Kartellrecht mit Klauen
Der Referentenentwurf des BMWK zum Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz als Paradigmenwechsel im deutschen Kartellrecht
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat am 26. September 2022 seinen Referentenentwurf zur 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vorgelegt (11. GWB-Novelle). Mit dem sog. „Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz“ möchte das BMWK Marktmacht stärker bekämpfen – und tatsächlich vollzieht es mit dem Entwurf nichts weniger als einen Paradigmenwechsel im deutschen Kartellrecht. Das Bundeskartellamt soll in Märkte eingreifen können, ohne dass dort Rechtsverstöße begangen werden. Daneben sollen kartellrechtswidrige Gewinne in Zukunft leichter abgeschöpft werden können. Die neuen Instrumente schließen Lücken im Wettbewerbsschutz und haben das Potential, das deutsche Kartellrecht nachhaltig zu verändern.
Von der Spritpreisbremse zum Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz
Der Anlass für die vorgezogene Novelle war die Diskussion um die steigenden Spritpreise. Die Mineralölkonzerne standen im Verdacht, den sog. Tankrabatt nicht oder nur teilweise weiterzugeben. Auf eine Übergewinnsteuer konnte sich die Koalition jedoch nicht einigen. Mitte Juni kündigte Robert Habeck dann eine Verschärfung des Kartellrechts an. Dieses sollte „mit Klauen und Zähnen“ ausgestattet werden.
Das warf die Frage auf, ob die vieldiskutierten „windfall profits“ auf wettbewerbliche Probleme zurückgeführt werden können. Wie Thomas Ackermann hier schon ausführte, kann das der Fall sein, muss es aber nicht. Auch exogene Schocks und Nachfrageüberhänge können Ursachen für rasant steigende Spritpreise sein. Das heißt nicht, dass man solche Übergewinne nicht abschöpfen sollte. Das Kartellrecht allerdings ist dem Wettbewerbsschutz verpflichtet – und damit nicht zwingend das richtige Instrument. Robert Habeck räumte ein, dass die Reform des Kartellrechts die aktuelle Preisentwicklung kaum stoppen kann, sondern erst in der Zukunft Wirkung entfaltet.
Drei Monate später haben sich die Spritpreise etwas beruhigt, der Tankrabatt ist ausgelaufen. Dass die Mineralölkonzerne den Tankrabatt nicht weitergegeben haben, wird inzwischen angezweifelt. Fast scheint es so, als hätte es weder ein Problem noch eine Lösung im Kartellrecht gegeben. Worauf antwortet also das Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz?
Marktdesign durch das Bundeskartellamt
Der Kernpunkt des Entwurfes sind die Befugnisse des Bundeskartellamts (BKartA) nach einer Sektoruntersuchung. Nach § 32f Abs. 3 Ref-E kann das BKartA bis zu 18 Monate nach Abschluss der Untersuchung verhaltensorientierte oder strukturelle Abhilfemaßnahmen ergreifen, wenn eine erhebliche, andauernde oder wiederholte Störung des Wettbewerbs vorliegt. Beispiele für solche Maßnahmen sind der Zugang zu Daten und Netzen oder die Einräumung von Nutzungsrechten an geistigem Eigentum. Nach Abs. 4 ist als ultima ratio die Entflechtung vorgesehen.
Das ist ein Paradigmenwechsel im deutschen Kartellrecht – denn bislang ist ein kartellbehördliches Einschreiten nur dann möglich, wenn sich Unternehmen rechtswidrig verhalten. Das Bundeskartellamt kann gegen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen (§ 1 GWB) vorgehen, missbräuchliches Verhalten (§§ 19, 20 GWB) untersagen oder Unternehmenszusammenschlüsse verbieten, die zu einer erheblichen Behinderung des wirksamen Wettbewerbs führen würden (§§ 35 ff. GWB). Nach dem Gesetzesentwurf wäre das Bundeskartellamt nun nicht mehr auf diese Fälle beschränkt, sondern könnte gegen jede Störung des Wettbewerbs vorgehen, wenn diese erheblich, andauernd oder wiederholt ist. Im Extremfall könnte es ganze Märkte durch Abhilfemaßnahmen umgestalten. Ganz neu ist diese Idee nicht. In Großbritannien existiert bereits ein ähnliches Instrument. Mit dem „New Competition Tool“ war dies auch schon auf europäischer Ebene im Gespräch.
