Im Stich gelassen – Kinder im System Aufnahme
Aufnahmeeinrichtungen waren nie Orte für Kinder, sie sind keine Orte für Kinder, und sie werden nie Orte sein, die ein kindgerechtes Aufwachsen erlauben. Trotzdem müssen zigtausende geflüchtete Kinder in Deutschland in Aufnahmeeinrichtungen leben.
Die letzte Asylrechtsreform jährt sich. Sowohl diese als auch sämtliche Reformen in den letzten Jahren waren primär auf Verschärfung ausgerichtet. Die Folge: Das System Aufnahme bedingt strukturell menschen- und kinderrechtliche Gefährdungslagen. Verbesserungen in den Einrichtungen stoßen daher an unüberwindbare Grenzen, motiviert, unter anderem, von der politischen Idee, Geflüchtete direkt aus der Erstaufnahme zurückzuführen. Die Lage für Kinder kann sich deshalb nur verbessern, wenn das gesamte System durch einen holistischen, kinderrechtsbasierten Ansatz in die Pflicht genommen wird und die Dauer der Wohnpflicht in der Aufnahmeeinrichtung drastisch verkürzt wird.
Von der Aufnahme zum Rückkehrmanagement
Ursprünglich waren Aufnahmeeinrichtungen für eine möglichst kurze Erstunterbringung und Erstversorgung für Geflüchtete konzipiert. Seit 2015 hat sich das Selbstverständnis der Einrichtungen von der Aufnahme hin zu einem Rückkehrmanagement geändert – das kann klar als maßgebliche Intention für das gesetzgeberische Handeln seit 2015 identifiziert werden. Zentrale Bausteine dabei sind die Dauer der Wohnpflicht in Aufnahmeeinrichtungen und die Organisation von Unterbringung im Rahmen der Landeszuständigkeit.
Kinder und Familien sind seit 2015 verpflichtet, bis zu sechs Monate in einer Aufnahmeeinrichtung zu leben. Davor galt die Wohnpflicht für alle Geflüchteten längstens drei Monate. Dies mag auf den ersten Blick nicht so gravierend klingen. Die Wohnpflicht geht für geflüchtete Kinder allerdings mit einem weitreichenden Ausschluss von Rechten, etwa auf Bildung, und einer erheblichen Beschränkung der Freizügigkeit einher. Führt man sich vor Augen, welch belastenden Auswirkungen der eingeschränkte Zugang zu Schule und sozialem Leben für Kinder (und ihre Eltern) während der Lockdowns im Kontext der COVID-19-Pandemie hat und hatte, so wird deutlich, was geflüchteten Kindern regelmäßig aufgebürdet wird.
Seit 2015 hat sich die Dauer der Wohnpflicht von maximal drei auf maximal 18 Monate versechsfacht, beziehungsweise in einigen Ländern auf maximal 24 Monate verachtfacht. Auch wenn Familien und Kinder von der letzten Verlängerung im August 2019 nicht betroffen waren, prägen diese Verschärfungen zentral das Leben in der Einrichtung.
Auswirkungen des Systemwechsels
Der Systemwechsel von Aufnahme als primäres Ziel der ersten Unterbringung und Versorgung hin zu einem (gewünschten) Katalysator effektiver Rückführungen hat massive Auswirkungen auf die Rechte und die Lebenswirklichkeit betroffener Kinder.
Rückführungen aus Aufnahmeeinrichtungen stehen an der Tages- beziehungsweise Nachtordnung. Dies führt nicht nur dazu, dass, wie Mitarbeitende von Einrichtungen beschreiben, am Tag nach einer Rückführungsaktion Angst allgegenwärtig ist. Das Miterleben von Abschiebungen wirkt sich auch unmittelbar auf die Entwicklung von Kindern aus: Muss ein Kind jede Nacht mit der Angst einschlafen, mitten in der Nacht von Polizist_innen geweckt und aus dem Zimmer geholt zu werden, ist ein förderliches Aufwachsen unmöglich. Sind am Tag danach dann etwa Freund_innen oder Bekannte verschwunden, stellt dies eine massive Belastung für Kinder dar. Betreuende und Ehrenamtler_innen berichten von Kindern, die mit zunehmender Dauer in der Aufnahmeeinrichtung apathisch, gar mutistisch oder aggressiv werden.
Zugang zu Bildung
Der Ausschluss von oder der eingeschränkte Zugang zu Rechten, wie das auf frühkindlicher Bildung und Regelbeschulung, wird mit fortschreitender Unterbringungsdauer immer problematischer. Obwohl das Recht auf Zugang zu Kindertagespflege und Tageseinrichtung nach §§ 22 ff SGB VIII von Anfang an – und nicht erst ab der kommunalen Zuweisung – gegeben und der hohe Bedarf unstrittig ist, werden, wenn überhaupt, Betreuungsangebote in den Aufnahmeeinrichtungen vorgehalten. Das ist besser als nichts. Dort, wo es nicht mal diese Betreuungsangebote gibt, geht es Kindern besonders schlecht. Allerdings kann „Nichts“ nicht der Maßstab sein – insbesondere, wenn Rechtsansprüche gelten.
