18 April 2018

„Doomsday“ für das kirchliche Arbeitsrecht?

Am 17. April 2018 hat der EuGH in der Rechtssache Egenberger entschieden, dass kirchliche Arbeitgeber nicht bei jeder Stelle von Bewerbern mit Verweis auf ihr Selbstbestimmungsrecht eine Religionszugehörigkeit verlangen können, sondern vielmehr eine gerichtliche Überprüfung ihrer Entscheidung hinnehmen müssen. Im Rahmen dieser gerichtlichen Überprüfung müssen die staatlichen Gerichte untersuchen, ob die von der Kirche aufgestellten beruflichen Anforderungen im Hinblick auf das kirchliche Ethos „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sind. Damit stellt der EuGH das vom Bundesverfassungsgericht bislang stets hoch gehaltene Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Hinblick auf ihr Selbstverständnis in Frage, was einen Paradigmenwechsel im nationalen kirchlichen Arbeitsrecht bedeuten könnte, welcher sich freilich – wenngleich dies bislang gerne ignoriert wurde – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR schon länger angedeutet hätte.

Die konfessionslose Klägerin Vera Egenberger hatte sich auf eine Stelle des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung Deutschland beworben. In der Stellenanzeige wurde die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder einer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche vorausgesetzt. Vera Egenberger bekam die Stelle nicht, was in ihren Augen daran lag, dass sie keiner Religionsgemeinschaft angehört. Sie erhob daraufhin Klage vor den deutschen Arbeitsgerichten auf Zahlung einer Entschädigung von ca. 10.000 € wegen Diskriminierung aus Gründen der Religion.

Das Bundesarbeitsgericht legte schließlich dem EuGH die Vorschrift des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG zur Auslegung vor. Danach können die Mitgliedstaaten in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen vorsehen, die einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Der in Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ergangene § 9 Abs. 1 AGG hingegen erlaubt eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, den ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch dann, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt. Damit entscheiden nach § 9 Abs. 1 1. Var. AGG vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der genannten Kriterien wegen der Selbstbestimmungsgarantie der Religionsgemeinschaften auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt, die Religionsgemeinschaften selbst, ob eine bestimmte Religion eines Beschäftigten eine berufliche Anforderung angesichts ihres Ethos darstellt, während Art. 4 Abs. 2  der Richtlinie 2000/78/EG für die Frage der Zulässigkeit einer Unterscheidung aus Gründen der Religion allein auf die Art der konkreten Tätigkeit des Beschäftigten unter Berücksichtigung des kirchlichen Ethos rekurriert. Um genau die erste Variante des § 9 Abs. 1 AGG ging es in dem Verfahren vor dem EuGH.

Generalanwalt Tanchev hatte in seinen Schlussanträgen die Auffassung vertreten, dass kirchliche Arbeitgeber nicht selbst bestimmen könnten, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte“ berufliche Anforderung angesichts seines Ethos darstelle (Rn. 101). Zwar müsse die gerichtliche Überprüfung des kirchlichen Ethos begrenzt sein, doch bedeute dies nicht, dass das nationale Gericht der Verpflichtung enthoben wäre, die fraglichen Tätigkeiten zu würdigen, um zu klären, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person eine „wesentlich[e], rechtmäßig[e] und gerechtfertigt[e[“ berufliche Anforderung sei (Rn. 110).

Dieser Auffassung hat sich der Gerichtshof in seinem Urteil nunmehr angeschlossen. Er geht davon aus, dass nach der Richtlinie 2000/78/EG eine Abwägung zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und dem Recht der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden, stattfinden müsse, die der gerichtlichen Überprüfung unterliege. Verlange eine Kirche oder eine andere Organisation, deren Ethos auf religiösen oder weltanschaulichen Grundsätzen beruhe, für eine zu besetzende Stelle die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, dürften die staatlichen Gerichte überprüfen, ob das Erfordernis der Religionszugehörigkeit für die Position „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sei (Rn. 45 f.). Den staatlichen Gerichten stehe es zwar grundsätzlich nicht zu, über das der fraglichen beruflichen Anforderung zugrunde liegende Ethos als solches zu entscheiden (Rn. 64), doch sie hätten zu prüfen, ob die entsprechende berufliche Voraussetzung notwendig und angesichts des Ethos der betreffenden Kirche auf Grund der Art der konkreten beruflichen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung objektiv geboten und darüber hinaus insgesamt verhältnismäßig sei (Rn. 65 ff.). Abschließend erinnert der EuGH daran, dass die nationalen Gerichte § 9 Abs. 1 GG richtlinienkonform auszulegen hätten bzw., falls dies nicht möglich sei, die Vorschrift wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht mehr angewendet werden dürfe (Rn. 82), was als deutliches Signal an die deutschen Gerichte gewertet werden kann, die Vorgaben des EuGH auch tatsächlich zu beachten.

