Hans Joas wider den westlichen Menschenrechte-Triumphalismus
Wenn die Idee der Menschenrechte ein Kennzeichen der westlich-europäischen Kultur ist, Fluchtpunkt der christlich-jüdischen und humanistisch-aufklärerischen Stränge ihrer jahrtausendealten Geschichte – wie kann es dann sein, dass den größten Teil dieser Geschichte Sklaverei und Folter von Europäern legal und ohne großen Skandal praktiziert wurde?
Diese Frage stand im Mittelpunkt der “Rechtskulturen Lecture” des katholischen Sozialphilosophen und Ideenhistorikers Hans Joas, mit der die zweitägige Konferenz zum Begriff der Menschenwürde am Wissenschaftskolleg in Berlin heute Abend eingeleitet wurde. Joas zählt zu den schärfsten Kritikern des westlichen Menschenrechte-“Triumphalismus”. Und wer ihm heute zuhörte, dürfte, sofern Europäer, in seiner Neigung zur menschenrechsthistorischen Selbstgefälligkeit einen deutlichen Dämpfer erlebt haben.
Ausgangspunkt des Vortrags war die in Joas’ Buch “Die Sakralität der Person” 2011 aufgestellte These, dass die Idee der Menschenrechte weder der Aufklärung noch dem Christentum eingefallen ist, sondern im 18. Jahrhundert auf ganz andere Weise entstanden ist – durch eine kulturelle Transformation, die weniger mit bestimmten philosophischen oder religiösen Traditionen zu tun hatte als mit moralischen Evidenzerfahrungen der Heiligkeit des Menschen als Person.
Um zu belegen, dass das “selbstgefällige Narrativ von der westlichen Tradition” empirisch nicht stimmt, verwies Joas auf zwei der fundamentalsten Menschenrechtsverletzungen, die man sich vorstellen kann – Folter und Sklaverei.
Wie kann man beispielsweise erklären, so Joas, dass die Betreiber von Sklaventransportschiffen im 18. Jahrhundert ihren Schiffen Namen wie “Nossa Senhora da Esperança” oder “Le Contrat Social” oder “Liberté” gaben? Mit Zynismus? Während in Europa die Idee der Menschenrechte entstand, seien in den europäischen Kolonien in Nord-, Mittel- und Südamerika Gesellschaften entstanden, die sich ökonomisch voll und ganz auf die Sklaverei stützten. Kein Seehandel treibender Staat Europas habe sich dem Sklaventransport entzogen.
Entsprechend sieht es mit der Folter aus. Im 18. Jahrhundert in Europa abgeschafft, blieb sie in den Kolonien bis weit ins 20. Jahrhundert legale Praxis. Während Frankreich und Großbritannien in Europa die EMRK unterschrieben und nach Kräften förderten, praktizierten sie im Algerienkonflikt und bei der Niederschlagung des kenianischen Mau-Mau-Aufstand auf afrikanischem Boden nach eigenem Empfinden völlig legal Folter im großen Stil.
Vor diesem Hintergrund in westlichen “Triumphalismus” über den Erfolg der Menschenrechtsidee zu verfallen, so der Katholik Joas, sei auf die gleiche Weise selbstwidersprüchlich wie die Verwendung des Liebes- und Opfersymbols des Kreuzes als Zeichen des Krieges und der Eroberung während der Kreuzzüge.
Die Diskussion blieb, gemessen an der Provokanz dieser Thesen, relativ unkontrovers. Unter den Juristen im Publikum versuchten einige, Joas’ Sakralisierungs-These rechts- und demokratietheoretisch auf den Zahn zu fühlen – so etwa Mattias Kumm, der in Frage stellte, ob das Sakralisierungserlebnis notwendig zu liberalen Menschenrechten wie etwa Meinungsfreiheit führe oder in einer theokratischen Gesellschaft nicht auch ganz andere Früchte tragen könne. Ob da nicht weitere, politische Ideenverschiebungen dazukommen müssten, um tatsächlich Menschenrechte in die Welt zu setzen?
Joas antwortete darauf mit dem Hinweis, welche Rolle er der Religionsfreiheit für die Entdeckung der “logischen Struktur” der Menschenrechte zuschreibt. Wer glaubt, dass eine Beziehung zu Gott aufzubauen nur unter Bedingungen der Freiheit möglich ist, müsse auch dem anderen diese Freiheit zugestehen.
