Endlich gleicher Lohn für alle?
Das Equal-Pay-Urteil des Bundesarbeitsgerichts
Am 16.02.2023 urteilte das BAG über die Entgeltgleichheit von Männern und Frauen. Der 8. Senat entschied, dass Männer und Frauen einen Anspruch auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und gleicher Qualifikation haben. Zahlt der Arbeitgeber einem Mann aufgrund der Gehaltsverhandlungen ein besseres Gehalt, muss er dieses auch den gleichqualifizierten Frauen zahlen. Ein besseres Verhandlungsgeschick rechtfertigt somit kein höheres Gehalt mehr. Damit passt das BAG die deutsche Rechtslage dem Unionsrecht an: Der Anspruch auf gleichen Lohn für Männer und Frauen ergibt sich aus Art. 157 AEUV, § 3 Abs. 1 und § 7 EntgTranspG. Auch wenn das Urteil ein Meilenstein für Gleichberechtigung am Arbeitsplatz darstellt, ist der Kampf noch nicht vorbei.
Besseres Verhandlungsgeschick ist kein zulässiges Unterscheidungskriterium
Geklagt hatte Susanne Dumas. Von 2017 bis 2021 arbeitete sie bei der Photon Meissener Technologies GmbH, welche die höhere Bezahlung eines männlichen Kollegen mit besserem Verhandlungsgeschick begründete. Ein männlicher Mitarbeiter war lediglich 2 Monate länger im Betrieb als sie, erhielt aber 1.000 Euro brutto mehr Lohn – was Susanne Dumas per Zufall erfuhr. Während ihr Einstiegsgehalt bei 3.500 Euro lag, lehnte besagter Kollege dieses Angebot ab und handelte mit dem Arbeitgeber ein Gehalt von 4.500 Euro aus.
Sowohl das Arbeitsgericht Dresden (Urteil des Arbeitsgerichts Dresden vom 4. Oktober 2019 – 5 Ca 638/19), als auch das Landesarbeitsgericht Sachsen (Sächsisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 3. September 2021 – 1 Sa 358/19) waren dieser Argumentation gefolgt und sahen in der besseren Gehaltsverhandlung einen objektiven arbeitsbezogenen Grund für eine bessere Bezahlung.
Das sah das BAG im Februar dieses Jahres anders: Ein besseres Verhandlungsgeschick sei eben kein zulässiges Unterscheidungskriterium. Dass im vorliegenden Fall der Kollege ein höheres Grundgehalt als Susanne Dumas erhalten hat, begründet die Vermutung nach § 22 AGG, dass diese Benachteiligung aufgrund ihres Geschlechts erfolgt ist. Die Klägerin Susanne Dumas erhält jetzt eine Nachzahlung von 14.500 Euro, sowie nach § 15 Abs. 2 AGG wegen einer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts eine Entschädigung in Höhe von 2.000 Euro.
Rechtliche Einordnung – Europarechtliche Equal-Pay-Vorgabe?
Besseres Verhandlungsgeschick wurde bis dahin als arbeitsbezogener objektiver Grund angesehen, der eine ungleiche Bezahlung legitimierte. Dabei ist die Fähigkeit zur besseren Verhandlung und die Wahrnehmung des Arbeitgebers keinesfalls objektiv oder neutral. Solche Mechanismen sind eingebettet in ein System, das stereotype männliche Verhaltensweisen honoriert. Dass das Verhandlungsgeschick nun nicht mehr als arbeitsbezogener objektiver Grund gesehen wird, ist erfreulich. Denn die europarechtliche Equal-Pay-Vorgabe findet sich in Artikel 157 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und beinhaltet einen der zentralsten Grundsätze, nämlich: „gleiches Entgelt für gleiche Arbeit“.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) untermauert diesen Gedanken. Dabei regelt § 22 AGG die Beweislast: Der Arbeitgeber trägt die Beweislast dafür aufzuzeigen, dass die Ungleichbehandlung aus anderen Gründen als dem Geschlecht erfolgte, sollten Indizien auf eine Diskriminierung hindeuten. Sollten Männer und Frauen somit bei gleicher Arbeit und Qualifikation unterschiedlich bezahlt werden, so wird vermutet, dass es sich um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts handelt. Und hier kommt das Urteil des BAG ins Spiel: Dass jemand einfach besser verhandelt hat, ist ab jetzt kein Grund mehr diese Vermutung zu widerlegen. Aber damit § 22 AGG greift, müssen in einem ersten Schritt Arbeitnehmer:innen zunächst von einer ungleichen Bezahlung Kenntnis erlangen, was zu weiteren Problemen führt.
