30 April 2024

Ernährung am Existenzminimum

Wie viel Gesundheit verlangt das Grundgesetz?

Ist das Bürgergeld verfassungswidrig, weil es keine gesunde Ernährung ermöglicht? Ernährungswissenschaftliche Befunde, die erst nach der letzten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entstanden sind, sprechen dafür. Unter anderem der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fordert: „Ein […] Bürgergeld muss […] ausreichend sein, um materielle und soziale Ernährungsarmut zu vermeiden. Die aktuellen […] Beträge entsprechen allerdings nicht diesem Anspruch“ (ebd., I). Basierend auf diesen Befunden sieht ein aktuelles Rechtsgutachten in der Höhe des Existenzminimums eine Verletzung des Menschenrechts auf angemessene Ernährung aus Art. 11 des UN-Sozialpakts.

Diese neuen Forschungsergebnisse sind auch verfassungsrechtlich relevant. Ohne ein materielles Kriterium dürfte der geltende Statistik-Warenkorb nicht mehr verfassungsgemäß sein. Entgegen aktuellen Forderungen, die Regelleistungen zur Herstellung eines Lohnabstands abzusenken oder nicht weiter anzuheben, spricht verfassungsrechtlich viel für eine Erhöhung. Immerhin sind nach aktuellen Zahlen der europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen 6,9 Prozent der Menschen in Deutschland von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen; 13 Prozent sind nicht in der Lage, sich jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel, Fisch oder einem vegetarischen Äquivalent zu leisten. Das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums darf diesen Zustand nicht perpetuieren. Zwei verfassungsrechtlich zulässige Lösungsmöglichkeiten liegen auf der Hand, nämlich eine Vergrößerung der Referenzgruppe oder eine Steigerung des Ernährungsanteils.

Das Berechnungsmodell und die verfassungsrechtliche Lage

Die Berechnung des Existenzminimums ist seit 2010 fast unverändert. Auch die Bürgergeld-Reform hat es nicht berührt, sondern nur die jährliche Fortschreibung verändert – wobei wegen der Preissteigerungen der letzten Jahre die Kaufkraft im Ergebnis nicht stieg. Die Ausgangswerte basieren nicht – wie oft behauptet – auf einem reinen Statistikmodell, sondern auf einem „Statistik-Warenkorb“ (BVerfG 2010, Rz. 43; Bonin u.a. 2023, S. 8f, 29, 55). Im ersten – statistischen – Rechenschritt werden die Konsumausgaben der einkommensärmsten 15 % der Haushalte (für Kinder: 20 %) anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe berechnet. Daraus werden im zweiten Rechenschritt wie aus einem Warenkorb zahlreiche Positionen herausgestrichen, die als nicht regelbedarfsrelevant eingestuft werden. Unter anderem zählen dazu Tierfutter, Zimmerpflanzen, Adventskränze und jegliche Gaststättenbesuche.

Was bei diesem Methodenmix auffällt: Er wird nur in eine Richtung praktiziert, nämlich zur Absenkung der Ergebnisse. Reale Ausgaben werden gestrichen, weil sie normativ als nicht existenznotwendig betrachtet werden. Umgekehrt könnten auch Ausgaben erhöht werden, weil sie normativ für notwendig erachtet werden. Das findet aber nicht statt. Die so berechneten Leistungen sollen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verwirklichen, das 2010 vom Bundesverfassungsgericht festgestellt wurde. Das Gericht hatte wesentliche Aussagen zur Prüfungsdichte gemacht und die bisherigen Beträge als verfassungswidrig verworfen. Nicht wegen ihrer Höhe, sondern wegen ihrer intransparenten und methodisch unklaren Berechnung. In Bezug auf die Höhe stellte das Gericht fest, dass verfassungsrechtlich nur eine evidente Unterschreitung verboten ist.

Die Neuberechnung, die danach vorgenommen werden musste, führte jedoch nur zu einer marginalen Erhöhung der Leistungen, weil der Fokus aufs Verfahren viele Stellschrauben eröffnet, u.a. etwa eine Absenkung der Referenzgruppe für Erwachsene. Zudem wurden die Streichungen von Ausgabenpositionen genauer beziffert.

In einer weiteren, sozialrechtlich umstrittenen (Rosenow 2022) Entscheidung im Jahr 2014 prüfte das Gericht die Anwendung seiner Anforderungen. Erneut kam es zu dem Ergebnis, dass der Betrag nicht evident zu niedrig ist. Diesmal befand das Gericht auch das Berechnungsverfahren für „derzeit noch“ verfassungsgemäß, obwohl sämtliche der eingeholten Stellungnahmen – außer die der Bundesregierung selbst – dies anders bewertet hatten. Allerdings betonte das Gericht, dass der Gesetzgeber mit den umfänglichen Streichungen „an die Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist“, kommt (BVerfG 2014, Rn. 121).

