22 August 2025

Ehre, wem Kritik gebührt?

§ 188 StGB und die verfassungsrechtlichen Grenzen des strafrechtlichen Ehrschutzes von Politikern

Das Symposium möchte das „Strafrecht als ambivalentes Instrument zwischen Demokratieschutz und Missbrauchspotenzial“ in den Blick nehmen. Für diese Betrachtung ist kaum ein Deliktsbereich so geeignet wie die Beleidigungstatbestände. Denn in den letzten Jahren haben sie nicht nur erhebliche politische und mediale Aufmerksamkeit erfahren; auch die ihnen zugemessene Bedeutung im Gefüge demokratischer Prozesse hat sich grundlegend gewandelt. Als Schutzzweck hinter § 185 StGB wird nicht länger allein die individuelle Ehre angesehen – die Norm soll darüber hinaus das gemeinschaftliche Interesse an einer integrativen öffentlichen Debatte und der Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen wahren. Je nach Perspektive ist das Ehrschutzstrafrecht also Garant oder Gefahr für den gesellschaftlichen Meinungsaustausch; es soll die Grundlagen Diskurs in der Öffentlichkeit sichern und bedroht gleichzeitig die Freiheit insbesondere von Machtkritik als wichtige Form demokratischer Kontrolle.

Der Beitrag beleuchtet die Funktion des Strafrechts zur Gestaltung gesellschaftlicher Kommunikation. Wie kann das Strafrecht einen Beitrag zur Resilienz demokratischer Ordnungen leisten, ohne selbst autoritäre Dynamiken zu begünstigen und letztlich die Freiheitsrechte auszuhöhlen, die es schützen will? Und wie lässt sich eine politische Instrumentalisierung des Strafrechts vermeiden, wenn es der freien Rede Grenzen zieht und damit notwendig in die politische Debatte eingreift.

Strafrecht als Garant für die freie Meinungsäußerung und die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen

Die Auslegung von § 185 StGB war lange Zeit geprägt von einem Dualismus zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit. Während das Schutzgut der „Ehre“ allein private Interessen zu berühren scheint, gilt das das Grundrecht der freien Meinungsäußerung als „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“, das „für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung (…) schlechthin konstituierend“ sei (vgl. BVerfGE 7, 198ff.). Das Ungleichgewicht der Rechtsgüter bildete sich in einer Rechtsprechung ab, die erhebliche Anforderungen an die Strafbarkeit von Äußerungen stellte. Im Schrifttum wurde sogar eine „weitestgehende Abschaffung des strafrechtlichen Ehrenschutzes im Bereich von Meinungs- und Pressefreiheit durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)“ ausgemacht (Krey, JR 1995, 221 (224)).

Diese – als zu einseitig kritisierte – Praxis änderte sich in Folge des Künast-Verfahrens. Über die Grünen-Politikerin war online ein unzutreffendes Zitat verbreitet worden, das den Eindruck erweckte, Künast billige sexuelle Handlungen mit Kindern. Der Post veranlasste eine Vielzahl von Nutzern zu massiven Hasskommentaren. Das Landgericht Berlin stufte zunächst jedoch sämtliche Beschimpfungen – wie „Drecks Fotze“, Stück Scheisse“, „Altes grünes Drecksschwein“ oder „Schlampe“ – als nicht strafbar ein. Das Urteil löste eine breite öffentliche und politische Diskussion über die Grenzen der Meinungsfreiheit aus. Diese Debatte war notwendig und sie war wichtig. Denn sie lenkte den Fokus auf das Phänomen des digitalen Hasses, dessen individuelle und gesamtgesellschaftliche Gefahren bislang unterschätzt worden waren. Hasskommentare im Netz sind für die Betroffenen besonders schwerwiegend; sie sind nur mit erheblichem Aufwand zu löschen, bleiben für eine unbegrenzte Zahl von Nutzern einsehbar und prägen das Bild der Person in der Öffentlichkeit. Aber digitaler Hass potenziert nicht nur die individuellen Folgen des Ehrangriffs. Er kann sich auch negativ auf den freien gesellschaftlichen Meinungsaustausch auswirken. Studien belegen sogenannte „Silencing-Effekte“: Menschen ziehen sich aus Sorge vor Hasskommentaren aus den öffentlichen Diskussionsräumen zurück – auch dann, wenn sie nicht selbst Adressaten der Beschimpfungen waren. Kontroverse Positionen und Personen verstummen. Vor diesem Hintergrund kann der traditionelle Dualismus zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit keinen Bestand mehr haben. Hasskommentare, die – entgegen anderslautenden öffentlichen Slogans – selbst eine von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Meinungsäußerung darstellen, gefährden die Teilhabe anderer am öffentlichen Diskurs; der Beleidigungstatbestand wirkt also auf die Kommunikationsfreiheiten beider Seiten ein. Damit verschieben sich die Abwägungsprozesse bei der strafrechtlichen Prüfung einer Äußerung: § 185 StGB greift in die freie Meinungsäußerung ein und ist zugleich Baustein für die Gewährleistung eines offenen gesellschaftlichen Meinungsaustausches als Grundlage für den demokratischen Willensbildungsprozess.

