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08 December 2014

Von Global Cities und gallischen Dörfern

Das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts vom 22. Oktober 2014 bildet nur einen ersten Höhepunkt in einer Reihe jüngerer Beispiele von konflikthaften Beziehungen und Spannungen im Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht. Die Tories etwa diskutieren seit längerem, ob Großbritannien sich aus dem System der Europäischen Menschenrechtskonvention verabschiedet. Und in der Schweiz wurde die Lancierung einer neuen Volksinitiative mit dem Titel „Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“ angekündigt; zudem hat kürzlich ein Regierungsmitglied formell den Austritt aus der EMRK gefordert.

Natürlich unterscheiden sich die hier skizzierten Fälle in vielerlei Hinsicht. Im Falle Italiens ist es der Verfassungsgerichtshof, der als Gericht eine nationale Maßnahme in Umsetzung eines internationalen Gerichtsurteils für verfassungswidrig erklärte. In Großbritannien und der Schweiz zeigt sich dagegen die Skepsis gegenüber völkerrechtlichen Bestimmungen im politischen Prozess. Während sich das italienische Urteil gegen die Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Sachen Staatenimmunität richtet, ist es in der Schweiz und in Großbritannien vor allem die bindende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welche als Widerspruch zur demokratischen Selbstbestimmung kritisiert wird. Schließlich lassen sich zu diesen drei Beispielen zahlreiche Diskussionen aus anderen Staaten hinzufügen, die unter verschiedenen Umständen und mit verschiedenen Anlässen das Verhältnis von Verfassungs- und Völkerrecht verhandeln.

Trotz all dieser Unterschiede glauben wir aber, dass es lohnt, diese Phänomene gemeinsam zu betrachten. Sie erzählen allesamt von einer zunehmenden Spannung zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht, deren Entwicklung es verdient, genauer angeschaut zu werden. Denn hinter dieser Entwicklung verbirgt sich das seit jeher vielschichtige und komplexe Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht. Diese Komplexität, welche durch die Eigenheiten des Völkerrechts als unvollständige und von den Staaten abhängige Rechtsordnung noch verstärkt wird, dürfte sich mit dem immer weiteren Vordringen des Völkerrechts in Gebiete, die lange als domaine réservé der Staaten gegolten haben, nur noch zuspitzen.

Beispielsweise können völkerrechtliche oder europäische Regelungen – etwa die EU-Bestimmungen zu Abschiebungen unter den Dublin-Verordnungen – mit nationalen Grundrechtsstandards unvereinbar sein. Umgekehrt müssen sich nationale Entscheidungen zunehmend an internationalen Menschenrechtsvorgaben messen lassen – wie es etwa nach dem umstrittenen Minarettverbot der Schweiz vor einigen Jahren vielfach diskutiert wurde. Im Falle der Schweiz und Großbritanniens führt man die Demokratie gegen die unbedingten Entscheidungen internationaler Gerichte ins Feld. Umgekehrt diskutieren internationale Foren, ob Staaten demokratischen Standards genügen (zB hier und hier).

Ob Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit oder Demokratie – oft dienen die gleichen Prinzipien mal der nationalen, mal der internationalen Ebene als Argument, um Vorrang zu beanspruchen. Hinter der zunehmenden Spannung von Verfassungs- und Völkerrecht steht also, so meinen wir, eine zunehmende Konvergenz internationaler Normen und nationaler Verfassungsbestimmungen. Das deutlichste Beispiel bilden wohl die Menschenrechte: neben nicht weniger als neun internationalen Menschenrechtsverträgen steht eine Vielzahl regionaler Menschenrechtskonventionen. Eine große Zahl von Staaten hat darüber hinaus eigene Grundrechtekataloge in die Verfassung integriert. Die Auslegung und Austarierung dieser sich im Namen größtenteils deckenden Grundrechte variiert aber wesentlich – und muss immer wieder neu verhandelt werden. Ähnliche Prozesse lassen sich bei anderen Verfassungsprinzipien beobachten: Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur in einzelnen Staaten und in der Europäischen Union, sondern auch bei den Vereinten Nationen seit mehreren Jahren ein vieldiskutiertes Thema. Und selbst Demokratie wird nicht mehr als auf den Staat begrenztes Prinzip begriffen.

