Von der Ausnahme zur Regel?
Formelle und faktische Inhaftierungen im neuen GEAS
„Haft“ und Freiheitsbeschränkungen waren und sind bei den Diskussionen um das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zentrale Schlagworte. Die Kommission hat freiheitsentziehenden und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen im gesamten Reformprozess erhebliche Bedeutung beigemessen. Es wurde viel über die Inhaftierung von Kindern gesprochen, die nach Ansicht von Regierungsparteien, die das GEAS verabschiedeten, nicht möglich sein sollte. Teilweise wurde behauptet, dass das Grenzverfahren gar keine Haft beinhaltete – das Bundesinnenministerium hält das für einen „Fakt“.
Schon daran zeigt sich, dass die umfangreiche Beleuchtung des Themas für einen Blogbeitrag überambitioniert ist – denn es geht nicht nur um die Frage, wann eine Inhaftierung erlaubt ist. Umstritten ist auch, wann eine Unterbringung überhaupt als Inhaftierung zu bewerten ist. Hier ist dogmatisch zwischen Freiheitsentzug einerseits und „bloßer“ Freiheitsbeschränkung andererseits zu unterscheiden. Allerdings ist diese Unterscheidung grund- und menschenrechtlich nicht trennscharf; der EGMR nennt sie „sometimes a matter of pure opinion“ (hier, Rn. 93).
In diesem Beitrag wird deshalb einerseits die Zunahme von Möglichkeiten der formellen Inhaftnahme dargestellt. Außerdem werden weitere Inhaftierungspotentiale – also faktischer Freiheitsentzug, ohne dass dieser als solcher bezeichnet wird – aufgezeigt.
Asylverfahrenshaft und „Dublin“-Haft
Klare Fälle von Haft sind jedoch diejenigen Tatbestände des Freiheitsentzuges, die sogar formell als Haft bezeichnet werden. Ist ein Asylantrag (formlos) gestellt, dann sind Asylverfahrensverordnung (VO (EU) 2024/1348, AVO), Aufnahmerichtline (RL 2024/1346/EU, ARL) und Asylmigrationsmanagement-Verordnung (VO (EU) 2024/1351, AMMVO) anwendbar. Eine Inhaftierung während des Verfahrens richtet sich demnach vor allem nach der ARL und der AMMVO („Dublin-Haft“). In Deutschland war eine Inhaftierung während und für den Zweck des Asylverfahrens bisher nicht geregelt. Der Begriff der „Asylverfahrenshaft“, der sich im GEAS-Umsetzungsgesetzesentwurf (§§ 69 f. AsylG-E) fand, wurde deshalb von Kommentator:innen entsprechend kritisiert. Die alte AufnahmeRL (dort Art. 8 ff.) kannte die Möglichkeit der Inhaftnahme während des Verfahrens indes bereits und die Veränderungen zu eben dieser mögen klein erscheinen, sind aber erheblich.
Die Regelungen zur Haft im Asylverfahren sind, wie beinahe überall, kleinteiliger geworden und in Art. 8 – 11 ARL geregelt (zuvor Art. 10 – 13). Wie gehabt dürfen danach Antragsteller:innen nicht allein deshalb in Haft genommen werden, weil sie einen Asylantrag gestellt haben. Explizit darf nun auch die Nationalität nicht alleiniger Grund sein (Art. 10 Abs. 1 ARL). Weiterhin ist die Inhaftierung nur als letztes Mittel und nur nach Einzelfallprüfung möglich (Art. 10 Abs. 2 ARL). Die Haftgründe sind in Absatz 3 abschließend geregelt.
Eine entscheidende Verschärfung ist, dass ein Haftgrund schon dann vorliegen soll, wenn angeordnete freiheitsbeschränkende Maßnahmen (aus Art. 9 ARL) verletzt worden sind und weiterhin Fluchtgefahr besteht (Art. 10 Abs. 4 lit. c ARL). So werden vermeintliche Haftalternativen zum Haftgrund. Die übrigen Haftgründe bleiben unverändert, insbesondere reicht auch für sich genommen aus, dass ein Grenzverfahren durchgeführt wird (Art. 13 Abs. 2 lit. d).