Auch das BVerfG scheint seine Rechtsprechung unter dem Eindruck des Künast-Falles neu justiert zu haben. In seinen Mai-Beschlüssen von 2019 betont das Gericht, dass der freien Rede „kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz“ zukomme (BVerfG NJW 2020, 2622, 2623). Mit Blick auf Politiker weist das BVerfG darauf hin, dass Art. 5 Abs. 1 GG „nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern oder Politikerinnen und Politikern“ gestatte. Ihr Ehrschutz, so führen die Richter weiter aus, liege nicht nur in ihrem eigenen, sondern zugleich im öffentlichen Interesse. Schließlich könne „eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist“ (BVerfG NJW 2020, 2622, 2626). Damit führt die Kammer einen weiteren Aspekt in die gerichtliche Abwägung ein: die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen durch einen effektiven Ehrschutz von Personen, die politische Ämter wahrnehmen.

Strafrecht als Gefahr für die freie Meinungsäußerung

Die neue Aufmerksamkeit für das Phänomen des digitalen Hasses war zunächst ein Fortschritt. Menschenverachtende Beschimpfungen wurden nicht länger bagatellisiert und die Gefahren einer Diskursverengung durch Silencing ernst genommen. Doch die gewachsene Sensibilität entwickelte bald eine Eigendynamik, bei der die Meinungsfreiheit der Äußernden und die demokratische Bedeutung öffentlicher Machtkritik zunehmend aus dem Blick gerieten. Die fragile Balance zwischen den Rechtsgütern scheint erneut zu kippen – zu Lasten der Freiheit.

In der Strafanwendungspraxis lässt sich eine neue Tendenz zur Verfolgung von Taten beobachten, die allenfalls dem unteren Bereich strafwürdigen Verhaltensunrechts zuzuordnen sind: Beschimpfungen von Politikern als „Schwachkopf“, „dümmste Außenministerin der Welt“, „Kriegstreiberin“ oder „korrupte Speichellecker“ beschäftigen die Justiz, führen zu Hausdurchsuchungen und Strafbefehlen. Im Umgang des Staates mit Angriffen auf die Ehre insbesondere von Politikern hat sich etwas signifikant verschoben. Viele Politiker gehen heute entschlossen gegen Ehrangriffe vor: Zwischen September 2021 und August 2024 erstattete Robert Habeck 805 und Annalena Baerbock 513 Strafanzeigen wegen Ehrdelikten; die FDP-Politikerin Agnes Strack-Zimmermann meldete den Behörden monatlich etwa 250 Fälle. Unterstützt werden sie dabei auch von NGOs, die für die Bekämpfung von Hass im Netz staatlich finanziert werden. Digitaler Hass ist zum Geschäftsmodell geworden: Kanzleien und Unternehmen recherchieren mithilfe von KI Ehrangriffe und gehen proaktiv auf Betroffene zu. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik bestätigen dieses Bild: Von 2022 bis 2024 sind Anzeigen wegen einer Beleidigung von Politikern nach § 188 StGB um 216 Prozent gestiegen. Bei mehreren Staatsanwaltschaften in Deutschland existieren mittlerweile Zentralstellen und Sonderdezernate für die Verfolgung von Hasskriminalität im Internet.

Auch der Gesetzgeber hat reagiert: Im April 2021 trat das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität in Kraft, das die Strafbarkeit von Ehrangriffen erweiterte. Überzeugend im Lichte der neuen Erkenntnisse war die Anhebung der Strafrahmen für öffentlich begangene Beleidigungen. Problematisch ist jedoch die Ausdehnung des Qualifikationstatbestands für Taten gegen Personen des politischen Lebens in § 188 StGB auf bloße Beleidigungen. Taten nach § 185 StGB werden nun mit höherer Strafe bedroht, wenn sie gegen eine im politischen Leben des Volkes stehende Person gerichtet sind, aus Beweggründen begangen werden, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen, und die Tat geeignet ist, sein öffentliches Wirken erheblich zu erschweren.

