21 September 2017

Asylfragen vor dem EuGH – ein Balanceakt zwischen Solidarität und Rechtsstaatlichkeit

Mit Urteil vom 6. September 2017 hat der EuGH die Klagen Ungarns und der Slowakei gegen die vorläufige obligatorische Regelung zur Umsiedlung von Asylbewerbern abgewiesen (Rs. C-643/15 und C-647/15). Kernaussage ist: In einer asylrechtlichen Notlage gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV tragen die Mitgliedstaaten die „Lasten“ – unglücklich allerdings die Wortwahl (!) – solidarisch. Die Reaktionen sind ambivalent: Einige begrüßen die Umsiedlungs-Entscheidung als Zeichen der Solidarität. Andere Stimmen – auch auf diesem Blog – werfen dem EuGH Rechtsbruch vor, weil er Solidarität über die Köpfe der unsolidarischen Umsiedlungs-Verweigerer hinweg „verordnet“ habe. Was ist von dieser Kritik zu halten, und wie lässt sich Solidarität dauerhaft sichern?

Der Hintergrund des Umsiedlungs-Urteils ist bekannt: Am 22. September 2015 hat der Ministerrat gegen den Widerstand Rumäniens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns beschlossen, 120.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien vorläufig auf die übrigen Mitgliedstaaten zu verteilen. Der Beschluss konnte auf Basis der Notstandsklausel in Art. 78 Abs. 3 AEUV mit qualifizierter Mehrheit ergehen. Mit diesem „Kunstgriff“ überstimmte man Ungarn und die anderen Verweigerer. Sie zogen vor Gericht – erfolglos, wie sich nun herausgestellt hat: Der Umverteilungsbeschluss „trägt tatsächlich und in verhältnismäßiger Weise dazu bei, dass Griechenland und Italien die Folgen der Flüchtlingskrise von 2015 bewältigen können“, urteilte der EuGH. Nun weigert sich Ungarn mit unverschämten Worten – von einer „Vergewaltigung europäischen Rechts“ spricht man in Budapest –, das Urteil zu befolgen. Die Weigerungshaltung – nicht etwa das EuGH-Urteil (!) – ist ein Paradebeispiel für die vielbeschworene Krise der europäischen Rechtsgemeinschaft.

Solidarität und Rechtsstaatlichkeit – kein Widerspruch!

Wer angesichts dieser klaren Urteilsworte die fehlende Rechtsbindung des EuGH beklagt, möge Folgendes bedenken. Ein Perspektivwechsel – Jürgen Bast hat auf diesem Blog bereits darauf hingewiesen – hilft: Sind es nicht die Verweigerer, denen der Vorwurf des Rechtsbruchs gemacht werden muss? Denn die Umverteilung ist nicht nur eine „moralische und politische Pflicht“, wie die Kommission betont, sondern primärrechtlich im Solidaritätsgrundsatz nach Art. 80 AEUV verankert. Auch argumentativ – vom Schutz „ethnischer Homogenität“ ist die Rede – bricht Ungarn mit fundamentalen europäischen Wertvorstellungen (Rn. 305 des Umsiedlungs-Urteils).

Vor allem ist Folgendes zu beachten: Das Umsiedlungs-Urteil darf nicht isoliert gelesen werden. Zum relevanten Kontext gehören insbesondere die Entscheidungen in den Rechtssachen A.S. (Rs. C-490/16) und Jafari (Rs. C-646/16) vom 26. Juli 2017. Der Sachverhalt ist schnell erzählt: Im Jahr 2016 hatte Kroatien Flüchtlinge zur Stellung eines Asylantrags nach Slowenien und Österreich durchreisen lassen. Dort hielt man sich allerdings für unzuständig. Rechtlich ging es um die Frage, ob eine geduldete Durchreise eine „illegale“ Grenzüberschreitung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO darstellt, was hier eine kroatische Zuständigkeit begründet hätte. Ja, so der EuGH. Eine Verantwortungsverschiebung abweichend von den Dublin-Vorschriften sei auch in Fällen eines „außergewöhnlichen Massenzustroms“ nicht gerechtfertigt. Im Ergebnis hielt der EuGH am unsolidarischen, aber geltenden (!) Dublin-System fest und reichte das Heft des Handelns weiter an die Legislative. Bemerkenswert ist übrigens, dass die Richter ganz beiläufig ein Vorgehen über die Notstandsklausel nach Art. 78 Abs. 3 AEUV (Rn. 98 f. des Jafari-Urteils) nahelegten. Ein aufmerksamer Leser mag hierin bereits einen Hinweis auf die spätere Umsiedlungs-Entscheidung erkennen.