Bei der Regelbeschulung zeigt sich ein ähnlich fatales Bild. Einrichtungsinterne Ersatzbildungsangebote, werden teilweise als Regelschulangebote gelabelt, können aber dennoch keinen lehrstandabhängigen Unterricht im Sinne von Art. 28 UN-KRK gewährleisten. Sobald Jugendliche 16 sind, werden sie alleine gelassen, weil es für sie überhaupt keine Angebote mehr gibt. Dort, wo kommunale Beschulung vorgesehen ist, verbleiben Kinder vielfach unabhängig ihrer Deutschkenntnisse dauerhaft in segregierten Vorbereitungsklassen.
Geschaffene Perspektivlosigkeit
Verschärft werden die Problemlagen durch die Schaffung von faktischen Einrichtungen der Perspektivlosigkeit: Seit 2015 werden Personen innerhalb der Erstaufnahme verstärkt querverteilt und nach „Bleibeperspektive“ in Einrichtungen untergebracht. Das bedeutet, dass Personen, denen eine „negative“ oder „niedrige Bleibeperspektive“ aufgrund ihrer Fluchtroute oder ihrem Herkunftsort zugeschrieben wird, gemeinsam in bestimmten Einrichtungen untergebracht werden. Dort leben dann Menschen zusammen, denen klar gemacht wird, dass sie keine Chance haben, ein Bleiberecht zu erwirken; zu Recht wird diese Art der Unterbringung als „strukturelle Gewalt“ beschrieben.
Unberücksichtigt bleibt, dass diese Menschen nach monatelangem oder gar jahrelangem Aufenthalt vielfach doch kommunal verteilt werden (müssen), weil ihre Rückführung nicht durchsetzbar ist – oder weil sie letztlich nicht ausreisepflichtig, sondern aufenthaltsberechtigt sind. Die klare Trennung von Anfang an nach voraussichtlicher Abschiebung, ja oder nein, sie funktioniert nicht.
Jugendhilfe
Wohnungsprobleme und Überforderung der Eltern gehören in Deutschland zu den 10 häufigsten Anlässen für Kinderschutzmaßnahmen. Doch was, wenn der Staat für die „Wohnungsprobleme“ und die Überforderung der Eltern verantwortlich ist? Die Kinder- und Jugendhilfe hat hier einen Sisyphus-Auftrag, dessen Erfüllung dennoch zentral ist. Neben Kinderschutz kann sie einen wichtigen Beitrag dafür leisten, die Eltern zu entlasten, Struktur in den monotonen Tagesablauf bringen und Kinder aus dem Einrichtungskontext holen. Nur erreichen ihre Angebote die Aufnahmeeinrichtungen vielfach nicht. Dort, wo Jugendhilfe präsent ist, ist ihr Aufgabenspektrum regelmäßig auf die Abwehr von Kindeswohlgefährdungen reduziert.
Dies hat unterschiedliche Gründe. Unter anderem besteht fatalerweise die unrichtige Auffassung, die Zuständigkeit der Jugendhilfe sei während der Unterbringung in der Aufnahmeeinrichtung nicht gegeben. Teilweise wird aber auch anerkannt, dass der Bedarf der Familien in Aufnahmeeinrichtungen groß sei, und ihre Belastungssituationen durch Jugendhilfe adressiert werden könnten. Die Installierung von Hilfen sei aber aufgrund der bevorstehenden Weiterverteilung/Querverlegung nicht geeignet, da pädagogische Maßnahmen oder der Besuch einer Kita nur langfristig sinnvoll wären. Das Ergebnis: Eltern und Kinder werden mit ihrer Belastung allein gelassen – eine menschen- und kinderrechtliche Bankrotterklärung.
Kompensation Gewaltschutz?
Aufnahmeeinrichtungen sind auch durch die Gewalt belastende Orte für die kindliche Entwicklung. Längere Unterbringungsdauern tragen nicht zu einem Absenken der Gewaltprävalenz bei, ganz im Gegenteil. Darauf deuten auch jüngste Befunde hin. Kinder sind dabei mittendrin– manchmal als Opfer, manchmal als Augenzeug_innen.
Der Schutz vor Gewalt war auch ein Ansinnen des 2017 an der fehlenden Zustimmung des Bundesrates gescheiterten Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG). Es hätte die Länder bundesrechtlich dazu verpflichtet, verbindliche Gewaltschutzkonzepte in Erstaufnahmeeinrichtungen zu entwickeln und anzuwenden. Im Sommer 2019 gab es einen erneuten Anlauf im Kontext der Reform des Asylrechts. Diese Verortung ließ schon früh erahnen, dass mit großen Sprüngen in kinderrechtlicher Hinsicht nicht zu rechnen war: Anders als das Kinder- und Jugendhilferecht ist das Asylrecht kein Rechtsgebiet, in dem es in den letzten Jahren zu spürbaren menschenrechtlichen Verbesserungen gekommen ist.