Eric Hilgendorf stieß sich an der “Ambiguität” des Sakralisierungsbegriffs und stellte in Frage, ob beispielsweise Voltaire von Emotionen der Heiligkeit bewegt gewesen sei. Joas bestritt daraufhin leidenschaftlich, dass sein Sakralisierungsbegriff so katholisch gemeint sei, wie er klinge. Den Begriff habe er von Émile Durkheim, Marcel Mauss, Nathan Söderblom und Rudolf Otto – keiner von ihnen Katholik. Auch dezidiert Nichtgläubigen sei der Begriff des Heiligen nicht fremd – die rote Flagge beispielsweise, oder die Wissenschaft. Und mit der heiteren Gewissheit des Gläubigen vereinnahmte Joas zu guter Letzt das gesamte Publikum für seine These, Hilgendorf eingeschlossen: “Alle unter uns, auch Sie, haben bestimmte grundlegende Überzeugungen, zu denen Sie nicht durch Argumente gelangt sind.”
Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage ist einfach: Weil die Sklaverei jahrtausendelang universell als legitim galt.
Den Westen zeichnete nicht aus, dass er Sklaverei hatte, sondern dass er zuerst ihr tiefes Unrecht erkannte und vom Westen ausgehend die Sklaverei geächtet und abgeschafft wurde; mit Rückschlägen und in einem langwierigen Prozess, aber letztlich haben wir unsere Freiheit Männern wie William Wilberforce, Institutionen wie der Royal Navy und letztlich der westlichen Kultur zu verdanken.
Ganz deutlich: Dass die Sklaverei von einer gesellschaftlichen Norm zu einem Verbrechen transformiert wurde, und bis auf einzelne Regionen in Afrika, auf der arabischen Halbinsel und ins Asien zurückedrängt werden konnte, IST ein Triumph des Westens,
Zeitlich früheren Systemen vorzuwerfen, dass sie die Sklaverei nicht schon vorher abschafften ist, als wolle man Carl Benz und Gottlieb Daimler vorwerfen, dass sie ihre Autos gegen jede Vernunft ohne Knautschzonen oder Sicherheitsgurte ausgerüstet haben; oder wenn man Isaac Newton als Physik-Stümper bezeichnete, weil seine Erkenntnisse und Formeln nicht im Quantenbereich gelten. Sie waren noch nicht so weit; aber nur dank ihnen – “on the shoulders of giants” – waren die großen Fortschritte möglich.
Relativismus scheint mir hier das größere Problem als “Triumphalismus” zu sein…
@HS: Chapeau! Schade, dass Sie das nicht in der Diskussion vortragen konnten.
@HS: Mit Vergleichen ist das so eine Sache. Wenn sie hinken, hätte man (in diesem Falle Sie) sie besser nicht angestellt.
1. Fehlende Knautschzone und fehlender Sicherheitsgurt sind Erfindnungen, die es zu Zeiten von Benz und Daimler einfach noch nicht gab. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Sklaverei um eine Idee, ja eine Erfindung, die es schon länger gab. Wenn Sie hier schon etwas aus der Kategorie „Verkehr“ als Beispiel heranziehen möchten, dann doch eher das Ende des Fuhrwerks anlässlich der Verbreitung des Verbrennungsmotors.
2. Das fehlende Wissen über das Mikroskopische und damit eventuelle Grenzen der Newtonschen Theorie kann man Newton natürlich nicht vorwerfen. Aber auch durch einen „Vergleich“ mit Newton werden die rechts- und damit gesellschaftsgestaltenden Instrumente der Menschenrechte nicht zu dem, was das Wirken Newtons hervorgebracht hat: Zu Inhalten von Naturerkenntnis – Erkenntnistheorietisch eine andere Liga.
HS: Danke, schön auf den Punkt gebracht. Kommentieren Sie bitte öfter hier 🙂
Ano Nym, Sie wissen ja, ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand. Darum geht es, nicht darum, sich eine stringente Argumentation ersparen zu können. Ersteres leistete der Beitrag von H.S., letzteres war nicht behauptet.