188 StGB sanktioniert Ehrangriffe auf Politiker in Machtpositionen also strenger als Kritik an anderen Menschen. Damit setzt sich die Norm in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das auch in seinen jüngsten Beschlüssen stets die Bedeutung von Machtkritik betont. Der Schutz der Meinungsfreiheit, so stellt es das Gericht heraus, sei „gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen“. Teil dieser Freiheit sei es, „dass Bürgerinnen und Bürger von ihnen als verantwortlich angesehene Amtsträgerinnen und Amtsträger in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen können, ohne befürchten zu müssen, dass die personenbezogenen Elemente solcher Äußerungen aus diesem Kontext herausgelöst werden und die Grundlage für einschneidende gerichtliche Sanktionen bilden“ (BVerfG, Beschl. v. 21.3.2022, 1 BvR 2650/19). Vor diesem Hintergrund stellt das Gericht – unter Rückgriff auf die ständige Rechtsprechung des EGMR – fest, dass „die Grenzen zulässiger Kritik an Politikerinnen und Politikern weiter zu ziehen sind als bei Privatpersonen“. Dass Politiker in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich stärkere Ehrangriffe hinnehmen müssen als Privatpersonen, trägt der Machtasymmetrie zum Bürger Rechnung. Politische Entscheidungen greifen oft tief in das Leben des Einzelnen ein – Gesetze beschränken seine Freiheit und seinen Wohlstand –, und der Bürger hat ihnen nichts entgegenzusetzen als seine Stimme. Unmittelbar reagieren kann er nur durch öffentliche Meinungskundgabe, auf Versammlungen oder in sozialen Netzwerken. Und auch hier bleibt eine kommunikative Asymmetrie bestehen, da Politiker auf Bundes- oder Landesebene über eine mediale Reichweite und Präsenz verfügen, die dem einzelnen Bürger nicht zukommt. Wer sich Gehör verschaffen will, muss also laut werden. Das legitimiert keine gravierenden Ehrverletzungen, macht aber verständlich, weshalb gerade politische Machtkritik oft drastisch ausfällt.

Politiker müssen sich nicht alles gefallen lassen, aber doch mehr als der Bürger ohne politische Gestaltungsmacht. In seiner gegenwärtigen Fassung kehrt § 188 StGB diese verfassungsrechtliche Logik jedoch um: Anstatt Machtkritik zu privilegieren, werden Meinungsäußerungen dort härter bestraft, wo sie ein demokratisches Gleichgewicht zu staatlicher Macht setzen sollen. Der Justiz wird signalisiert, dass Beleidigungen von Politikern ein besonderes Gewicht beigemessen werden soll. So entsteht in der Öffentlichkeit ein gefährlicher Eindruck: Der Staat reagiert auf Machtkritik mit erneuter Machtausübung.

188 StGB sollte daher grundlegend reformiert werden. Eine höhere Strafbarkeit für Ehrangriffe gegen Politiker muss vollständig entfallen. Für Beleidigungen von Politikern auf Bundes- und Landesebene sollten höhere Anforderungen an die Strafbarkeit gestellt werden. Denkbar wäre etwa, strafrechtliche Sanktionen auf Äußerungen zu beschränken, die geeignet sind, die Menschenwürde der Person anzugreifen, insbesondere indem sie in einer menschenverachtenden, rassistischen, sexistischen, ableistischen oder antisemitischen Weise erfolgt (weiterführend Hoven/Rostalski, GA 2025, 421-440).

Fazit

Im Bereich der Beleidigungsdelikte erweist sich das Strafrecht in besonderer Weise als „ambivalentes Instrument“. Indem es schwere Formen öffentlicher Beschimpfungen sanktioniert, sichert es die Teilhabe aller am öffentlichen Meinungsaustausch und zieht dem kommunikativen Umgang miteinander notwendiger Grenzen. Niemand, auch keine Politikerin, muss sich sexistisch herabwürdigen lassen. Dass sich hier eine Sensibilität für die Gefahren gerade des digitalen Hasses entwickelt hat, ist gut und sinnvoll. Doch wo sich Kräfte verschieben, entsteht meist keine Balance, sondern neues Ungleichgewicht. An die Stelle des alten Missverhältnisses tritt ein neues – wo zu wenig Schutz war, ist nun zu wenig Freiheit. Das Recht darf den politischen Diskurs und die Machtkritik als zentrales Element demokratischer, staatsbürgerlicher Kontrolle nicht unter das Damoklesschwert strafrechtlicher Sanktion stellen. Im Beleidigungsstrafrecht muss das Verhältnis von Repression und Resilienz daher neu justiert werden: Der Gesetzgeber sollte die in den letzten Jahren entstandene Schieflage und die freie Rede als tragendes Prinzip demokratischer Öffentlichkeit wieder angemessen schützen.


SUGGESTED CITATION  Hoven, Elisa: Ehre, wem Kritik gebührt?: § 188 StGB und die verfassungsrechtlichen Grenzen des strafrechtlichen Ehrschutzes von Politikern, VerfBlog, 2025/8/22, https://verfassungsblog.de/ehre-wem-kritik-gebuhrt/, DOI: 10.59704/43ca57dcc7f02b87.

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