Für eine Neuregelung der pandemiebedingten Triage
Was tun, wenn in einer Notlage mehr Patienten intensivmedizinisch betreut werden müssen, als betreut werden können? Diese Frage klang lange eher abstrakt und akademisch, wurde während der Covid-19-Pandemie aber erschreckend konkret und real. Wie sollen Ärzte also entscheiden, wer behandelt wird, wenn nicht alle, die eine Behandlung brauchen, versorgt werden können?
Noch 2020, dem Jahr, als Corona in Europa ausbrach, haben sich etliche Expertengruppen – von medizinischen Fachgesellschaften und ärztlichen Interessensvertretungen bis hin zum Deutschen Ethikrat – mit dieser Frage beschäftigt. Die allermeisten Empfehlungen stellten auf das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht ab. Demnach soll im Zweifel die Person behandelt werden, bei der die Wahrscheinlichkeit, aufgrund der Behandlung zu überleben, größer ist als bei einer anderen Person. Abgestellt wurde auf den kurzfristigen klinischen Erfolg, nicht auf die längerfristige Lebenserwartung. Alte Menschen sollten schließlich nicht diskriminiert werden.
Triage ohne Diskriminierung
Allerdings ist es gar nicht so leicht, Menschen nicht wegen ihres Alters zu diskriminieren. Da ältere Menschen durchschnittlich in schlechterer körperlicher Verfassung sind als jüngere, reduziert sich die Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs für erstere. Gleiches gilt für einige schwere Behinderungen. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber Ende 2021 den Auftrag erteilt, eine gesetzliche Regelung der Triage zu schaffen, die sicherstellt, dass niemand aufgrund einer Behinderung benachteiligt wird.
Die 2022 verabschiedete Regelung in § 5c des Infektionsschutzgesetzes macht nun mehrfach deutlich, dass man aufgrund seines Alters oder einer Behinderung grundsätzlich nicht benachteiligt werden darf. Allerdings gibt es eine Einschränkung: Hat man eine Vorerkrankung, die „aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringer[t]“, darf diese für die Beurteilung der klinischen Erfolgsaussicht doch berücksichtigt werden. Was der Gesetzgeber mit dieser schwer verständlichen Formulierung sagen will, ist, dass die Berücksichtigung einer alters- oder behinderungsbedingten Vorerkrankung dann nicht als diskriminierend angesehen wird, wenn sie (allein oder im Zusammenspiel mit anderen Gesundheitsfaktoren) besonders schwerwiegend ist und sich deutlich auf den Behandlungserfolg auswirkt.
Der neue § 5c des Infektionsschutzgesetzes wirft noch eine Reihe weiterer Fragen auf, zum Beispiel diese: Welche Rolle spielen eigentlich diejenigen, die nicht behandelt werden, weil es nicht genügend Ressourcen gibt? Das Kriterium der kurzfristigen klinischen Erfolgsaussicht berücksichtigt nur die Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt X behandlungsbedürftig sind. Bei Triage-Entscheidungen ist aber auch relevant, welche Ressourcen eine Behandlung erfordert und wie lange sie dauert. Je schneller eine Behandlung abgeschlossen werden kann und je weniger Ressourcen sie benötigt, desto mehr Menschen, die nach dem Zeitpunkt X behandlungsbedürftig werden, können in den Genuss einer Behandlung kommen. Wenn es darum geht, möglichst viele Menschen zu retten, muss man den Ressourcenbedarf berücksichtigen. Was in solchen Dilemmasituationen aus moralischer Sicht zu tun ist, ist natürlich schwer zu entscheiden. Nicht schwer zu sagen ist allerdings, dass die Nichtberücksichtigung derer, die zu einem späteren Zeitpunkt erkranken, wenig plausibel ist. Das hat die Philosophin Weyma Lübbe schon 2020 im Verfassungsblog gezeigt.
Verbot der Ex-Post-Triage
Der Gesetzgeber könnte bald wieder Gelegenheit haben, das Gesetz zu verbessern. Der Marburger Bund unterstützt die Verfassungsbeschwerde einiger Ärztinnen und Ärzte gegen die Regelung der Triage im Infektionsschutzgesetz. Konkret geht es um eine Regelung, die ich bisher nicht angesprochen habe, nämlich das Verbot der sogenannten Ex-post-Triage. Bei der Ex-post-Triage geht es um Fälle, in denen eine Person nur dann intensivmedizinisch behandelt werden kann, wenn dafür die Behandlung einer anderen Person abgebrochen wird. Nach dem Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht wäre ein solches Vorgehen geboten, wenn die Überlebenswahrscheinlichkeit des neuen Patienten höher ist als die des schon länger Behandelten. Mit dem Verbot der Ex-post-Triage will man also verhindern, dass eine bereits begonnene Behandlung der einen Person zugunsten der Behandlung einer anderen Person beendet wird.
Der Marburger Bund sieht durch das Verbot der Ex-post-Triage die Berufsfreiheit der Ärzte verletzt. Die Behandlung einer Person abzubrechen, um zu verhindern, dass eine andere Person mit vergleichsweise guter Prognose stirbt, sei eine genuin ärztliche Entscheidung, die der Gesetzgeber nicht vorwegnehmen und auch nicht strafrechtlich sanktionieren dürfe.
