Italien im Dilemma zwischen Verfassungs- und Völkerrechtstreue
Man muss den Tenor des Urteils zweimal lesen, um ihn glauben zu können. Das italienische Gesetz zur Vollstreckung der UN-Charta ist verfassungswidrig, soweit es gemäß Artikel 94 der UN-Charta Italien verpflichtet, das Urteil des Internationalen Gerichtshofs von 2012 zur Staatenimmunität zu befolgen. Außerdem ist die vom IGH im konkreten Fall festgestellte völkerrechtliche Gewohnheitsrechtsnorm zur Staatenimmunität nicht Teil der italienischen Rechtsordnung. Das hat der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale 238/2014) am Mittwoch ausdrücklich festgestellt – und zwar unter Berufung auf den änderungsfesten innersten Prinzipienkern der italienischen Verfassung.
Die Vorgeschichte ist altbekannt: Seit gut zehn Jahren herrscht Streit, ob die Bundesrepublik für Verbrechen des NS-Regimes an Italienern während der Besatzung Italiens zwischen 1943 und 1945 Schadensersatz leisten muss. Angefangen hatte die diplomatische Auseinandersetzung zwischen Italien und Deutschland mit einem Urteil des Kassationsgerichtshofs 2004, wonach Deutschland sich vor italienischen Gerichten insoweit nicht auf seine gerichtliche Staatenimmunität berufen kann. Zwar seien die Handlungen des Dritten Reiches iure imperii und somit der Zuständigkeit der italienischen Gerichte entzogen, aber das gelte nicht bei schwersten Völkerrechtsverstößen. Völkerrechtlich war die Ausnahme höchst umstritten, und der von Deutschland angerufene IGH stellte 2012 fest, dass eine solche Immunitätsausnahme nach geltendem Gewohnheitsrecht nicht besteht. Der IGH verpflichtete Italien, Deutschlands Immunität für Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs anzuerkennen.
Damit schien der Streit zunächst beigelegt, und selbst die italienische Regierung schien wohl nicht ganz unglücklich über den Ausgang. Höflich beugte sich der Kassationsgerichtshof, erklärte Deutschland aufgrund der vom IGH nun klargestellten Gewohnheitsrechtsnorm für immun und verneinte die Zuständigkeit italienischer Gerichte. Anfang 2013 ratifizierte Italien das New Yorker UN-Übereinkommen zur Staatenimmunität und fügte dem Ausführungsgesetzt einen ad hoc Paragraphen hinzu, der auch gesetzlich die Anpassung an das IGH-Urteil vorschrieb und – abweichend vom sonstigen Zivilprozessrecht – eine Sonderrevisionsmöglichkeit gegen jene Urteile schuf, die bereits Rechtskraft erlangt hatten.
In diese Situation fällt die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs wie eine Bombe. Sie reagiert auf eine Vorlage des Landgerichts Florenz. Ähnlich wie in den Fällen vor 2012, hatten drei italienische Staatsbürger (bzw. deren Erben), die von Italien aus ins Deutsche Reich deportiert worden waren und zT in Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten mussten, Deutschland auf Schadensersatz verklagt.
Der Verfassungsgerichtshof macht zunächst klar dualistisch deutlich, dass die Gewohnheitsrechtsnorm zur Staatenimmunität im Völkerrecht so ausgestaltet ist, wie der IGH sie festgestellt hat, parallel zur Geltung der EMRK in der Ausgestaltung der Rechtsprechung des EGMR. Das Gericht erkennt insofern das Monopol des IGH in der Völkerrechtsordnung an und argumentiert bewusst nicht völkerrechtlich.
Gemäß Artikel 10 Absatz 1 der italienischen Verfassung passt sich die italienische Rechtsordnung völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht an (si conforma), so dass dieses intern im Rang der Verfassung steht. Ranghöher sind aber die obersten Prinzipien (principi supremi) der Verfassung, die nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs als Grenze (controlimiti) gegenüber dem Einfluss fremder Rechtsnormen gelten.