„Wie viel verdient mein Kollege?“ – Auskunftsanspruch aus dem Entgelttransparenzgesetz
Das EU-Recht setzt die Vorschriften im Entgelttransparenzgesetz (EntgTranspG) um, in welchem ein „Entgeltgleichheitsgebot“ normiert ist. §§ 10 ff. EntgTranspG gibt Arbeitnehmer:innen in einem Betrieb ab 200 Beschäftigten seit Januar 2018 einen Auskunftsanspruch, wie hoch das Gehalt der Kolleg:innen ist. Dass dies transparent gemacht wird, ist von enormer Bedeutung, um strukturelle und institutionelle Diskriminierung im ersten Schritt erkennen zu können. Ohne diese Einsicht, ist es Frauen in der Regel gar nicht möglich, sich selbst und ihre Leistung adäquat einzuschätzen und eventuell ein höheres Gehalt zu fordern.
Doch auch für die Geltendmachung dieses Auskunftsanspruchs muss mitbedacht werden, dass das Verhältnis von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen von Machtstrukturen geprägt ist. Die Angst vor Stigmatisierung stellt für Betroffene eine zusätzliche Hürde dar, so dass sie ihre Rechte oftmals nicht wahrnehmen. Das macht auch der zurückhaltende Gebrauch des Auskunftsanspruchs in der Vergangenheit deutlich: In nur 13 – 23 Prozent der Betriebe wurde der individuelle Auskunftsanspruch geltend gemacht. Hier könnte eine verpflichtende Offenlegung statt einer Offenlegung auf individueller Nachfrage sinnvoll sein, da eine solche gesetzgeberische Reform das strukturelle Problem der Entgeltdiskriminierung nicht individuell der benachteiligten Gruppe aufbürden würde. Wenn Entgeltstrukturen systematisch überprüft werden, würde es Beschäftigten leichter gemacht, Einsicht in die betriebliche Bezahlpraxis zu erlangen.
Die Kritik, dass das EntgTranspG wirkungslos sei, scheint mit dem neuen Urteil des BAG mittlerweile zumindest teilweise überholt zu sein. Denn kommt heraus, dass eine ungleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit und Qualifikation vorliegt, wird sich durch das jetzt ergangene Urteil des BAG etwas bewegen. Dem EntgTranspG gelingt es aktuell aber noch nicht, eine umfassende Gleichbehandlung zu gewährleisten, können momentan davon lediglich Frauen in größeren Betrieben profitieren. Hier greift das EntgTranspG zu kurz. Auskunftsansprüche können Arbeitnehmer:innen nur geltend machen, wenn sie in Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten arbeiten. Für alle anderen hängt es – wie im Falle von Susanne Dumas – vom Zufall ab, ob herauskommt, wie hoch das Gehalt des männlichen Kollegen tatsächlich ist. Hier besteht gesetzgeberischer Nachholbedarf, vor allem weil es meistens Frauen sind, die in kleinen Betrieben arbeiten.
Klagen, Klagen, Klagen – oder lieber ein Verbandsklagerecht?