@S.: Ein hinkender Vergleich stellt keine Erfrischung des sondern eine Zumutung an den Verstand dar. Falls Sie sich an Gleichnissen delektieren, empfehle ich ihnen den Besuch verkündigungsnaher Veranstaltungen.
@Ano Nym,
da Sie nur meinen Vergleich angreifen, nicht aber die damit unterstützte These – dass die Ächtung der Sklaverei durchaus einen Triumph der westlichen Kultur darstellt – gehe ich davon aus, dass Sie keine (echte) inhaltliche Gegenposition formulieren konnten und ich mich daher auch von Ihnen trotz (oder wegen) Ihrer Ignoratio Elenchi bestätigt fühlen darf. Dafür danke. 😉
Allerdings sollten Sie auch den Vergleich verstehen, bevor Sie ihn kritisieren, daher noch einmal klargestellt: In meinem Vergleich ist die Knautschzone nicht die Sklaverei sondern vielmehr deren _Ächtung_ – sowohl beim echten Thema (Sklaverei bis ca. 1800) als auch in meinem Vergleich (Frühzeit des Automobils) ist es merkwürdig – vielleicht sogar triumphalistisch? – den damaligen Akteuren das Nicht-Lösen von Problemen vorzuwerfen, die erst später als Pobleme erkannt wurden.
Man mag argumentieren, dass die Altvorderen halt schlauer hätten sein müssen; allerdings ähnelt das dem Pfarrer, der sich am Sonntag in der Kirche über die leeren Kirchbänke beschwert – man lamentiert just gegenüber denjenigen, die sich dem Problem sowieso schon entgegenstemmen. Aber vielleicht kritisiert Herr Joas ja auch mit gleicher Vehemenz die arabischen und schwarzafrikanischen Sklavenhalter- und -händlersysteme, die jahrhundertelang den Kern dieser furchtbaren Einrichtung bildeten, prächtig am menschlichen Elend verdienten und im Gegensatz zum Westen nicht das Geringste zu ihrer Abschaffung beitrugen…?
Lieber HS. Wenn ich Ihre Vergleiche als misslungen bezeichne, dann ist damit genau das gemeint: Dass Ihre Vergleiche misslungen sind. Die Bestätigung, die sie da hereinlesen wollen, nennt man wohl ein non sequitur.
Ich danke für die Aufdeckung des Bezugsfehlers in meiner Kritik an Ihrem hinkenden Vergleich. Sie haben (fast) völlig Recht. Auf der einen Seite steht nicht die Sklaverei, sondern ihre BEENDIGUNG (“‘Ächtung” wertet mehr als es beschreibt) und auf der anderen Seite die Knautschzone und der Sicherheitsgurt. Der Vergleich hinkt aber immer noch, denn die Sklaverei ist zweifelsohne eine Erfindung, während die Entscheidung, sie nicht mehr einzusetzen, gewiss keine ist. Insofern vergleichen Sie hier schon inkommensurable Dinge, nämlich eine politische Entscheidung mit einer Erfindung.
@ano: Es geht nicht um “Erfindung” vs. “Entscheidung”, sondern um das “Erkennen von Problemen”. Solange man ein Problem noch nicht erkannt hat, kann man es nicht abstellen. Suchen Sie sich also ein Beispiel aus einem Bereich, in dem Sie sich etwas unter “Erkennen von Problemen” vorstellen können, dann sind wir hier fertig.
Lieber Aufmerksamer Leser. Mir ging es schon darum, klarzustellen, dass der Vergleich auf mich misslungen wirkt, WEIL eine Entscheidung (gegen die Sklaverei) mit einer Erfindung (Knautschzone) (statt mit der Entscheidung gegen den Automobilverkehr, das hätte ich für passend gehalten) als gleiche Dinge behandelt werden.
Wenn es nur “darum geht”, Kalenderspruch-Binsenweisheiten (“Solange man ein Problem noch nicht erkannt hat, kann man es nicht abstellen.”) für die Nachwelt zu erhalten, bitte ich doch darum, das im Kommentar deutlich zu machen. Ich gehe nämlich sonst davon aus, dass der Kommentierende irgendetwas inhaltlich zur Diskussion stellen möchte.
Lie