Daraus wird deutlich, wie schwierig es ist, dieser komplexen Thematik gerecht zu werden und die notwendigen Differenzierungen vorzunehmen. Pauschale Wertungen verfehlen ihr Ziel – das Völkerrecht ist weder per se gut noch böse, ebenso wenig wie nationales Recht. In manchen Fällen erscheint die Nichtbefolgung internationalen Rechts durch nationale Instanzen als Handlung, welche fundamentale Verfassungsprinzipien wie die Grundrechte oder das Demokratieprinzip schützt. Andererseits stellen solche Akte der Auflehnung die Glaubwürdigkeit und Autorität des Völkerrechts in Frage und bergen so eine eigene Gefahr für den Rechtsfrieden.

Angesichts der in letzter Zeit steigenden Zahl von den skizzierten Spannungen zwischen Verfassungs- und Völkerrecht möchten wir Völkerrechtler*innen und Verfassungs-jurist*innen zu diesem Thema ins Gespräch bringen. In welchen Ländern und in welchen Konstellationen zeigen sich Spannungen zwischen völkerrechtlichen Standards und/oder Institutionen einerseits und dem nationalen Recht einzelner Staaten andererseits? Handelt es sich hierbei um eine Ansammlung von Einzelfällen, die nicht miteinander vergleichbar sind, oder um eine verallgemeinerbare Tendenz, dem Völkerrecht mit Skepsis zu begegnen? Lassen sich die Fälle in Europa mit der andauernden Wirtschafts- und Finanzkrise, und/oder dem wachsenden Rechtspopulismus, wie er sich jüngst in den Europawahlen manifestiert hat, zusammenlesen? Betrifft die sich äußernde Skepsis das Völkerrecht ganz allgemein – oder lediglich die Entscheidungen internationaler Spruchkörper, etwa des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (so im Falle Großbritanniens und der Schweiz) oder des Internationalen Gerichtshofs (so im Falle Italiens und auch der USA)?

Im anstehenden Symposium wollen wir einerseits die Konstellationen in verschiedenen Ländern genauer betrachten, in denen Spannungen zwischen Verfassungs- und Völkerrecht auftreten. Es soll zunächst also darum gehen, die Fälle mit ihren jeweils spezifischen Umständen besser zu verstehen. Andererseits laden wir dazu ein, die Phänomene zusammenzudenken, etwa zu überlegen, ab wann eine Bereitschaft zum Völkerrechtsbruch anfängt, auch innerstaatliche Grundsätze der Rechtstaatlichkeit in Frage zu stellen – und nach den Reaktionsmöglichkeiten des Völkerrechts zu fragen.

Zur aktuellen politischen und rechtlichen Debatte in der Schweiz wird Astrid Epiney berichten. In einem Interview erläutert der Vize-Präsident des Europäischen Gerichtshofs, Koen Lenaerts, das Verhältnis zwischen Völkerrecht und europäischen Verfassungsprinzipien und die Rolle des EuGH. Filippo Fontanelli hatte bereits vor einigen Wochen das Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs kommentiert; hierauf geht Felix Würkert ein. Filippo wird dazu Stellung beziehen. Robert Frau befasst sich mit der Diskussionslage in Deutschland, und Jannika Jahn beschreibt die aktuelle Situation im Vereinigten Königreich. Warum diese Spannungen auftreten und wie sie normativ zu verorten sind, wird Nico Krisch beschäftigen. Natürlich soll das Gespräch damit nicht beendet sein. Wir freuen uns über kritische Kommentare unter den einzelnen Posts genauso wie über Repliken in der Form eigener Posts. Dazu genügt eine kurze Nachricht an ajv.kontakt@gmail.com oder an symposium@verfassungsblog.de.

Alle Beiträge des Symposiums erscheinen auch auf dem Völkerrechtsblog.


SUGGESTED CITATION  Birkenkötter, Hannah, Kunz, Raffaela; Schmalz, Dana: Von Global Cities und gallischen Dörfern, VerfBlog, 2014/12/08, https://verfassungsblog.de/global-cities-gallic-villages-tensions-constitutional-international-law/, DOI: 10.17176/20181005-152254-0.

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