Ist eine Diskrepanz bei gleicher Arbeit und Qualifikation nun offengelegt, geht es im zweiten Schritt an die rechtliche Umsetzung des gleichen Gehalts. Da viele Arbeitnehmer:innen individuelle Nachteile befürchten, wird von dem Rechtsweg meist abgesehen. Hier könnte ein Verbandsklagerecht eine Möglichkeit bieten, die Durchsetzung der Rechte mit Kollektivklagen zu erreichen. Mit dem Mittel der Verbandsklage könnten dann Vereine oder Verbände kollektiv die Rechte von Arbeitnehmer:innen geltend machen, indem sie die Klagebefugnis zugesprochen bekommen und damit den Individualrechtsschutz effektiv ergänzen. Das könnte das Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen überwinden.
Sowohl bei der Durchsetzung des Auskunftsanspruchs nach §§ 10 ff. EntgTranspG, als auch bei der rechtlichen Durchsetzung des gleichen Gehalts sollten die mit der Entgeltsgleichheitsklage verbunden Belastungen nicht den Arbeitnehmer:innen alleine aufgebürdet werden. Der in Deutschland bestehende Gender Pay Gap sollte als gesamtgesellschaftliches Problem verstanden werden, dessen effektive Bekämpfung (inklusive des Prozesskostenrisikos) nicht auf das benachteiligte Individuum abgeschoben werden darf, da es im öffentlichen Interesse liegt, die auf den Geschlechtern beruhende Diskriminierung zu bekämpfen.
(Rechts-)Kritik am Status quo
Problematisch an der bisherigen Rechtslage war vor allem, dass sie Gehaltsverhandlungen als private Angelegenheit individualisiert hat und dadurch die Ungleichbehandlung von Frauen naturalisierte. Damit hat sich im rechtlichen Status quo die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen versteckt niedergeschlagen und perpetuiert: Denn dass Männer besser verhandelten, wurde als ein „natürliches Ergebnis von unterschiedlicher Verhandlungsfähigkeit“ angesehen. Die Gründe dafür, warum Männer in der Regel überhaupt, öfter und besser verhandeln als Frauen und damit erfolgreicher sind, sind aber vielschichtiger und komplexer. Dabei spielen anerzogene Rollenstereotype und geschlechtsspezifische Zuschreibungen besonders bei der Leistungsfeststellung und Arbeitsbewertung noch immer nach und können zu mittelbarer Diskriminierung führen. Auch subtile Formen der Diskriminierung und internalisierter Sexismus spielen hier eine Rolle. Eine Studie zeigt, dass sowohl Frauen als auch Männer höhere Löhne für Männer als gerecht empfinden, selbst wenn Tätigkeit, Alter und die Arbeitsleistung gleich sind. Dabei schätzen auch Frauen ihre persönliche Lohnentwicklung deutlich pessimistischer ein als Männer, was die tatsächliche Lohnentwicklung womöglich beeinflusst und den Gender Pay Gap verstärkt. Gerade junge Frauen mit Hochschulabschluss unterschätzen häufig ihren künftigen Lohn.
Gleichwertige Arbeit wird je nach Geschlecht unterschiedlich bewertet und auch entlohnt. Das macht auch ein Blick in die Zahlen deutlich: Deutschland hat einen der höchsten Gender Pay Gaps in Europa und befindet sich damit in Bezug auf die Gleichberechtigung von Männern und Frauen auf Platz 31 von 34. Selbst bereinigt liegt diese Pay Gap momentan bei 6 Prozent. Das heißt: Aktuell verdienen Frauen bei gleicher Qualifikation und Arbeit immer noch 6 Prozent weniger als Männer. Deutschland enthielt sich sogar kürzlich bei der Abstimmung über eine neue EU-Richtlinie zu Equal Pay. Wird bedacht, wie Deutschland sich im weltweiten Vergleich positioniert, war die Entscheidung des BAG mehr als überfällig.
The Times They Are a-Changin’
Ab jetzt haben Frauen die Möglichkeit, gleiches Gehalt bei gleicher Position zu fordern und rechtlich durchzusetzen, was bis dahin nicht in dieser Form möglich war. Alles in allem mehr als erfreulich. Gleiche Bezahlung kann nun eben nicht mehr wegverhandelt werden, so Sarah Lincoln, Prozessbevollmächtigte und Verfahrenskoordinatorin der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF).
