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04 June 2025

Institutionalisierte Solidarität

Wie der neue Solidaritätsmechanismus nationale Alleingänge verhindern könnte

Etliche EU-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen zwei Jahren „migrationsbedingte Notlagen“ erklärt und Überlastungen gemeldet. Oft geschieht dies im Zuge nationaler Alleingänge, wenngleich die EU-Kommission mitunter vorab informiert wird. Politiker:innen legitimieren mit der Überlastungsrhetorik ihre Grenzschließungen, die beendeten Aufnahmeprogramme oder vermeintliche Umverteilungszwänge. Dabei berufen sie sich unter anderem auf Art. 72 AEUV, der nationale Maßnahmen erlaubt, um die „öffentliche Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ zu gewährleisten. Wir interessieren uns für die Frage, inwiefern einseitig deklarierte Notlagen- sowie Überlastungsdiskurse im zukünftigen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) überhaupt noch gerechtfertigt werden können. Denn die neue Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (VO (EU) 2024/1351, AMMVO), die die vorherige Dublin-III-VO ersetzt, sieht zum ersten Mal einen Solidaritätsmechanismus vor. Der neue Mechanismus schafft, so unsere These, eine institutionelle und verfahrensförmige Solidarität, die für unilateral ausgerufene Notlagen keinen Raum mehr lässt.

Dublin damals: umkämpfte Solidarität

Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein kurzer – ausgewählter – Blick in die Anfänge des „Dubliner“-Zuständigkeitssystems, das die Verteilung von Asylsuchenden in der EU regelt. Mit dem völkerrechtlichen Dublin-Übereinkommen von 1990 (Art. 6), das 1997 in Kraft trat, und dem Schengener Übereinkommen 1990 (Art. 30 Abs. 1 (e)) wurde das „Country of first entry“-Prinzip und damit bereits zu Beginn des europäischen Zuständigkeitssystems das Fundament einer asymmetrischen Verteilung von Verantwortlichkeiten (S. 149 ff.) geschaffen. Dieses Prinzip ging von Anfang an zu Lasten der Außengrenzstaaten. David Lorenz hat in seiner Doktorarbeit die politischen und juridischen Kämpfe um das Dublin-System umfassend nachgezeichnet. Das EU-Verteilungssystem ist jedenfalls nicht erst seit 2015 in der Krise. „Solidarität“ in dem Sinne, wie der Begriff nunmehr in den EU-Verträgen und im Sekundärrecht zu finden ist, wurde in den genannten Instrumenten zudem nicht explizit erwähnt, sondern schien eher dem Binnenmarkt im Allgemeinen zu gelten. Das Prinzip der Solidarität wurde im Bereich Asyl und Migration erst im Rahmen des 2009 in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon explizit in Art. 67 Abs. 2, 78 ff. AEUV normiert. Diese fortschreitende Europäisierung der Migrationspolitik wird als Reaktion auf die „Krise der Migrationskontrolle“ erachtet (S. 81), während der damit zusammenhängende Begriff „Migrationsmanagement“ Eingang in die europäische Migrationspolitik fand.

Dementsprechend finden sich etwaige Vorbeugungsgedanken für mögliche Notlagen und Überlastungen bereits in den Gründungsverträgen der EU. Sowohl im Maastrichter (Art. 100c) als auch im Amsterdamer Vertrag (Art. 73l) schufen die Mitgliedstaaten eine rechtliche Grundlage für die Reaktion auf „Notlagen aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Staatsangehörigen dritter Länder“. Sie bleibt weiterhin in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik in Art. 78 Abs. 3 AEUV erhalten, während dieser Politikbereich um den Solidaritätsgedanken (Art. 80 AEUV) erweitert wurde.

Wie viel Solidarität – insbesondere vor dem Hintergrund von Notlagen – zwischen den Mitgliedstaaten herrscht, äußerte sich insbesondere im Zuge der Flüchtlingsschutzkrise 2015/16: Temporäre Solidaritätsmechanismen in Form der Umsiedlung von damals geplanten 160.0000 Asylwerber:innen wurden nicht umgesetzt (tatsächlich umverteilt wurden nur ca. 35.000 Personen), und Staaten wie Ungarn oder die Slowakei stellten grundsätzlich die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des Rates vor dem EuGH in Frage, wenngleich erfolglos.