Die Inhaftierung muss jedenfalls weiterhin möglichst kurz sein (Art. 11 Abs. 1 ARL). Eine Obergrenze ist aber, anders als etwa im Rückkehrverfahren, nicht normiert. Bestehen bleibt die Pflicht, eine Verteidigung zu bestellen, „soweit diese zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist“. Das allerdings nur, wenn die Haft durch eine Verwaltungsbehörde angeordnet wird oder wenn sie von Amts wegen überprüft wird (vgl. Art. 11 Abs. 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 2 ARL). Dies ist vor allem deshalb interessant, weil die Bundesregierung die:den Pflichtanwält:in gleich wieder abschaffen will.
Besonders bedenklich und im Ergebnis kinder- und menschenrechtswidrig stellen sich die Inhaftierungsmöglichkeiten von Kindern dar. Denn Minderjährige nicht mehr nur „im äußersten Fall“, sondern bereits dann in Haft genommen werden, wenn sich eine primäre Betreuungsperson in Haft befindet (Art. 13 Abs. 2 lit. a ARL). Sind sie unbegleitet, dürfen sie inhaftiert werden, falls „die Haft den Minderjährigen schützt“ (lit. b) – Wortlaut und avisierte Praxis der Neuregelung erinnern stark an das griechische Modell der „Schutzhaft“ („protective custody“) von unbegleiteten Minderjährigen, das der EGMR in zahlreichen Verfahren für rechtswidrig gehalten und Griechenland entsprechend verurteilt hat (zuletzt etwa hier). Dazu in diesem Symposium González Méndez de Vigo/Endres de Oliveira.
Eine Inhaftierung zur Sicherung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ist weiterhin nicht allein deshalb möglich, weil sich die Person im Verteilungsverfahren (aktuell noch bekannt als „Dublin-Verfahren“) befindet (nunmehr Art. 44 AMMVO, zuvor Art. 28 Dublin-III-VO). Auch hier zeigt sich aber eine Vereinfachung der Inhaftnahme: Musste vorher eine „erhebliche“ Fluchtgefahr vorliegen, ist nun die „einfache“ Fluchtgefahr ausreichend (Abs. 2 AMMVO). Dabei bleibt die Definition der Fluchtgefahr – anders als im Entwurf zur neuen Grenzrückführungsverordnung (VO (EU) 2024/1349, RVO) – weitgehend unverändert (Art. 2 Nr. 18 RVO). Weiterhin ist nun die Haft auch dann möglich, wenn „dies zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich“ ist (Art. 44 Abs. 2 AMVO). Ein derartiger Sicherheitstatbestand ist allerdings im Hinblick auf die Verteilungsfunktion der AMMVO zunächst ein sachfremder Grund. Im Übrigen wäre dieser auch bereits von der Aufnahmerichtlinie gedeckt.
Inhaftierungen bei unrechtmäßigem Aufenthalt
An das Grenzverfahren kann sich nunmehr ein Rückkehrgrenzverfahren anschließen. Art. 5 RVO ermöglicht dazu eine formelle Inhaftierung, und zwar immer, wenn sich Betroffene bereits im Grenzverfahren in Haft befunden haben. Ein Haftgrund liegt außerdem vor, wenn Betroffene „die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern oder wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder für die nationale Sicherheit darstellen“ – insofern deckungsgleich mit der alten RückführungsRL (RL 2008/115/EG – dort Art. 15).