Für das deutsche Recht ist es eine Abkehr vom bisherigen Ansatz, der sich auf zurückhaltende Eingriffe in Einzelfällen beschränkt. Die neue Regelung kann als Generalklausel für verschiedenste Eingriffe in die Märkte genutzt werden. Das ist eine Änderung, die ihresgleichen sucht. Der ebenfalls vieldiskutierte § 19a GWB zur Kontrolle der übermächtigen (digitalen) Giganten verblasst im Vergleich. Dem neuen Instrument liegt eine klare Wertung zu Grunde: Es gibt Wettbewerbsprobleme außerhalb der bisher geregelten Eingriffstatbestände, die beseitigt werden müssen. Das BMWK schließt damit Lücken im Wettbewerbsschutz des GWB. Denn: Warum sollten nur Absprachen, missbräuchliche Verhaltensweisen und Unternehmenszusammenschlüsse wettbewerblich problematisch sein?
Das BMWK nennt in der Gesetzesbegründung mögliche Anwendungsfälle. Aufgeführt wird das unabgestimmte Parallelverhalten, bei dem sich Unternehmen zwar nicht absprechen, aber aufgrund der Marktgegebenheiten trotzdem einheitlich die Preise erhöhen können. Die Wirkung ist ähnlich wie die einer Preisabsprache und der Wettbewerb wird ausgeschaltet. Vom Kartellverbot ist das unabgestimmte Parallelverhalten aber nicht erfasst, da § 1 GWB eine Vereinbarung zwischen Unternehmen voraussetzt. Hier schließt sich der Kreis zum Spritpreis und der Mineralölindustrie. Das Bundeskartellamt hat schon 2011 (in einer Sektoruntersuchung) festgestellt, dass die Preisbildung bei Kraftstoffen das Resultat einer „wenig wettbewerbsfreundlichen Marktstruktur“ ist. Die Mineralölkonzerne müssen sich aufgrund der hohen Transparenz und des homogenen Gutes nicht absprechen, um bei der Preissetzung einheitlich vorzugehen. Deswegen konnte das Bundeskartellamt 2011 wie 2022 nicht einschreiten. Das wettbewerbliche Problem bestand schon lange vor den explodierenden Spritpreisen und dem Tankrabatt. Diese mögen nun Auslöser der Reform gewesen sein, in der Sache adressiert der Entwurf aber ein bekanntes Problem, das lange Zeit hingenommen wurde. Dieses Lücke könnte nun geschlossen werden.
Das BMWK hat außerdem die Hoffnung, dass das Bundeskartellamt die neuen Maßnahmen nutzen kann, um einer zu hohen Unternehmenskonzentration vorzubeugen. Nach geltendem Recht ist das einzige Mittel hierfür die Fusionskontrolle – also die Kontrolle des externen Wachstums durch Zukauf anderer Unternehmen. Die Konzentration kann sich aber auch durch internes Wachstum aus dem Erfolg heraus, durch Erwerbe kleinerer Wettbewerber unterhalb der Schwellen der Fusionskontrolle oder durch den Marktaustritt von Wettbewerben erhöhen. Auch diese Form der Unternehmenskonzentration, bei der dem Bundeskartellamt bisher die Hände gebunden sind, ist wettbewerblich problematisch – denn der Wettbewerbsdruck für Unternehmen sinkt. Sie können freier Preise setzen und haben geringere Anreize für Innovationen. Sie gewinnen an Macht. Die bisherige rechtliche Lösung setzt später an – erst beim Missbrauch der Macht. Der ist in der Praxis für Wettbewerbsbehörden schwer nachweisbar, der Eingriff kommt immer erst ex post und meist zu spät.
Dennoch ist diese Form der Entflechtung nicht das Entscheidende an dem Entwurf. Es ist nicht zu erwarten, dass das Bundeskartellamt regelmäßig zu dieser Maßnahme greifen würde. Dazu sind die rechtlichen, tatsächlichen und politischen Hindernisse zu groß.
Drei Fragen muss sich das BMWK bei der Diskussion des Entwurfes gefallen lassen: Müssen die Lücken in der Wettbewerbspolitik tatsächlich geschlossen werden – oder regelt der Markt doch besser als das Kartellamt? Braucht es zur Schließung dieser Lücken eine derartige Generalklausel mit erheblichen Befugnissen für die Behörde oder wären präzisere Anpassungen der bessere Weg? Und schließlich: Wann ist der Eingriff ohne Rechtsverstoß verhältnismäßig? Als zuletzt FDP-Minister Rainer Brüderle Ende 2009 eine missbrauchsunabhängige Entflechtung vorgeschlagen hatte, wurden verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen.