In diesem Sinn – nämlich entgegen dem unionsrechtlich festgeschriebenen Solidaritätsgedanken – liegt auch die Berufung auf Notlagen im Trend. Trotz der Einigung auf das neue GEAS haben in den vergangenen Monaten Staaten wie die Niederlande, Österreich und zuletzt auch Deutschland eine Überlastung ihrer Aufnahmesysteme behauptet, oft unter Rekurs auf Art. 72 AEUV.  Doch lässt sich ein „Notstand“ oder eine „Überlastung“ überhaupt quantifizieren? Oder ist die Überlastungsrhetorik nicht auch Teil einer politischen „Inszenierung“, sind bestimmte „Notstände“ selbst gemacht? Robert Nestler und Matthias Lehnert haben hier auf dem Verfassungsblog über den „Mythos“ solcher Notlagengeschrieben und die politischen Forderungen europarechtlich eingeordnet.

Das „neue Dublin“: flexible Solidarität

Das objektivierte Verständnis von Asyl und Migration als etwas, das „gemanaged“ werden muss, ging bei den Verhandlungen über die Reform von 2024 nicht verloren. Das zeigt sich bereits an der Bezeichnung der Verordnung, daneben unter anderem an der wiederholten Betonung, dass Antragsteller:innen keinerlei Wahlrecht in Bezug auf ihren Aufenthaltsmitgliedstaat haben sollen, und der fortgesetzten und verschärften Sanktionierung von Sekundärmigration.

Durch die Beibehaltung der „Country of first entry“-Rule und der entsprechenden Fristverlängerungen ändert sich auch an der asymmetrischen Verteilung von Verantwortlichkeiten nichts. Die Aufnahme des neuen Zuständigkeitskriteriums „Zeugnisse und sonstige Befähigungsnachweise“ schafft keine Abhilfe für die grundsätzlichen Probleme. Die grundsätzlichen Dysfunktionalitäten der Asylzuständigkeitsverteilung bleiben damit weiter bestehen. In diesem Zusammenhang kann daher von „organischer Solidarität“, basierend auf schutz- oder kapazitätsbezogenen Kriterien, nicht die Rede sein.

Durch die GEAS-Reform sollte den bisherigen Defiziten und Versäumnissen Einhalt geboten werden. Die Kommission hatte noch 2015 in ihrer Europäischen Migrationsagenda die Einführung einer verbindlichen Quote angedacht. Im Entwurf für eine Dublin-IV-Verordnung von 2016 fand sich dann ein „Korrekturmechanismus“ für den Fall einer „unverhältnismäßig hohen Überlastung eines Mitgliedstaats“. All diese Konzepte konnte die Kommission nicht gegen die Mitgliedstaaten durchsetzen.

Der nun zentrale Solidaritätsmechanismus nach Art. 56 ff. AMMVO wurde – zutreffend – kritisiert, weil er statt einer obligatorischen Verantwortungsübernahme für Schutzsuchende nur eine flexible Solidarität enthält, mit der sich die Mitgliedstaaten durch die Leistung finanzieller Beiträge aus dem konkreten Flüchtlingsschutz im eigenen Hoheitsgebiet quasi „freikaufen“ können. Die Mitgliedstaaten erstellen jährlich in Anlehnung an den Vorschlag der Kommission, an den sie aber nicht gebunden sind, einen Solidaritätspool, der flexible Alternativen vorsieht: darunter die Übernahme von Schutzsuchenden, finanzielle Beiträge oder „alternative Solidaritätsmaßnahmen“ (Art. 65 AMMVO), worunter auch Ressourcen im Grenzmanagement gefasst werden können.