Neben der für die Grenzverfahren einschlägigen Grenzrückführungsverordnung ist bei Rückführungen aus den Mitgliedsstaaten auch die nun neu geplante Rückführungsverordnung relevant. Obwohl die RückführungsVO seit März nur als Entwurf vorliegt, soll sie möglichst zeitgleich mit den Regelungen des GEAS angewendet werden. Sie wäre wie die alte RückführungsRL immer dann anwendbar, wenn sich Personen unrechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates aufhalten (Art. 2 Abs. 1), also vor und nach dem Asylverfahren. Ausgenommen sind Fälle, in denen die Fiktion der Nichteinreise gelten soll – dann ist die GrenzrückführungsVO einschlägig (siehe oben).
Über die generelle Dogmatik der RückführungsVO-E ist an anderer Stelle berichtet worden. Augenfällig ist der Fokus auf das Erfordernis der „Kooperation“ (Art. 21) – eine (umfangreiche) Konzeption, nach der der Großteil der in den Anwendungsbereich fallenden Personen unkooperativ sein dürfte. Im Fall der mangelnden Kooperation soll die freiwillige Ausreise nicht mehr vorrangig und die Inhaftierung besonders einfach sein. Es müsste zwar eine Einzelfallprüfung durchgeführt werden, die Haft müsste aber nur noch verhältnismäßig und nicht wie bisher ultima ratio sein (Art. 29 Abs. 1).
Außerdem sind mehr Haftgründe als aktuell vorgesehen, insbesondere sollen „Sicherheitsrisiken“ und das Verweigern alternativer Maßnahmen (Abs. 3 lit. c und e) in Zukunft eine Inhaftierung rechtfertigen. Entscheidendste Änderung des Kommissionsvorschlags ist aber die extrem kleinteilige Definition des Haftgrunds der „Fluchtgefahr“ (lit. a). Umfasst die Definition aktuell noch einen Absatz (Art. 2 Nr. 7 RückführungsRL), führt Art. 30 RückführungsVO-E auf zirka einer Seite aus, dass auch unkooperatives Verhalten eine Fluchtgefahr begründen könne (Abs. 2 lit. d). Zudem soll die Haft in Zukunft bis zu 24 (statt bisher 18) Monate dauern (Art. 32 Abs. 3). Auch die vorgesehenen „Return Hubs“ (Art. 17) werden stets mit Inhaftierungen verbunden sein, wie das Italien-Albanien-Modell zeigt.
Faktische Haft im Grenzverfahren
Die GEAS-Reform kennt eine ganze Reihe von Inhaftierungspotentialen, also Möglichkeiten der Freiheitsentziehung, ohne dass sie als solche behandelt werden. Über diese „faktischen“ Inhaftierungen, insbesondere über das Grenzverfahren, ist viel diskutiert worden. Die Erwägungen sind auch auf das Screening übertragbar (dazu in diesem Symposium Priebe). In diesen Fällen geht das Bundesinnenministerium nicht von Haft aus, EGMR (hier) und EuGH (hier) tun dies – in aller Regel – sehr wohl.
In der Diskussion um die Grenzverfahren wird meist angeführt, dass die dafür vorgesehenen Anlagen nur „in eine Richtung geschlossen“ seien. Deshalb liege keine Inhaftierung vor, weil die Einrichtung in die Richtung, aus der Personen gekommen sind (also Transit- oder Herkunftsland), verlassen werden könne. Bezug genommen wird häufig auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Flughafenverfahren – diese ist jedoch nicht mit den Maßstäben von EuGH und EGMR vereinbar. Vielmehr unterscheidet insbesondere der EGMR streng zwischen Land- und anderen Grenzen. In der Rechtssache Ilias und Ahmad verstand er ein Festhalten in der Transitzone zwischen Ungarn und Serbien nicht als Freiheitsentziehung, denn das Verlassen in Richtung Serbien sei „theoretisch und praktisch“ möglich gewesen. Anders entschied er bezüglich der gleichen Transitzone in R.R. Bei der Begründung grenzt der Gerichtshof sein Urteil aber klar gegen andere Situationen ab, etwa Unterbringung am Flughafen (Z.A.) oder auf einer Insel (J.R.), wo die Antragsteller:innen jeweils auf Hilfsmittel – z.B. ein Boot oder Genehmigungen, etwa die, ein Flugzeug zu besteigen – angewiesen sind. Solche Fälle stuft der EGMR eindeutig als Inhaftierung ein (zum Ganzen ausführlich hier, S. 25 ff., auch hinsichtlich EuGH-Rechtsprechung).