Leichtere Vorteilsabschöpfung
Das zweite große Projekt ist die Vereinfachung der Vorteilsabschöpfung. Schon jetzt haben die Kartellbehörden nach § 34 GWB die Möglichkeit, bei Kartellrechtsverstößen den daraus resultierenden wirtschaftlichen Vorteil abzuschöpfen. In der Praxis kommt diese Regelung aber nicht zur Anwendung, da der Nachweis (der Höhe) des Vorteils komplex ist. Das BMWK will die Anwendung nun erleichtern. Das bisherige Verschuldenserfordernis soll gestrichen werden. § 34 Abs. 4 Ref-E enthält eine Reihe von Vermutungen. Bei Kartellrechtsverstößen wird vermutet, dass ein wirtschaftlicher Vorteil entstanden ist. Die Höhe kann geschätzt werden, wobei eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügt. Außerdem wird vermutet, dass der Vorteil mindestens 1% des betroffenen Umsatzes beträgt. Die Vermutung hinsichtlich der Höhe kann nur dann widerlegt werden, wenn das Unternehmen nachweist, dass es einen entsprechenden Gewinn im relevanten Zeitraum nicht erzielt hat.
Bislang ist die Regelung des § 34 GWB praktisch nicht genutzt worden. „Ein Recht, das nicht genutzt werden kann, ist nicht im Sinne des Erfinders“, wurde Habeck im Juni bei Ankündigung der Kartellrechtsform zitiert. Dass § 34 GWB aber bereits im Wettbewerbsrecht verankert ist, zeigt, dass eine Gewinnabschöpfung gewünscht ist. Das dürfte nicht weiter kontrovers sein. Der wirtschaftliche Vorteil eines Unternehmens, der aus einem Rechtsverstoß resultiert, sollte nicht bei diesem verbleiben. Zwar können Abnehmer Schadensersatzansprüche geltend machen, das ist aber gerade bei einer Vielzahl mit individuell niedrigen Schäden („Streuschäden“) nicht realistisch.
Die Schlussfolgerung des BMWK ist konsequent. Die Anwendung der Regelung muss vereinfacht werden. Die Senkung des Beweismaßes und Vermutungen sind dafür der richtige Weg. Der Nachweis wird erleichtert, indem die Informationskosten der Kartellbehörde gesenkt werden. Dies hat ambivalente Effekte. Es ermöglicht dem Bundeskartellamt in der Sache zutreffende Entscheidungen, die bisher an den Nachweisanforderungen gescheitert sind (sog. Fehler 2. Art). In anderen Fällen können die Vermutungen aber an der Realität vorbeigehen und es kommt zu Fehlentscheidungen zu Lasten der Unternehmen (sog. Fehler 1. Art). Beide Fehlerkosten sind bei Ausgestaltung der Vermutung in ein Gleichgewicht zu bringen. Für die klassischen Kartelle insbesondere für Kernbeschränkungen wie Preisabsprachen scheint die Regelung nicht gemacht. Hier wäre die Vermutung viel zu niedrig. Sie kann aber helfen, um in den komplexen Missbrauchsverfahren über die Gewinnabschöpfung auch auf der finanziellen Ebene gegen die Übeltäter vorzugehen. Hier tut sich das Bundeskartellamt wegen der hohen Hürden im deutschen Bußgeldrecht schwer, während die Europäische Kommission immer wieder Rekordbußgelder verhängt. Trotzdem verwundert die fehlende Differenzierung bei der Vermutung über die Höhe des erlangten Vorteils. Die 1% sollen für alle Kartellverstöße durch die Bank gelten. Hier wäre eine Eingrenzung oder weitere Auffächerung wünschenswert. Das wird in Zukunft einfacher, wenn erste Entscheidungen auf die Regelung gestützt und dadurch neue Erfahrungswerte gewonnen werden. Gerade bei der Ausgestaltung von Vermutungen muss der Gesetzgeber auf diese zurückgreifen. Wo bestehen in der Praxis die Nachweisprobleme? Wie hoch ist die Fehlerquote der Vermutung? Hier bringen mehr neue Entscheidungen Erkenntnisse, die bei späteren Evaluationen der Norm genutzt werden können und eine präzise Anpassung durch den Gesetzgeber ermöglichen.
Der Wind dreht sich?
Das BMWK beweist Mut. Die neue Regelungen bekämpfen Marktmacht, stärken den Wettbewerbsschutz und schließen Lücken, die bisher hingenommen werden. Kaum jemand wird sagen, dass die Reform nicht weit genug geht. Vielen wird sie zu weit gehen. Dabei sollte man nicht vergessen, dass die vorgesehenen Instrumente international nichts komplett Neues sind, auch wenn es sich für das deutsche Kartellrecht um einen Paradigmenwechsel handelt. Auch der Blick über den Atlantik zeigt, dass das BMWK mit der Zeit geht, wenn es stärker gegen Marktmacht vorgehen möchte. In den USA hat das „New Brandeis Movement“ an Einfluss gewonnen und stellt mit Lina Khan die Vorsitzende der Federal Trade Commission. Mit dem Gesetzesentwurf macht das BMWK die grundsätzliche Kritik an Marktmacht auch in Deutschland hoffähig.