Zwar beschränkt sich das BVerfG bei der Leistungshöhe auf eine Evidenzkontrolle, und diese „bezieht sich im Wege einer Gesamtschau […] auf die Höhe der Leistungen insgesamt und nicht auf einzelne Berechnungselemente“ (BVerfG 2014, Rz. 81, ebenso Rz. 87). Dennoch kommt dem Ernährungsanteil am Bürgergeld bei der Evidenzprüfung eine besondere Bedeutung zu, da er ein Drittel des gesamten Regelbedarfs ausmacht. Zudem räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Konkretisierung der physischen Seite des Grundrechts weniger Gestaltungsspielraum ein als bei derjenigen der sozialen Seite (BVerfG 2010, Rz. 138). Eine Überprüfung ist nur anhand der einzelnen Berechnungselemente, die in den Gesetzesmaterialien genau beziffert werden, möglich. Dementsprechend hat das BVerfG in seiner ersten Entscheidung zum menschenwürdigen Existenzminimum von 2010 das positive Ergebnis der Evidenzprüfung schwerpunktmäßig mit dem Ernährungsanteil begründet und auf eine Untersuchung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge verwiesen, wonach der Regelbedarf die Ernährung eines Alleinstehenden mit Vollkost decken könne (BVerfG 2010, Rz. 152).

Aktuelle ernährungswissenschaftliche Forschung

Neue ernährungswissenschaftliche Befunde widerlegen diese Annahme. Die Ernährungswissenschaften beschäftigen sich seit mehreren Jahren mit der Frage, ob die Anteile, die bei der Regelbedarfsberechnung für Ernährung berücksichtigt werden, für eine gesunde Ernährung ausreichen. „Gesunde“ Ernährung wird dabei in der Regel entsprechend der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für eine gesundheitsfördernde Ernährung operationalisiert. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben den Stand der fachlichen Äußerungen dazu aufbereitet. Die darin gelisteten Studien unterscheiden sich im Design, in der Preisbildung usw., sind aber in ihrer Einhelligkeit deutlich: Alle bis auf eine ältere und sehr umstrittene Arbeit (Thießen/Fischer 2008) stellen fest, dass eine gesunde Ernährung mehr kostet, als bei der Regelbedarfsberechnung für Nahrungsmittel berücksichtigt wird. Vier der gelisteten Veröffentlichungen (Thiele 2014, Biesalski 2021, Preuße 2018, Kabisch u.a. 2021) beziehen sich auf das geltende Berechnungsmodell des Regelbedarfs, basieren jeweils auf eigenständigen empirischen Untersuchungen und sind sämtlich erst nach dem Urteil von 2014 entstanden.

2020 stellte auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Beirat) fest, dass die Regelbedarfe realistisch nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung entsprechend der DGE-Empfehlungen ausreichen. Die Berechnungsgrundlagen und -methoden der Regelbedarfsermittlung seien daher zu überprüfen. Ausdrücklich hielt der Beirat fest, dass „reine Informationsmaßnahmen und generelle Appelle zum Konsum von nachhaltigeren Lebensmitteln als Instrumente weniger geeignet“ sind als finanzielle Leistungen. Als Vertiefung dieses Befunds berechnete Biesalski 2021, dass eine Ernährung von den Beträgen, die bei der Regelbedarfsberechnung zugrunde gelegt wurden, bei Kindern und Jugendliche zu Wachstumsverzögerungen und einer eingeschränkten kognitiven Entwicklung führen kann. Ebenfalls 2021 belegten Kabisch u.a., dass der Ernährungsanteil für alleinlebende Erwachsene selbst dann nicht für eine gesunde Ernährung genügt, wenn von mehreren gesunden Ernährungsweisen die günstigste (im Ergebnis: die vegetarische) betrachtet wird. Im März 2023 bestätigte der Beirat seinen Befund, dass die aktuellen Regelbedarfsanteile nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung ausreichen, und wiederholte seine Forderung nach einer entsprechenden Anpassung der Berechnungsmethode (S. If, XIII, 109).

Die Einhelligkeit des ernährungswissenschaftlichen Forschungsstands ist nicht überraschend, denn die Regelbedarfe werden anhand einer relativ armen Referenzgruppe berechnet. Dabei wird unterstellt, dass die Ausgaben von Menschen im unteren Einkommenssegment zwar bescheiden ausfallen, aber trotzdem für ein menschenwürdiges Existenzminimum genügen. Im Bereich der Ernährung bestehen aber ernsthafte Zweifel an dieser Annahme. Die Berechnung der Regelbedarfe basiert auch auf den Ausgaben von Haushalten, die finanzielle Probleme bei der Ernährung angeben, darunter viele Rentner:innen. Zusätzlich sind die statistisch angegebenen Beträge irreführend niedrig, weil viele Haushalte in der Referenzgruppe Tafeln nutzen und dieser kostensenkende Effekt nicht herausgerechnet wird.1) Im Ergebnis erfüllt das derzeitige Existenzminimum das normative Kriterium der Gleichstellung – allerdings der „Gleichstellung in Mangelernährung“2).

