eine – wie ich im Anschluss an Joseph Hellers berühmten Antikriegsroman formulieren möchte – Catch 22-Regel. In der Abgeordnetenfinanzierung gilt, dass wer beschwert ist, nicht klagegebefugt und wer klagebefugt, nicht beschwert ist.
Spielregeln, Schiedsrichter und Fouls
Das ist im Wahlrecht nicht der Fall, und Uwe Volkmann hat zu Recht auf die Schiedsrichterrolle des BVerfG in diesem Bereich hingewiesen. Doch gibt die Rolle als Schiedsrichter nur die Befugnis zu pfeifen, klärt aber nicht, wann gepfiffen werden soll. Es bleibt die Frage, wann ein Wahlrecht so gestaltet ist, dass einzuschreiten ist und nach welchen Maßstäben sich das richtet.
In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das BVerfG eine angereicherte Prüfungsdichte in die Prüfung der Einhaltung der Wahlrechtsgrundsätze, namentlich der Wahlgleichheit eingehängt, die nach allgemeiner Meinung und namentlich der Rechtsprechung freilich systemgebunden zu interpretieren ist. Die dadurch aufgeworfenen Fragen lassen sich an der aktuellen Reform des Wahlrechts aufzeigen.
Mit ihr wird nach der explizit geäußerten Annahme des Gesetzgebers11) ein Systemwechsel hin zu einem „reinen“ Verhältniswahlsystem bewirkt. Gibt es bei einer fundamentalen Änderung der Spielregeln Bindungen, denen der Gesetzgeber unterliegt? Aus der Schleierkonstruktion könnten sich zwei Aspekte fruchtbar machen lassen. Unterstellt, die aktuelle Reform bewirke – was nicht unumstritten ist – einen Systemwechsel, darf damit keine einseitige Benachteiligung der Opposition, also der gegnerischen Mannschaft bewirkt werden. Für diejenigen, die die Entscheidung über das Wahlrecht als Entscheidung in eigener Sache qualifizieren, dürfte das an sich naheliegend sein, jedenfalls wenn aus Formel Entscheidung in eigener Sache überhaupt irgendeine Konsequenz gezogen werden sollte und sie nicht lediglich lautmalerisch verwendet wird. Ein Systemwechsel, mit dem eine eklatante Benachteiligung der Oppositionsparteien einhergeht, konfligiert mit dem skizzierten Fairnessgedanken. Ob das durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken auslöst, wird letztlich das BVerfG klären.
Wenn die Entscheidung für ein (neues) Wahlsystem ein Stück materiellen Verfassungsrechts darstellt, was das BVerfG für die Wahlsystementscheidung immer wieder herausgestellt hat, dann bietet es sich an, einem Systemwechsel unter Distanzschutzgesichtspunkten besondere Beachtung zu schenken. Diskutabel wäre ein zeitlicher Distanzschutz, etwa ein Wirksamwerden erst zur übernächsten Wahlperiode. Denkbar wäre auch, für Systemwechsel qualifizierte Mehrheiten zu fordern. Immerhin war es jahrzehntelang Konsens, schon bloße Systemmodifikationen des Wahlrechts möglichst im Konsens zu finden.
Und noch ein letzter Gedanke: Ein Systemwechsel, der mit strukturellen Benachteiligungen einhergeht, sollte jedenfalls nicht in Betracht gezogen werden, wenn den Anlass des gesetzgeberischen Handelns nur ad nauseam vorgebrachte Gefahren bilden.
References
↑1 | Schneider/Zeh/Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 6 Rn. 41. |
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↑2 | Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 237. |
↑3 | Wieland/Morlok, Entscheidungen in eigener Sache, 2011, S. 29. |
↑4 | Schneider/Zeh/v. Arnim, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 16 Rn. 28; ders., Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, 1993. |
↑5 | Aus der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung etwa BayVerfGH, BeckRS 1976, 1474, Rn. 108 „…Gefahr, dass Interessengruppen den von ihnen vertretenen Bürgern Sondervorteile durch Volksbegehren verschaffen wollen.“; vgl. auch Hartmann/Mann/Mehde/Mann, Landesrecht Niedersachsen, 4. Aufl. 2023, § 1 Rn. 61 „…wird befürchtet, die Entscheidung der Stimmbürger über finanzwirksame Gesetze werde eher unsachlich nach persönlichen Vorteilserwägungen, nicht aber im objektiven Interesse des Gemeinwohls getroffen.“. |
↑6 | Schneider, Gesetzgebung, 1991, Rn. 178. |
↑7 | Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, 2007. |
↑8 | Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 269. |
↑9 | BVerfGE 101, 158 (218). |
↑10 | S. Schönberger, NVwZ 2023, 785. |
↑11 | BT-Drs. 20/5370, S. 12 „Mit der Entscheidung für ein reines Verhältniswahlsystem…“; vgl. auch BT-Drs. 20/6015, S. 14, wo die Auffassung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen referierend mitgeteilt wird, „Durch diese Reform zum Verhältniswahlrecht… “. |