Für die Kirchen bedeutet das Urteil des EuGH, dass sie das Recht zur Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion nur dann haben, wenn es einen objektiv nachprüfbaren, unmittelbaren Zusammenhang gibt zwischen der von ihnen als Arbeitgeber aufgestellten beruflichen Anforderung und der in Rede stehenden Tätigkeit, was letztlich auf eine gerichtlich überprüfbare Differenzierung zwischen „verkündigungsnahen“ und „verkündigungsfernen“ Tätigkeiten hinausläuft, eine Unterscheidung, die das Bundesverfassungsgericht bisher vehement abgelehnt hat.

Droht nun eine offene Konfrontation zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht, mit dem Bundesarbeitsgericht zwischen allen Stühlen, das vor der Mammutaufgabe steht, die Vorgaben aus Luxemburg mit dem nationalen Verfassungsrecht in Einklang zu bringen? Oder steht gar das Ende für das kirchliche Arbeitsrecht in seiner bisherigen Form bevor?

Nein, nicht unbedingt. Klar ist zwar, dass nach dem Egenberger-Urteil die Kirchen bei Einstellungen künftig (zu Recht!) nicht mehr allein unter Berufung auf ihr Selbstbestimmungsrecht aus Gründen der Religion diskriminieren dürfen, doch völlig neu ist der Gedanke der gerichtlichen Nachprüfbarkeit kirchlicher Entscheidungen im Arbeitsrecht sowie eine Differenzierung nach der Art der konkret ausgeübten Tätigkeit nicht. So hatte der EGMR bereits im Jahr 2010 in der Rechtssache Schüth angenommen, dass eine gerichtliche Überprüfung einer Kündigung durch einen kirchlichen Arbeitgeber erstens zulässig sei und zweitens eine Berücksichtigung der Interessen eines gekündigten Arbeitnehmers nur dadurch erfolgen könne, dass auch dessen Stellung im Kontext des Verkündigungsauftrags der Kirche mit berücksichtigt würde. Viel mehr verlangt nun auch der EuGH nicht. Eine Lösungsmöglichkeit für das Bundesarbeitsgericht könnte darin bestehen, den konkreten Tätigkeitsbezug zwar zu verlangen, die Tätigkeitsbeschreibung ihrerseits aber wiederum im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften auszulegen, was sich zumindest in Grenzfällen zu Gunsten des kirchlichen Arbeitgebers auswirken und den berechtigten Interessen der Kirchen bei der Personalauswahl Rechnung tragen könnte. Im Übrigen sind die Kirchen selbst mittlerweile durchaus bereit, zwischen „verkündigungsnahen“ und „verkündigungsfernen“ Tätigkeiten zu unterscheiden – wenn auch nur mit der Brille des eigenen Ethos. So differenziert die Grundordnung der katholischen Kirche bei den Konsequenzen von Loyalitätspflichtverletzungen nunmehr ausdrücklich zwischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mit pastoralen und katechetischen Aufgaben einerseits und sonstigem Personal andererseits, was eine gewisse Offenheit für eine Absenkung der Anforderungen gegenüber dem „nicht-verkündigungsnahen“ Personal erkennen lässt.

Rechtliche Relevanz wird die Entscheidung vor allem in Grenzbereichen zwischen „verkündigungsnaher“ und „verkündigungsferner“ Tätigkeit entfalten und insoweit zu einer stärkeren Kontrolle der Einstellungsvoraussetzungen kirchlicher Arbeitgeber führen. Von einem „Doomsday“ für das deutsche kirchliche Arbeitsrecht kann aber insoweit keine Rede sein, zumal sich der EuGH eindeutig zur grundsätzlichen Unüberprüfbarkeit des kirchlichen Ethos an sich bekannt hat. Jenseits der rechtlichen Relevanz der Thematik fragt man sich aber, wie praxisrelevant die Problematik für die sog. „verkündigungsfernen“ Bereiche wirklich ist, insbesondere vor dem Hintergrund des stetigen Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder einerseits und des steigenden Bedarfs an Personal in kirchlich betriebenen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kindertagesstätten andererseits. Bereits heute wird von katholischer Seite in der Mehrheit der deutschen Diözesen bei der Einstellung von Alten- und Krankenpflegepersonal oder von Betreuungspersonal im Erziehungsbereich schlicht deshalb gar nicht mehr nach der Konfession gefragt, weil andernfalls offene Stellen überhaupt nicht mehr besetzt werden könnten. Wenn das Egenberger-Urteil diesbezüglich zu einer Vereinheitlichung der Einstellungspraxis beitragen könnte, wäre dies nicht das Schlechteste.