Es hagelte Kritik: „EuGH-Juristen sehen Schwächen des Asylsystems – tragen zur Verbesserung aber nicht bei“, hieß es in der Stuttgarter Zeitung. Ähnliche tadelt die Süddeutsche Zeitung: „Die Richter hätten den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik in Europa legen können. Sie haben es nicht getan. Sie überlassen die Flüchtlingspolitik und die Flüchtlinge – mit ein paar warmen Worten – ihrem Schicksal.“ Was lernen wir aus dieser Kritik? Eines ist jedenfalls offenkundig: Wie er es macht, macht er es falsch. Ist der EuGH zurückhaltend, beklagt man den fehlenden Mut. Ist er mutig, wirft man ihm Rechtsbruch vor. Fest steht allerdings: Der EuGH kann das unsolidarische Dublin-System auch nicht solidarischer machen. Das ist nicht seine Aufgabe, sondern Aufgabe der Politik. Schon mehrfach hat der EuGH auf diesen Umstand hingewiesen, so übrigens in einer Entscheidung vom 7. März 2017 (Rs. C-638/16 PPU): Anders als nach den Schlussanträgen des Generalanwalts Mengozzi zu erwarten war, sah der EuGH im Unionsrecht keine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Visaerteilung aus humanitären Gründen und spielte den Ball zurück an die Legislative. Doch die Politik bleibt in Asylfragen lethargisch. Mit dem aktuellen Umsiedlungs-Urteil hat der EuGH lediglich nach einem Grashalm gegriffen, der in der asylpolitischen Landschaft zu wachsen begann. Man kann es ihm nicht verdenken. Den Umsiedlungsbeschluss für wirksam zu erklären, war nur konsequent, zumal der EuGH ja selbst schon darauf hingewiesen hatte, dass ein Vorgehen über die Notstandsklausel möglich ist (siehe Rn. 98 f. des Jafari-Urteils).

Solidarität durch Sanktionen?

Der Streit um das Umsiedlungs-Urteil zwingt zur Auseinandersetzung mit dem schillernden „Solidaritätsbegriff“ und seiner Durchsetzbarkeit: Das Solidaritätsprinzip hat in Europa eine lange Tradition und ist seit dem Vertrag von Lissabon erklärtes Ziel der EU (Art. 3 Abs. 3 EUV). Speziell für den Bereich der Asylpolitik haben sich die Mitgliedstaaten in Art. 80 AEUV Solidarität selbst verordnet.

Was aber, wenn einzelne Mitgliedstaaten wie Ungarn auf die Solidarität pfeifen? Zwar muss Ungarn das EuGH-Urteil befolgen. Es fehlt dem EuGH aber an Durchsetzungsmechanismen. Im Übrigen ist eine solidarische Rechtsgemeinschaft eben keine Zwangsgemeinschaft. Wie sagt der Kommissionspräsident Juncker so schön: „Solidarität darf keine Einbahnstraße sein“. Das heißt natürlich, dass die Verantwortung im europäischen Asylsystem fair zu verteilen ist. Doch muss sich bei allen Mitgliedstaaten – auch bei den Umverteilungs-Verweigerern – ein Gefühl der Gegenseitigkeit einstellen. Bleibt ein solches Gefühl dauerhaft aus, ist vom „Geist der Solidarität“ nichts mehr zu spüren. Dies ist zu bedenken, wenn über weitere Sanktionen und den Fortgang des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn nachgedacht wird. An kreativen Ideen fehlt es zwar nicht: Zuschüsse streichen, Geldhahn zudrehen etc. Fraglich ist allerdings die Rechtsstaatlichkeit solcher Sanktionen für Solidaritäts-Verweigerer, da sie im EU-Recht gar nicht vorgesehen sind. Im Übrigen müssten diese Strafen alle Mitgliedstaaten (auch Deutschland!) treffen, die den Umverteilungsplänen hinterherhinken.

Suche nach dauerhaften Lösungen – „Zuckerbrot statt Peitsche“

Vorschläge für eine neue Dublin IV-Verordnung verfolgen das Peitschen-Prinzip und perpetuieren die bisherigen Missstände. So ist zwar die Einführung eines „Korrekturmechanismus einer fairen Lastenverteilung“ für „Situationen unverhältnismäßigen Drucks auf einzelne Mitgliedstaaten“ vorgesehen. Auch ist die Teilnahme an diesem Umverteilungsmechanismus für alle Mitgliedstaaten freiwillig. Der Haken ist aber, dass die Umsiedlungs-Verweigerer für jeden abgelehnten Asylsuchenden Strafzahlungen in Höhe von 250.000 Euro leisten müssen (Art. 37 Abs. 3 des Kommissionentwurfs). Ob sich so ein „Geist der Solidarität“ einstellt, ist mehr als zweifelhaft. Auf Dauer lässt sich ein solidarisches Asylsystem eher durch finanzielle Anreize für jene, die sich dem Umverteilungsmechanismus freiwillig anschließen, schaffen. Also: Lieber „Zuckerbrot statt Peitsche“!