Der Solidaritätsmechanismus ist jedoch zunächst nur für jene Mitgliedstaaten zugänglich, die von der Kommission als unter „Migrationsdruck” stehend qualifiziert wurden (Art. 11, 58 AMMVO). Ansonsten erhalten Mitgliedstaaten Zugriff auf den Solidaritätspool nur, wenn sie „hinreichend fundiert“ eine Überlastung anzeigen (Art. 59 Abs. 2 (a) AMMVO). Ob eine Überlastung vorliegt, entscheidet dann aber nicht der Mitgliedstaat allein, sondern die Notifizierung wird von der EU-Kommission bewertet – bei Bedarf mit Unterstützung durch die EU-Asylagentur, die EU-Grundrechteagentur und Frontex. Erst wenn die Kommission beschließt, dass eine Überlastung vorliegt, kann der Mitgliedstaat Unterstützung über den Solidaritätspool in Anspruch nehmen.

Ein Versuch institutionalisierter Solidarität

Aussagen zur Effektivität des Solidaritätsmechanismus lassen sich zu diesem Zeitpunkt nur eingeschränkt machen. Zentral ist für uns an dieser Stelle allerdings auch weniger die Frage der operativen Umsetzung (siehe dazu hier, hier und – für eine Analyse früherer Entwürfe – hier), als vielmehr das vom Unionsgesetzgeber angestrebte Verständnis von Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. Damit einher geht die Hoffnung, künftig eine strukturelle (S. 293 ff.) oder organische anstelle einer krisenbedingten Solidarität im Verteilungssystem verankern zu können.

Der Solidaritätsmechanismus kann als verfahrensförmige Institutionalisierung von Solidarität interpretiert werden – oder zumindest als Versuch einer solchen. Im Rahmen der zukünftigen sogenannten Migrationsmanagementzyklen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, regelmäßige Gespräche über „Solidarität“ zu führen. Nach Art. 9 AMMVO müssen sie jährlich einen Asyl- und Migrationsbericht verfassen, um der Kommission eine Grundlage für die Bestimmung von Mitgliedstaaten unter „Migrationsdruck“ und solche, die sich in einer „ausgeprägten Migrationslage“ befinden, zu liefern. Alle Mitgliedstaaten haben darüber hinaus eine:n mit entsprechenden Befugnissen ausgestattete:n Vertreter:in zu benennen, der oder die sie im „Hochrangigen Solidaritätsforum“ (Art. 13) vertritt. Das ist wesentlich, werden doch gerade in den Sitzungen dieses Forums die jeweiligen Solidaritätsbeiträge der Mitgliedstaaten für den kommenden Managementzyklus zugesagt.

Durch die Schaffung des Organs des Solidaritätskoordinators (Art. 15) richtet die EU im Übrigen eine infrastrukturell gut ausgestattete, ständige Stelle ein, um das „Funktionieren“ von Solidarität zu gewährleisten. Der oder die Koordinator:in hat auf Grundlage der Verordnung sowohl weitgehende Kompetenzen im Rahmen der AMMVO als auch in Bezug auf die Operationalisierung von Solidaritätsbeiträgen in Krisenzeiten aufgrund der KrisenVO 2024/1359. So obliegt ihm oder ihr als zentraler Anlaufstelle (ErwG 23 AMMVO) etwa die „ausgewogene Verteilung der verfügbaren Solidaritätsbeiträge“ (ErwG 29 AMMVO, ErwG 36 Krisenverordnung, VO (EU) 2024/1359, KVO). Insgesamt schafft die EU damit ein komplexes und auf konsensuale Abstimmung abzielendes Verfahren, um zu bestimmen, ob Mitgliedstaaten „überlastet“ sind und welche Unterstützung sie erhalten sollen.