Verfassungsrechtliche Konsequenzen

Die neuere ernährungswissenschaftliche Forschung weicht also von dem, was das BVerfG 2010 als Forschungsstand annehmen musste, ab. Die Frage, ob die Leistungen „nicht als evident unzureichend erkannt werden“ können (BVerfG 2010, Rz. 151) oder die „Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf nicht erkennen [lässt], dass der existenzsichernde Bedarf offensichtlich nicht gedeckt wäre“ (BVerfG 2014, Rz. 87), müsste nach den aktuellen Erkenntnissen mithin anders beantwortet werden. Aber auch im Bereich der Verfahrensanforderungen ans Existenzminimum spielen die ernährungswissenschaftlichen Befunde eine Rolle. Das BVerfG hat festgehalten, dass die Leistungsbemessung daraufhin kontrolliert werden muss, ob sie dem Ziel des Grundrechts – der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums gerecht wird (BVerfG 2010, Rz. 142). 2014 hat es dies wiederholt und gefordert, dass die Ergebnisse des Verfahrens  fortwährend überprüft und weiterentwickelt werden müssen (BVerfG 2014, Rz. 79). Dabei sind auch Bedenken in Bezug auf einzelne Rechenelemente zu berücksichtigen: Zwar schlagen diese „nicht ohne Weiteres auf die verfassungsrechtliche Beurteilung durch. Allerdings darf der Gesetzgeber ernsthafte Bedenken, die auf tatsächliche Gefahren der Unterdeckung verweisen, nicht einfach auf sich beruhen lassen und fortschreiben. Er ist vielmehr gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren“ (BVerfG 2014, Rz. 142). So untersuchte das Gericht 2014 innerhalb seiner Prüfung des Berechnungsverfahrens gesondert die Einzelposition der Schulbedarfe (BVerfG 2014, Rz. 135). Eine solche Prüfung kann u.a. „aufgrund offensichtlich bedarfsrelevanter Entwicklungen“ erforderlich sein (BVerfG 2014, Rz. 109).

Eine bedarfsrelevante Entwicklung ist hier gegeben, denn darunter kann nicht nur die Preisentwicklung selbst gefasst werden, sondern auch eine wissenschaftliche Entwicklung, die die Erreichung des grundrechtlichen Ziels betrifft. Mit der Aufnahme des Befunds in Stellungnahmen eines ministeriellen Beirats ist er auch offensichtlich.

In Reaktion auf die Befunde könnte entweder die Referenzgruppe vergrößert werden, so dass die Ausgaben einer weniger verarmten Gruppe herangezogen werden. Das würde aber auch Ausgaben in anderen Bereichen betreffen. Alternativ dazu könnten einzelne Positionen durch Warenkorb-Rechenschritte erhöht werden. Denn wo aus dem Statistik-Warenkorb Dinge herausgenommen werden können, ist es auch möglich, Dinge hineinzulegen. Das BVerfG hält Modifikationen des Rechenmodells für zulässig, sofern sie sachlich gerechtfertigt sind (BVerfG 2010, Rz. 139) und das gesamte Modell nicht in Frage stellen (BVerfG 2014, Rz. 109). Auf die Möglichkeit von Warenkorb-Steigerungen wies das BVerfG ausdrücklich hin: Wenn bei der Überprüfung der statistisch ermittelten Beträge Änderungen festgestellt werden, die die Bedarfsdeckung betreffen, „kann der Gesetzgeber mit Hilfe der Warenkorbmethode vielmehr auch kontrollierend sicherstellen, dass der existentielle Bedarf tatsächlich gedeckt ist.“ (BVerfG 2014, Rz. 109).

Zusätzlich ist der Gesetzgeber auch durch völkerrechtliche Verpflichtungen bei der Bestimmung des Existenzminimums gebunden (BVerfG 2014, Rz. 74, mit Verweis auf BVerfG vom 18.7.2012, Rz. 68). Mit Verweis auf die niedrigen Ernährungsanteile an der Berechnung kommt ein aktuelles Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Höhe des Existenzminimums das Menschenrecht auf angemessene Ernährung aus Art. 11 des UN-Sozialpakts verletzt, denn „eine gesunde Ernährung wäre mit den Bürgergeld-Regelsätzen nur unter Verzicht auf andere grundlegende Bedürfnisse möglich. Dies ist aber gerade nicht ausreichend, um den völkerrechtlichen Anforderungen zu genügen, sodass im Ergebnis eine Erhöhung der Regelsätze geboten ist“ (S. 23). Weil Deutschland 2023 dem Individualbeschwerdeverfahren des Pakts beigetreten ist, könnte dies nun auch individuell geprüft werden.

References

References
1 Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, Stellungnahme zum BVerfG-Urteil 2014, zitiert vom BVerfG 2014, Rz. 64.
2 Vorbemerkung der Fragesteller zur Kleinen Anfrage in BT-Drs. 20/7638, S. 2; Kanzlei Günther 2023, S. 18.

SUGGESTED CITATION  Lincoln, Sarah; Müller, Ulrike: Ernährung am Existenzminimum: Wie viel Gesundheit verlangt das Grundgesetz?, VerfBlog, 2024/4/30, https://verfassungsblog.de/ernahrung-am-existenzminimum/, DOI: 10.59704/c288e0e074b2068c.

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