Diese inzwischen gefestigte Rechtsprechung wurde in der 1970er Jahren begründet, und zwar anhand der Frage, ob das kanonische Eherecht der katholischen Kirche auf der Grundlage des Konkordats das italienische Eherecht beeinflusst. Eine Art „Superverfassung“ herauszuarbeiten war insofern nötig, da die Lateranverträge von 1929 aufgrund Artikel 7 der Verfassung selbst Verfassungsrang haben (CC 18/1982 mit Verweis auf 31, 32 und 33/1971). Ebenso wurde die Rechtsprechung gegenüber der Wirkung des Europarechts behauptet (CC 183/1973, 170/1984 und 232/1989). Außerdem sind die obersten Prinzipien gemäß dieser Rechtsprechung der Verfassungsänderung entzogen (CC 1146/1988). Oberste Prinzipien sind dabei jene, welche die Verfasssungsordnung selbst kennzeichnen und der Verfassungsgerichtshof beansprucht die ausschließliche Kompetenz, einen Verstoß dagegen festzustellen. Zwar wurde die Rechtsprechung der obersten Prinzipien immer wieder angeführt und bestätigt, tatsächlich angewandt wurden sie bisher aber nur im Fall des kanonischen Familienrechts.
Im aktuellen Fall definiert nun das Gericht als oberstes Prinzip der Verfassung die Verbindung von Artikel 24 (Rechtschutz) und Artikel 2 (unverletzliche Rechte des Menschen), wonach bei Verstößen gegen unverletzliche Rechte des Menschen nach Artikel 2, zu denen das Gericht insbesondere die Menschenwürde zählt, ein Rechtschutz zwingend ist. Das Gericht führt nicht weiter aus, inwiefern Artikel 2 auf Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs anzuwenden ist. Es geht aber von der unstrittigen Prämisse aus, dass Deutschland Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat und schließt daraus, dass dadurch unverletzliche Rechte der Kläger verletzt worden sind, die eines Rechtschutzes bedürfen.
Im Ergebnis erkennt das Gericht daher die völkerrechtliche Gewohnheitsrechtsnorm in der Ausgestaltung des IGH-Urteils an, stellt aber zugleich fest, dass diese Norm nicht gemäß Artikel 10 Teil der italienischen Rechtsordnung wird, weil das oberste Prinzip aus Artikel 24 und Artikel 2 der Verfassung ihren „Eintritt“ in die italienische Rechtsordnung verhindert.
Während völkerrechtliches Vertragsrecht aufgrund Artikel 117 der Verfassung zwischen Gesetz und Verfassung steht (CC 348 und 349/2007), fällt die UN-Charta (und nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs auch die EU) unter Artikel 11 der Verfassung und hat somit ebenso Verfassungsrang. Daher greift das Gericht auch hier auf seine Rechtsprechung der obersten Prinzipien zurück und übernimmt seine Argumentation bezüglich des Gewohnheitsrechts. Da das Gericht natürlich nicht die UN-Charta als verfassungswidrig einstufen kann, erklärt es stattdessen das Vollstreckungsgesetz insofern für verfassungswidrig, soweit es gemäß Artikel 94 der UN-Charta die Anpassung an das IGH-Urteil Deutschland v. Italien vorschreibt. Nur so kann ein Verstoß gegen das oberste Prinzip verhindert werden. Ebenso gilt dies für den ad hoc Paragraphen von 2013.
Das Urteil ist argumentativ in sich schlüssig, bleibt aber etwas abstrakt. Im Hinblick auf das festgestellte oberste Prinzip aus Artikel 24 und 2 der Verfassung hätte das Gericht die Anwendbarkeit fundamentaler Individualrechte auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs näher begründen können. Man kann Artikel 2 der Verfassung so lesen, dass dieser bereits bestehende unverletzliche Rechte anerkennt. Und man kann vielleicht auch völkerrechtlich argumentieren, dass das Kriegsrecht bereits für die Zeit vor 1945 solche unverletzlichen Individualrechte begründete. Doch hierüber verliert das Gericht kein Wort und nimmt für gesetzt an, was wohl nicht ganz gesetzt sein dürfte.