Allerdings ist der Kampf um Gleichheit der Geschlechter noch nicht vorbei: Es bedarf Verbesserungen bezüglich des EntgTranspG, so dass die Mechanismen des Auskunftsanspruchs auch für kleinere Betriebe unter 200 Mitarbeiter:innen gelten, eine verpflichtende Offenlegung ohne individuellen Antrag, sowie ein Verbandsklagerecht zur kollektiven Durchsetzung von Rechtsansprüchen.
Dabei darf der Kampf gegen Diskriminierung nicht bei der Benachteiligung von Frauen vs. Männern stehen bleiben, sondern das Antidiskriminierungsrecht muss intersektional gedacht und erweitert werden. Der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sollte auch für andere Diskriminierungsdimensionen, welche etwa behinderte Menschen, BPoC oder Personen aus der Arbeiterklasse (sog. Class Pay Gap) erfahren, gelten und im Gesetz verankert werden. Denn die Mechanismen der Verhandlungsmacht wirken hier ebenso.
Für alle Frauen in größeren Betrieben heißt es jetzt aber erst einmal: Aktiv werden und Auskunftsansprüche geltend machen. Sollte der männliche Kollege bei gleicher Qualifikation und Arbeit mehr verdienen, sollten nach dem Grundsatzurteil des BAG nun auch rechtliche Schritte geltend gemacht werden. Denn gleiche Arbeit sollte gleich entlohnt werden. Die Abwertung weiblicher Erwerbsarbeit muss enden.
Es gibt Geschlechterdiskriminerung und diese sollte konsequent bekämpft werden, keine Frage! Aber, dass im Dienste der Gleichberechtigung an der individuellen Vertragsverhandlung angesetzt wird, wirkt auf mich (als Privatrechtler ohne große Vorbefassung in diesem Bereich) befremdlich. Mich wundert, dass die BAG-Entscheidung allgemein so positiv aufgenommen wird und dieser Beitrag, vor allem die darin getroffenen Prämissen, stärken meine Bedenken, ob das der richtige Weg ist.
Was mich am meisten irritiert: Verhandeln soll stereotyp männlich sein und darf deshalb nicht zu einer besseren Vergütung führen. Ist dann nicht das Vertragsrecht als Idee sexistisch? Müssen ausgehandelte Verträge in allen Lebensbereichen flächendeckend wegen § 19 Abs. 1 AGG einander angeglichen werden?
Auch frage ich mich: Werden Männer, die (möglicherweise aufgrund anerzogener Rollenstereotype) im Bewerbungsgespräch zu hart verhandeln und daher die begehrte Stelle nicht bekommen, aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert?
Dass das Konzept der Vertragsverhandlung nach der Logik dieses Beitrags die Quelle allen Übels darstellen soll, finde ich problematisch. Denn auch im von Disparität und (folgerichtigen) Eingriffen in die Vertragsfreiheit geprägten Individualarbeitsrecht ist es doch von fundamentaler Bedeutung, dass sich die Vertragsparteien auf einen Kompromiss einigen können, der ihre Interessen reflektiert. Gerade Arbeitsverträge erschöpfen sich nicht in der Benennung von Hauptleistungspflichten (Arbeitsleistung gegen Vergütung), sondern sollten auch den besonderen Bedürfnissen des Arbeitnehmers, z. B. in puncto Zeiteinteilung, Home Office, Urlaubstage etc. entsprechen. Womöglich ist Arbeitnehmer A auf Flexibilität angewiesen, während es Arbeitnehmer B primär auf die Vergütung ankommt. Wird der Arbeitgeber noch auf die besonderen Bedürfnisse von A eingehen, wenn die Höhe der Vergütung nicht zur Disposition steht? Ein zu breites Verständnis von “gleicher Arbeit” und “gleichen Arbeitnehmern” ist hier m. E. gefährlich und wird einer Gesellschaft, die eine individuelle Lebensgestaltung gewährleisten will, nicht gerecht.