Solidarität und Krise heute

Die Antwort auf „Krise” hat der Gesetzgeber dem Grunde nach vom Dubliner Zuständigkeitssystem getrennt und in die KVO ausgelagert. Im Falle von „Massenankünften”, „Instrumentalisierungssituationen” und Situationen „höherer Gewalt” sollen die Mitgliedstaaten ebenfalls den Solidaritätsmechanismus aktivieren können (Art. 4 Abs. 3, Art. 8 KVO). Diese Anwendungsfälle aus der KVO sind spezieller als die „Überlastungsanzeige“ eines Mitgliedstaats und anders als unter der AMMVO zunächst auf drei Monate beschränkt (Art. 5 Abs. 1). Das Solidaritätsforum, als zentrales Organ unter der AMMVO, hat in einer Krisensituation im Übrigen zunächst keine Rolle. Anders als im konsensualen Beitragszusagen-Prozess unter Art. 57 AMMVO werden die Solidaritätsbeiträge für den „Krisen“-Mitgliedstaat vom Rat festgelegt (Art. 4 Abs. 3). Keinesfalls ausgeschlossen ist, dass die Regierungen von Mitgliedstaaten versuchen werden, die typischen Herausforderungen der Flüchtlingsaufnahme in den Mantel „vermeintlicher“ Krisennarrative zu hüllen, um die allfälligen „Fairness“- und Solidaritätsverhandlungen unter dem AMMVO-Mechanismus zu umgehen. Denn neben dem Zugang zum Solidaritätspool und den genannten Solidaritätsbeiträgen gehen Krisensituationen insbesondere mit massiven Einschränkungen der Rechte Schutzsuchender einher. Somit kann zwischenstaatliche Solidarität – von Solidarität gegenüber Asylsuchenden kann an dieser Stelle gar nicht die Rede sein – hier vorrangig durch Abschottungspolitik geübt werden, bevor potenzielle Unterstützungsmaßnahmen im Sinne von Solidarität überhaupt greifen können.

Ob durch den Solidaritätsmechanismus das Fundament einer effektiven Solidarität geschaffen wurde, ist – ungeachtet unerwarteter Entwicklungen im Rahmen der Umsetzung – damit zu bezweifeln. Zwar hat der Gesetzgeber für Solidarität bis zu einem gewissen Grad ein rechtsförmiges Verfahren geschaffen und mit der KVO die Handhabung von „Krisen“ in ein eigens dafür vorgesehenes Rechtsinstrument ausgelagert. Darin kann der Versuch gesehen werden, klar zwischen Verteilungsproblemen (AMMVO) und sonstigen „Krisen“ (KVO) zu trennen. Letztlich wird der Mechanismus, sofern es um die Verteilung von Solidaritätsbeiträgen geht, aber doch wieder in Situationen von „Migrationsdruck“ ausgelöst –sodass politische Inszenierungen von Notständen, die der europäischen Asyl- und Migrationspolitik von Anfang an inhärent waren, auch nach dem neuen System nicht ausgeschlossen sind.

Koordination statt Rhetorik

Das neue GEAS, insbesondere der Solidaritätsmechanismus, trägt somit zu einer vertieften Europäisierung in Bezug auf „Migrationsmanagement“ bei, indem ein konkreter Mechanismus als Antwort auf „Druck“, „Krise“, „Notlage“ beschlossen wurde, einerseits im Rahmen der AMMVO selbst sowie im Zusammenspiel mit dem Regime der KVO. Sind Mitgliedstaaten „Migrationsdruck“ im Sinne der AMMVO ausgesetzt oder befinden sie sich in einer Krisensituation im Sinne der KVO, ist eine kooperative Vorgehensweise der Mitgliedstaaten (S. 264 ff.) in eigens dafür geschaffenen Verfahren festgelegt. Wie bereits vom EuGH festgestellt, schließt ein solcher Koordinationsmechanismus nationale Alleingänge aus. Insoweit wird den derzeitigen nationalstaatlichen Berufungen auf Ausnahmezustände und Art. 72 AEUV der Boden entzogen, denn der Umgang mit solchen Notlagen ist nun abschließend geregelt. Ohne europäische Abstimmung und Koordination kann eine unilaterale Krisenreaktion nicht gerechtfertigt werden. Der Solidaritätsmechanismus hat als Instrument gegen die weitere Renationalisierung der Migrationspolitik – auch wenn die Verordnungen weiterhin an der problematischen Krisenrhetorik festhalten – daher Potenzial. Über Solidarität sollten die Mitgliedstaaten in Zukunft während und unabhängig von „Krisen“ sprechen: Der neue Mechanismus bietet dafür immerhin ein Verfahren.


SUGGESTED CITATION  Pichl, Maximilian; Steurer, Lisa: Institutionalisierte Solidarität: Wie der neue Solidaritätsmechanismus nationale Alleingänge verhindern könnte, VerfBlog, 2025/6/04, https://verfassungsblog.de/institutionalisierte-solidaritat-geas/, DOI: 10.59704/f6c49a8f3c458619.

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