Der „Geist der Solidarität“ will es, dass seine Befolgung nicht erzwingbar ist. In der Asylpolitik sind die Grenzen der Solidarität deutlich geworden. Wer Heilserwartungen an den EuGH richtet, riskiert Einbußen bei der Rechtsstaatlichkeit. Richtigerweise begreift man die Asyl-Rechtsprechung des EuGH als Handlungsauftrag an die Legislative. Gesetzgeberische Bemühungen sollten darauf abzielen, das Gegenseitigkeitsverhältnis zu wahren. Andernfalls leidet nicht nur die Solidarität unter den Mitgliedstaaten, sondern auch die Solidarität gegenüber den Flüchtlingen.


SUGGESTED CITATION  Buchholtz, Gabriele: Asylfragen vor dem EuGH – ein Balanceakt zwischen Solidarität und Rechtsstaatlichkeit, VerfBlog, 2017/9/21, https://verfassungsblog.de/asylfragen-vor-dem-eugh-ein-balanceakt-zwischen-solidaritaet-und-rechtsstaatlichkeit/, DOI: 10.17176/20170921-145157.

8 Comments

  1. Jessica Lourdes Pearson Thu 21 Sep 2017 at 17:16 - Reply

    Schöner Beitrag, vielen Dank. Ich teile allerdings nicht die Ansicht, dass der Begriff der “Solidarität” zwingend ein Element der Freiwilligkeit beinhaltet.

    So beruht beispielsweise die gesetzliche Krankenversicherung auf dem allseits sogenannten “Solidaritätsprinzip”. Von Freiwilligkeit ist dort aber (zum Glück!) keine Spur – tatsächlich besteht eine Versicherungspflicht (mit Ausnahmen) und, daraus folgend, der rechtliche Zwang auf den Gesunden, die Behandlungskosten des Kranken mitzutragen.

    Auch als soziologischer oder moralischer Begriff hat Solidarität nicht unbedingt etwas mit Freiwilligkeit zu tun, weil derjenige, der sich ihr verweigert, mit sozialen Sanktionen rechnen muss. Das gilt auch und gerade – das vergessen Herr Orban und seine Anhänger allzu gern – innerhalb eines “homogenen Volkes”.

  2. Weichtier Sat 23 Sep 2017 at 08:25 - Reply

    @ JLP:
    Worte sind Schall und Rauch. Und der Begriff der Solidargemeinschaft in der Sozialversicherung ist für mich politische Lyrik, die der Ruhigstellung der Betroffenen dienen soll. Interessant ist, wer alles nicht Mitglied dieser wunderbaren Solidargemeinschaft ist: u.a. nämlich Beamte (und Richter). Und von denen hat man erstaunlich wenig gehört, dass sie sich aus dem System aus Beihilfe und Restkostenversicherung verabschieden und der Solidargemeinschaft anschließen wollen. Ach ja: da gibt es noch die Bundestagsabgeordneten mit der vollständigen Wahlfreiheit: Die Abgeordneten können wählen zwischen Beihilfe nach beamtenrechtlichen Maßstäben und einem Zuschuss zu den Krankenversicherungsbeiträgen (GKV oder PKV), deren hälftigen Beitrag der Bundestag trägt. Den hälftigen Zuschuss zu den Krankenversicherungsbeiträgen bekommen allerdings Beamte nicht, wenn sie z.B. für den Ehegatten wegen einer Vorerkrankung keine Restkostenversicherung bekommen und deshalb der GKV beitreten. Dafür darf sich dann die Solidargemeinschaft in der GKV an dem schlechten Risiko (versicherungstechnisch gesprochen) des Ehegatten erfreuen.
    Im Übrigen scheint mir die Analogie zwischen der Solidarität nach Art. 80 AEUV und der „Solidarität“ in der GKV missglückt. Meines Erachtens ist das Verhältnis EU zu den Mitgliedstaaten nicht ansatzweise zu vergleichen mit dem Verhältnis des Nationalstaates zu seinen Bürgern. Aus dem Begriff der „Solidarität“ in der GKV Honig für den Begriff der Solidarität in Art. 80 AEUV saugen zu wollen ist für mich nicht überzeugend.

  3. Prilblume Sat 23 Sep 2017 at 15:23