Dass die Wurzel der Problematik woanders liegt und dass jedem Menschen ein Selbstverständnis vermittelt werden sollte, in dem er aktiv Wertschätzung und angemessene Vergütung seiner Arbeit einfordern kann, darin dürfte doch Einigkeit besteht. Die Gefährdung der wichtigen Funktion individueller Verhandlung ist da m. E. nicht zuträglich.
Sie überrascht, dass bei der Gleichberechtigung, bei “der individuellen Vertragsverhandlung angesetzt wird”. Das überrascht wiederum mich. Denn warum gehen Sie überhaupt davon aus, dass beim Ergebnis nicht das Geschlecht eine Rolle spielt? Schließlich besteht das Vertragsverhältnis aus zwei Seiten. Der einen, die ihre Forderung noch so engagiert vortragen kann, und der anderen, welche zu einer Forderung ja oder nein sagen kann. Es sind anders gesagt unterschiedliche Machtpositionen, wobei das Geschlecht auf Seiten des AG durchaus eine Rolle spielen kann (!). Aber genau das kann der AG ja widerlegen – falls er kann. Nur wie soll ihm das gelingen, wenn die Arbeit und Qualifikation zwar gleich sind, nur der Lohn nicht? Dann bleibt nur der Verweis auf andere Gründe, wie das Verhandlungsgeschick, bei dem es jedoch bereits diskriminierend sein kann, zu unterstellen, der Mann hätte besser verhandelt als die Frau. Auch wäre der AG sicher nicht davon begeistert, wenn mensch ihm bei seiner Entscheidung Überlegungen unterstellte, die geschlechtsdiskriminierend sind. Das BAG überschreitet deshalb den Rahmen möglicher persönlicher Motive und nimmt das überprüfbare Ergebnis in den Blick. Warum sollte eine ungleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit und Qualifikation korrekt sein, wenn der AG trotzdem von beiden gleich profitiert? Und fehlt es dann nicht genau an der Wertschätzung, die Ihnen so wichtig ist?
Vielen Dank für Ihre Antwort auf meinen Kommentar. Leider ist mein Verständnis für die BAG-Entscheidung (jedenfalls so wie sie in dem hiesigen Blogbeitrag aufgenommen wird – der Volltext lässt ja noch auf sich warten) dadurch nicht gewachsen. Was ich eigentlich ausdrücken wollte, ist (das kann auch an Defiziten in meiner Darstellung liegen) bei Ihnen offenbar nur teilweise angekommen. Daher möchte ich mich zu einigen Punkten nochmal äußern:
„Denn warum gehen Sie überhaupt davon aus, dass beim Ergebnis nicht das Geschlecht eine Rolle spielt?“
Das wollte ich nicht suggerieren. Es ist selbstverständlich möglich, dass das Geschlecht beim Ergebnis einer Vertragsverhandlung eine Rolle spielt. Wenn das der Fall ist, liegt darin natürlich eine Diskriminierung i. S. d. AGG.
„Schließlich besteht das Vertragsverhältnis aus zwei Seiten. Der einen, die ihre Forderung noch so engagiert vortragen kann, und der anderen, welche zu einer Forderung ja oder nein sagen kann. Es sind anders gesagt unterschiedliche Machtpositionen, wobei das Geschlecht auf Seiten des AG durchaus eine Rolle spielen kann (!).“
Das mag gerade im Arbeitsrecht häufig stimmen. Trotzdem kann man diese Annahme so pauschal nicht treffen. Ganz grundsätzlich sind beide Parteien für das Zustandekommen des Vertrags auf die Abgabe einer entsprechenden Willenserklärung der jeweils anderen Seite angewiesen. Im Ausgangspunkt besteht daher ein Machtgleichgewicht. Dieses Verhältnis ist natürlich „im echten Leben“ i. d. R. verschoben, z. B. weil ein AG auf eine Vielzahl anderer Bewerber zurückgreifen kann, wenn jemand seine Konditionen nicht akzeptiert. Dass die Verhandlungsmacht auch beim Bewerber liegen kann, sieht man ja gerade auf dem juristischen Stellenmarkt (vgl. etwa LTO vom 17.01.2023 https://www.lto.de/karriere/im-job/stories/detail/interview-bianca-staedter-hr-senior-managerin-allen-overy-recruiting-bewerber-kanzleien-verguetung-benefits).