Ebenso verharrt das Urteil in einer verfassungsrechtlich sehr nationalen Perspektive. Das Gericht erkennt zwar die Bedeutung guter und friedlicher Beziehungen im Völkerrecht an, wofür die Verfassung in Artikel 11 auch Einschränkungen der Souveränität vorsieht, doch auch hier gelte die Grenze der obersten Prinzipien. Abweichend von seinem eingangs erwähnten Vorsatz, sich nicht völkerrechtlich äußern zu wollen, weist das Gericht auf die Bedeutung nationaler Gerichte als Impulsgeber für die Entwicklung des Völkerrechts hin. Doch darf dies soweit gehen, sich dem Tenor eines IGH-Urteils zu widersetzen? Zumal die vorhergehende Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs bereits den Impuls dazu gesetzt hatte. Auch sie hatte teilweise aus Verfassungsprinzipien heraus argumentiert, in deren Lichte man das Völkerrecht auslegen müsse, hatte sich vor dem IGH im konkreten Fall aber nicht durchgesetzt. Überraschenderweise geht das Gericht mit keinem Wort auf die Tatsache ein, dass sein Tenor Italien durch die Nichtbefolgung des IGH-Urteils einem offensichtlichen Völkerrechtsverstoß aussetzt, der nach Artikel 94 UN-Charta eine Anrufung des UN-Sicherheitsrats ermöglicht. Ebensowenig beschäftigt die Verfassungsrichter, welche Signalwirkung die Nichtbefolgung eines IGH-Urteils allgemein für die Völkerrechtsordnung hätte.
Jedenfalls dürfte das Urteil der italienischen Diplomatie großes Kopfzerbrechen bereiten. Der Berichterstatter Giuseppe Tesauro hat eine Woche vor seinem Ausscheiden aus dem Verfassungsgerichtshof der Regierung ein Abschiedsei ins Nest gelegt. Spannend dürfte die Reaktion der Staatengemeinschaft sein, sollte Deutschland die Frage der Nichtanwendung des IGH-Urteils vor den Sicherheitsrat bringen. Der Völkerrechtler wird sich hier an Nicaragua v. USA (1986) erinnern: Hier entgingen die USA nur dank des eigenen Vetos einer Verurteilung durch den Sicherheitsrat wegen Nichtbefolgung. Ob Italien in diese Situation geraten möchte, ist mehr als fraglich.
Die zentrale Stellung des IGH und die Befolgung seiner Urteile dürfte im Interesse vieler Staaten sein, zumal das IGH-Urteil Deutschland v. Italien innerhalb der Staatengemeinschaft nicht sonderlich umstritten war. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma zwischen Verfassungs- und Völkerrechtstreue könnte in Verhandlungen über einen Mechanismus zur globalen Entschädigung von italienischen Opfern liegen, die auch der IGH als Lösung angedeutet hatte. Ob Deutschland dazu bereit ist, ist eine politisch-diplomatische Frage. Nach dem strengen Maßstab dieses Urteil verstieße selbst dann Deutschlands Immunität gegen oberste Prinzipien. Vielleicht aber böte ein solcher Mechanismus dem Verfassungsgerichtshof eine Möglichkeit, seinen Maßstab abzumildern und darin einen substantiellen Rechtsschutz zu sehen, so dass die obersten Prinzipien trotz völkerrechtlicher Immunität gewahrt würden.
(Schluss auf Bitte des Autors geändert, 27.10., 14:45, Anm.d.Red.)
[…] a recent judgement (discussed here and here), the Italian Constitutional Court (CC) found that the Italian Constitution barred Italian courts […]