Wie auch immer man zu dieser konkreten Forderung steht: Es sprechen gewichtige Gründe dafür, die gesetzliche Regelung der Ex-post-Triage zu überdenken. Was aussieht wie eine bloße Einschränkung des Kriteriums der klinischen Erfolgsaussicht für einige wenige Extremfälle, ist tatsächlich eine Grundsatzentscheidung. Mehr noch, diese Grundsatzentscheidung erfasst praktisch alle Fälle von Triage und macht alle zuvor angesprochenen Fragen in fast allen Situationen null und nichtig.
Weitreichende Implikationen des Verbots
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich den Unterschied zwischen einem Katastrophenszenario (wie dem Absturz eines Passagierflugzeugs) einerseits und einer Pandemie andererseits vor Augen führen. Wenn ein Flugzeug abstürzt, müssen im gleichen Moment – zum Zeitpunkt des Absturzes – hunderte Menschen am gleichen Ort behandelt werden. In einer Pandemie gibt es diesen einen Moment nicht. Menschen stecken sich weder zeitgleich an, noch entwickeln sie infolge der Ansteckung exakt zur gleichen Zeit schwere Lungenerkrankungen. Sie kommen auch nicht alle gleichzeitig im Krankenhaus an. Während man also bei einem Flugzeugabsturz durchaus in die Lage kommen kann, dass viele Menschen auf einen Schlag knappe Ressourcen benötigen, ist das in einer Pandemie praktisch nie der Fall.
In der Pandemie führt die Knappheit von Ressourcen vielmehr zu einem zeitlich gestaffelten Zuteilungsproblem. Solange genug Personal und medizinisches Gerät vorhanden sind, wird jeder Patient behandelt. Der erste Patient aber, der im Krankenhaus ankommt, wenn die Ressourcen ausgeschöpft sind, kann nur dann behandelt werden, wenn dafür die Behandlung eines anderen Patienten abgebrochen wird. Da diese Ex-post-Triage verboten ist, wird er abgewiesen, selbst wenn das seinen sicheren Tod bedeutet.
Diese zeitliche Struktur haben fast alle Fälle von Triage in der Pandemie. Sobald und solange die Ressourcen ausgeschöpft sind, müssen wegen des Verbots der Ex-post-Triage alle neu ankommenden Patienten abgewiesen werden. Dieses Verbot ist damit das einzig wirklich entscheidende Kriterium. Die klinische Erfolgsaussicht ist ebenso irrelevant wie alle Versuche, Diskriminierungen zu verhindern. Schließlich werden, solange es geht, alle unterschiedslos behandelt. Sobald das allerdings nicht mehr geht, werden alle unterschiedslos abgewiesen.
Die einzige Ausnahme davon ist eher hypothetischer Natur. Sie käme dann zum Tragen, wenn alle Patienten, die zu einem Zeitpunkt eingeliefert werden, an dem sie nicht intensivmedizinisch behandelt werden können, auf einer Liste geführt würden, bis wieder ein Bett frei wird. Dann nämlich könnte das freigewordene Bett an die Person vergeben werden, bei der von allen auf der Liste die besten klinischen Erfolgsaussichten bestehen. Dafür müsste diese Person freilich noch am Leben sein. Ferner müsste die klinische Erfolgsaussicht für alle Personen auf der Liste zu dem Zeitpunkt erhoben werden, in dem das Bett frei wird. Ein solches Listenverfahren, welches das geltende Gesetz vorgibt, dürfte praktisch unmöglich umzusetzen sein. Das freiwerdende Bett wird in der Praxis vermutlich einfach an die letzte Person gehen, die eingeliefert wurde, und bei der einigermaßen gute Erfolgsaussichten bestehen.
Vorteile der radikalen Lösung
Es ist schwer zu sagen, ob der Gesetzgeber dieses ziemlich radikale Ergebnis wirklich wollte oder ob er die Reichweite dieser Regelung schlicht nicht erkannt hat. Jedenfalls wird das Verbot der Ex-post-Triage in der Gesetzesbegründung nur beiläufig erwähnt und gar nicht begründet. Auch in der Debatte spielte (und spielt) die Tatsache, dass mit dem Verbot der Ex-post-Triage der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns praktisch zum einzigen Entscheidungskriterium wird, keine Rolle. Die vom Marburger Bund unterstützte Verfassungsbeschwerde ist eine gute Gelegenheit, das Gesetz vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen.
Allerdings spricht einiges für die derzeitige radikale Lösung, ausschließlich nach dem Zeitpunkt des Behandlungsbeginns zu entscheiden. So wären etwa Diskriminierungen ausgeschlossen. Auch würde diese Regelung die Menschenwürde nicht verletzen und gut zu den strafrechtlichen Vorgaben passen, die den Abbruch einer begonnenen Behandlung viel härter sanktionieren als die Abweisung eines Behandlungsbedürftigen. Nicht zuletzt wäre das medizinische Personal von der Last befreit, selbst entscheiden zu müssen, wer behandelt wird und wer nicht. Welches normative Kriterium man auch immer anlegt, diese Entscheidung wird immer extrem belastend sein. Vielleicht hilft es, die Entscheidung quasi dem Schicksal zu überlassen, auch wenn der Marburger Bund das anders zu sehen scheint. Dann müsste man sich aber auch darüber Gedanken machen, wie man mit denen verfährt, die nicht intensivmedizinisch behandelt werden können und auf einer Liste der Behandlungsbedürftigen landen. Wer bekommt das nächste freiwerdende Bett?
Ob man nun die radikale Lösung beibehalten möchte oder nicht, der Gesetzgeber sollte eine Regelung schaffen, die die tatsächliche Entscheidungsregel klar formuliert. Das wäre im Sinne der Ärzte und aller potentieller Patienten – und das sind wir alle.