Dass das Geschlecht arbeitgeberseitig zum Einstellungskriterium gemacht werden kann und das AGG dann greift, wollte ich nie in Frage stellen.
„Aber genau das kann der AG ja widerlegen – falls er kann. Nur wie soll ihm das gelingen, wenn die Arbeit und Qualifikation zwar gleich sind, nur der Lohn nicht? Dann bleibt nur der Verweis auf andere Gründe, wie das Verhandlungsgeschick, bei dem es jedoch bereits diskriminierend sein kann, zu unterstellen, der Mann hätte besser verhandelt als die Frau.“
Genau diese Logik stört mich. Ein AG soll die vermutete Diskriminierung nicht widerlegen können, indem er sagt: „Herr A hat im Bewerbungsgespräch betont, dass er für unsere Branche brennt und gewillt ist, besonderes Engagement und Eifer zu zeigen, wofür er jedoch eine 25 % höhere Vergütung möchte, als angeboten. Diese Initiative hat uns überzeugt. Frau B hat dagegen alle ihr angebotenen Konditionen vorbehaltlos akzeptiert.“ Dass dies nicht geeignet sein soll, um zu widerlegen, dass B allein deswegen schlechter bezahlt wird, weil sie eine Frau ist, kann ich nicht nachvollziehen.
Die Autorin des Blogbeitrags will das damit begründen, dass Verhandeln stereotyp männliches Verhalten sei. Dass Frauen laut Studien seltener in Bewerbungsgesprächen verhandeln als Männer, mag stimmen. Wie man hieraus folgern kann, dass Verhandeln sich nicht auf das Gehalt auswirken dürfe, ist mir nach wie vor vollkommen unbegreiflich.
„Warum sollte eine ungleiche Bezahlung bei gleicher Arbeit und Qualifikation korrekt sein, wenn der AG trotzdem von beiden gleich profitiert? Und fehlt es dann nicht genau an der Wertschätzung, die Ihnen so wichtig ist?“
Ob ungleiche Bezahlung „korrekt“ ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Hier geht es allein um die Frage, wann die ungleiche Bezahlung als Diskriminierung i. S. d. AGG zu werten ist. Jenseits dessen herrscht (auch im Arbeitsrecht) im Grundsatz Vertragsfreiheit. Arbeitgeber dürfen gemein, unfair, irrational usw. sein, solange dies nicht gesetzlich verboten ist. Sie dürfen prinzipiell Bewerber ablehnen oder schlechter bezahlen, weil sie zu hässlich oder zu schüchtern usw. sind. Das AGG verbietet allein die Diskriminierung wegen der in § 1 AGG benannten Merkmale und auch der allgemeine arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist nicht absolut.
Dass mir Wertschätzung „so wichtig ist“, wollte ich in meinem Kommentar auch nicht ausdrücken. Vielmehr geht es darum, dass jeder im Stande sein sollte, Wertschätzung einzufordern, soweit er dies für angebracht hält. Wenn Frauen tatsächlich seltener in Bewerbungsgesprächen über ihr Gehalt verhandeln, aber sich hinterher ungerecht behandelt fühlen, dann sollte Frauen verstärkt vermittelt werden, dass ihre Arbeit es wert ist, ggf. mehr Gehalt zu fordern. Im Übrigen muss man sich auch fragen, ob das tatsächlich ein rein geschlechtsspezifisches Thema ist. Ich kann mir vorstellen, dass z. B. Männer mit geringem Selbstvertrauen dasselbe Problem haben.