Faktische Haft bei der Wohnsitzauflage
Weitere „Beschränkungen der Bewegungsfreiheit“ sieht Art. 9 AufnahmeRL vor, der über den bisherigen Art. 7 hinausgeht. Nach dessen Abs. 1 können die „Mitgliedstaaten […] erforderlichenfalls aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder, wenn Fluchtgefahr besteht, zur wirksamen Verhinderung einer Flucht des Antragstellers eine Entscheidung treffen, dass sich ein Antragsteller nur an einem bestimmten Ort aufhalten darf, der zur Unterbringung von Antragstellern geeignet ist“. Allerdings spricht die englische Fassung nicht von „aufhalten“, sondern von reside, die französische von résider, die spanische von residir – alles am ehesten mit „wohnen“ oder „wohnhaft sein“ zu übersetzen. Zwar kennt das Unionsrecht (anders als die EMRK) keine amtliche Fassung. Nach Ansicht des EuGH verbietet die Notwendigkeit der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sogar eine isolierte Betrachtung nur einer Sprachfassung, sondern „gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen anderen Amtssprachen auszulegen“ (vgl. hier, Rn. 22). Demnach ist in Art. 9 AufnahmeRL eine Wohnsitzverpflichtung, kein die Bewegungsfreiheit betreffendes Verlassensverbot, zu sehen.
Im deutschen Umsetzungsentwurf ist bisher in § 68 AsylG-E vorgesehen, dass angeordnet werden kann, „dass sich ein Ausländer nur an dem nach § 47 [Aufnahmeeinrichtung] bestimmten Ort aufhalten darf“. Geht man davon aus, dass unionsrechtlich Haft auch weiterhin als „die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“ (Art. 2 Nr. 9 AufnahmRL) definiert ist, dann ist in der Umsetzungsgesetzgebung eine Inhaftierung vorgesehen, die nicht die grund-, menschen- und unionsrechtlichen formellen Mindeststandards erfüllt. Die Umsetzung stellt sich insoweit als unionsrechtswidrig dar und ist anzupassen.
Haft bleibt Haft
Angesichts des Umfangs der Regelungen kann es nicht Anspruch des Beitrags sein, die Gefahren der Freiheitsentziehung im neuen GEAS umfassend zu beleuchten. Doch wird schon an der kurzen Darstellung deutlich, dass die Regelungen kleinteiliger geworden sind. Damit einher geht, dass auch deren Anwendung komplexer wird und die Fehleranfälligkeit hoch ist. Insgesamt wird die Inhaftierung für Staaten einfacher möglich sein. Davon sollte jedoch mit Blick auf den ultima-ratio Charakter der Inhaftierung nicht automatisch Gebrauch gemacht werden. Es ist abzusehen, dass sich der Großteil der Haftanordnungen – nicht nur, aber insbesondere auch für Kinder – als rechtswidrig darstellen wird. Denn dies ist in Deutschland schon heute der Fall. Und schließlich ist auch der allgemeine Trend beunruhigend, Unterbringungen, die eine Freiheitsentziehung darstellen und sich für Betroffene vor allem so anfühlen, nicht als solche zu bezeichnen. Denn dadurch werden grundlegende, seit der Magna Carta bestehende, habeas-corpus-Rechte vorenthalten. Was das bedeutet, kann bereits in Grenzverfahren in griechischen „Closed/Controlled Access Centers“ oder in Italien beobachtet werden: weitgehende Rechtlosigkeit.