Raus kam die Neueinfügung des § 44 Abs. 2a AsylG: Die Bundesländer sind demnach verpflichtet, in Aufnahmeeinrichtungen den Schutz von schutzbedürftigen Gruppen – zu denen Kinder nur implizit zählen – zu gewährleisten. Menschenrechtlich ist das nichts Neues. Das Recht auf Schutz vor Gewalt hatte auch schon vorher dazu verpflichtet.
Ein Jahr später
Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen, und die Frage drängt sich auf: Haben die Länder es geschafft, Aufnahmeeinrichtungen zu sicheren Orten für geflüchtete Kinder zu machen?
Zugegebenermaßen gab und gibt es in den Ländern vielfach Bemühungen und Bewegungen, doch beim Gewaltschutz reichen Bemühungen und vereinzelte Verbesserungen aber nicht aus. Es geht um absolute Rechtspositionen, die keinen Aufschub dulden. Jüngere empirische Befunde zeichnen ein klares Bild: In den Unterkünften kommen gewaltschützende Maßnahmen kaum an. Das ist wenig verwunderlich, wenn sie in vielen Bundesländern weder verpflichtend noch so ausgestaltet sind, dass sie die gewaltfördernden Strukturen des Systems Aufnahme überwinden könnten. Mindeststandards sind häufig Ausdruck der unantastbaren Menschenwürde, und können deswegen nicht relativiert werden. Werden sie gar nur als rechtlich unverbindlich erklärt, dann hängt ihre Verwirklichung vom politischen Umsetzungswillen und weiteren (zufälligen) Variablen wie den baulichen Möglichkeiten, den vorhandenen Personalressourcen oder der Fortbildungsbereitschaft des Personals ab.
Besonders fatal: Es gibt in den Ländern noch keine systematischen Monitoring- und Evaluationsstrukturen, und das, was an Beschwerdestrukturen bereitsteht, verdient nur selten die Bezeichnung „Beschwerdestelle“. Damit offenbaren die Länder ein denkbar statisches Verständnis von einem wirksamen Gewaltschutz.
Das Thema Gewaltschutz ist umso dringlicher, je länger Kinder in Aufnahmeeinrichtungen leben müssen – was keinesfalls bedeutet, dass Verbesserungen im Gewaltschutz dazu berechtigen, den Aufenthalt von Kindern in Aufnahmeeinrichtungen zu verlängern. Die Länder stehen menschenrechtlich in der Pflicht, einen wirksamen Gewaltschutz unabhängig von der tatsächlichen Aufenthaltsdauer von Kindern zu gewährleisten.
Gewaltschutz überwindet zudem nicht den gesetzlich geregelten Ausschluss von Rechten und die hiermit einhergehenden Risikofaktoren für das Wohl von Kindern.
Des Rätsels Lösung
Das System Aufnahme, so wie es seit 2015 organisiert ist, bedingt strukturell menschenrechtliche Gefährdungslagen. Das Engagement der Vielen gerät daher an unüberwindbare Grenzen.
Gewalt, Abschiebungen, Angst und Frust gehören zum Alltag. Gründe hierfür sind vor allem der politische Wille, Menschen aus der Erstaufnahme rückzuführen, die politische Idee, zu Beginn des Aufenthaltes könne effektiv über Bleiben oder nicht entschieden werden. Gleichzeitig greifen unterstützende Regelsysteme, die eigentlich zuständig wären, nicht. Verbesserungen in den Einrichtungen sind zwar wichtig und unverzichtbar, können aber nicht die Belastungen und Rechtsverletzungen ausgleichen, die durch das System Aufnahme produziert werden. Ein holistischer und kinderrechtebasierter Ansatz muss daher zumindest ebenso engagiert, wenn nicht sogar vorrangig, die Aufenthaltszeiten und das System Aufnahme insgesamt in den Blick nehmen. Sowohl die Länder als auch der Bund können die Aufenthaltszeiten in den Aufnahmeeinrichtungen auf ein dem kindlichen Zeitempfinden entsprechendes Maß reduzieren. Sie könnten es nicht nur – sie sollten es auch. Eine Aufenthaltsdauer von maximal vier Wochen erscheint mit Blick auf diesbezüglichen Erwägungen in anderen Gesetzgebungsverfahren angemessen – denn Aufnahmeeinrichtungen sind keine Orte für Kinder.
Der Beitrag gibt die private Meinung der Autor_innen wieder. Die Autor_innen haben jeweils die Studien „Kein Ort für Kinder – Zur Lebenssituation von minderjährigen Geflüchteten in Aufnahmeeinrichtungen“ (2020) und „Gewaltschutz in Unterkünften für geflüchtete Menschen – Eine kinderrechtliche Analyse basierend auf einer Befragung der 16 Bundesländer“ (2020) mitverfasst, die die empirische Grundlage für diesen Beitrag bilden.