SUGGESTED CITATION  Edenharter, Andrea: „Doomsday“ für das kirchliche Arbeitsrecht?, VerfBlog, 2018/4/18, https://verfassungsblog.de/doomsday-fuer-das-kirchliche-arbeitsrecht/, DOI: 10.17176/20180419-201727.

4 Comments

  1. Peter Camenzind Thu 19 Apr 2018 at 00:11 - Reply

    Es kann nicht “wegen der Religion” zwischen Religionsanschauungen entschieden sein. Vielmehr kann zwischen einer religiösen Grundüberzeugung und einer zum Ausdruck gebrachten dem teils bewusst gerade widersprechenden Anti-Überzeugung entschieden sein. Es kann also nicht “wegen der Religion”, sondern “wegen der Anti-Religion” und daher außerhalb europäischer Vorgaben entschieden sein.
    Eine zum Ausdruck gebrachte, teils widersprechende anti-religiöse Grundhaltung kann selbst eine negative Religionsfreiheit diskriminieren.
    Ein Interessenausgleich kann für ein grundsätzliches somit nicht diskriminierendes verhältnismäßiges Gegenrecht auf Nichtbeschäftigung sprechen.
    Ein kirchliches Vorgehen außerhalb kirchlicher Grundüberzeugung kann keine kirchliche Berechtigung besitzen.
    Danach kann eine dem gerade bewusst widersprechende Anti-Überzeugung nur verhältnismäßig bedingt mit einem europäisch gleichen Beschäftigungsrecht vereinbar scheinen.

  2. Hans A Thu 19 Apr 2018 at 11:03 - Reply

    Hier mal ein konkretes Beispiel, welche Konsequenzen die legale Diskriminierung durch die Kirchen in Verbindung mit der teilweise bestehenden Monopolstellung hatte und teilweise auch weiter haben wird:

    In Espelkamp, einer Mittelstadt in NRW mit 25.000 Einwohnern und 72 % evangelischen Schülern, gibt es genau ein Gymnasium. Dieses ist in der Hand der evangelischen Kirche. Ich hätte mich dort einmal fast als Mathematiklehrer beworben. Allerdings habe ich dann sicherheitshalber vorher noch einmal angerufen und zu meiner Überraschung erfahren, dass die Kirche auch in diesem Bereich offen diskriminieren durfte und davon auch Gebrauch machte.

    In NRW ist diese Diskriminierung sogar im Schulgesetz geregelt, das damals gar keine Ausnahmen erlaubte. (Seit 2015 sind sie erlaubt, wenn Stellen sonst nicht zu besetzen sind.) In NRW können außerdem Bekenntnisschulen Schüler aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu Gunsten von weit weg lebenden Schülern der passenden Konfession ablehnen.

    Da die Kosten auch konfessioneller Schulen voll vom Staat getragen werden, handelt es sich aus meiner Sicht um ein steuerfinanziertes lokales kirchliches Monopol auf Bildung und auf den Gymnasiallehrer-Beruf. Es ist mir rätselhaft, wie die Finanzierung eines evangelischen Bildungsmonopols auch durch die Steuern der katholischen und atheistischen Minderheit des Ortes mit der Religionsfreiheit vereinbar sein soll.

  3. Peter Camenzind Thu 19 Apr 2018 at 17:15 - Reply

    Bei öffentlicher Aufgabenerfüllung kann anderes gelten.

  4. Law as Integrity Mon 23 Apr 2018 at 17:23 - Reply

    “Jenseits der rechtlichen Relevanz der Thematik fragt man sich aber, wie praxisrelevant die Problematik für die sog. „verkündigungsfernen“ Bereiche wirklich ist, insbesondere vor dem Hintergrund des stetigen Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder einerseits und des steigenden Bedarfs an Personal in kirchlich betriebenen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kindertagesstätten andererseits.”

    Nun, offenbar sehr relevant. Siehe z.B. hier: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0340-0425-2017-1-81/the-times-are-they-a-changin-die-besondere-stellung-konfessioneller-wohlfahrtsverbaende-in-zeiten-gesellschaftlicher-pluralisierung-jahrgang-45-2017-heft-1?page=1

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