Klarheit aus Den Haag
Das IGH-Klimagutachten und seine Folgen für Staaten, Investoren und das Völkerrecht
Am 23. Juli 2025 verkündete der Internationale Gerichtshof (IGH) sein lange erwartetes Gutachten zu den „Pflichten der Staaten in Bezug auf den Klimawandel“. Darin bestätigte das Gericht, dass Staaten nach geltendem Völkerrecht verpflichtet sind, erhebliche Schäden am Klimasystem zu verhindern. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, können sie haftbar gemacht werden.
Der IGH stellte klar, dass das Ziel, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, nicht nur politisch vereinbart wurde, sondern auch rechtlich verbindlich ist. Alle Staaten, insbesondere jene mit den höchsten Emissionen, müssen daher ambitionierte Maßnahmen zur Minderung von Treibhausgasemissionen ergreifen, die sich an der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnislage orientieren. Das Gutachten ist das Ergebnis eines langen Prozesses: Es wurde sechs Jahre nach Beginn einer von 27 Studierenden der University of the South Pacific initiierten internationalen Kampagne und über zwei Jahre nach der entsprechenden Resolution der UN-Generalversammlung veröffentlicht.
Einige Staaten mit besonders hohen Emissionen hatten argumentiert, dass ausschließlich das spezielle Klimaregime – insbesondere das Pariser Abkommen – für die rechtliche Bewertung des Klimawandels maßgeblich sei. Der IGH wies diese Sichtweise jedoch zurück. Er stellte fest, dass sich die völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz aus einer Vielzahl von Quellen ergeben. Dazu zählen etwa das Gebot, grenzüberschreitende Umweltschäden zu vermeiden, das Vorsorgeprinzip sowie die allgemeine Sorgfaltspflicht zur Reduktion von Treibhausgasen und zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels.
Der Gerichtshof betonte mit besonderer Klarheit, dass Staaten zum Handeln verpflichtet sind, wenn ein klimabedingter Schaden vorhersehbar ist. Andernfalls können sie völkerrechtlich haftbar gemacht werden. Auch wenn das Gutachten nicht rechtlich bindend ist – weder für den IGH selbst noch für nationale Gerichte –, besitzt es doch erhebliches rechtliches Gewicht und eine hohe politische Legitimität.
Verpflichtung zum Handeln oder zur Übernahme von Verantwortung
Das Gutachten macht deutlich, dass das Völkerrecht ein hinreichend robustes Instrumentarium bietet, um die Verantwortung von Staaten in Klimafragen zu beurteilen. Dabei werden auch die besonderen Herausforderungen der Klimakrise berücksichtigt. Zu den wesentlichen Feststellungen gehört, dass das Ziel, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, als rechtlich verbindlich gilt und dass jede zusätzliche Erwärmung die mit dem Klimawandel verbundenen Risiken weiter verschärft.
Darüber hinaus stellte der Gerichtshof fest, dass das Völkergewohnheitsrecht Staaten dazu verpflichtet, vorbeugende und vorsorgende Maßnahmen zu ergreifen, um Klimaschäden zu vermeiden. Diese Pflicht umfasst auch die Regulierung privater Akteure, was der IGH ausdrücklich in seinem Gutachten (Rn. 282, 295–298, 444–455) und die Richter*innen Bhandari und Cleveland in ihrer gemeinsamen Erklärung (Rn. 3–5, 11–16) bekräftigen. Zwar sei die Emission von Treibhausgasen nicht per se rechtswidrig, jedoch könne das Unterlassen geeigneter Maßnahmen zur Verhinderung vorhersehbarer Schäden – etwa durch die Förderung fossiler Energien, die Vergabe neuer Explorationslizenzen, klimaschädliche Subventionen oder unzureichende Regulierung – eine völkerrechtswidrige Handlung darstellen.
Staaten müssen demnach auch die Emissionen privater Akteure im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten regulieren. Unterlassen sie dies, ergibt sich die rechtliche Verantwortung nicht aus dem Verhalten der Unternehmen selbst, sondern aus der Untätigkeit des Staates. Sowohl das Gewohnheitsrecht als auch vertragliche Verpflichtungen aus der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) und dem Pariser Abkommen verlangen zudem, dass Staaten geeignete Anpassungsmaßnahmen ergreifen. Industriestaaten sind zusätzlich verpflichtet, Entwicklungsländer bei der Finanzierung solcher Maßnahmen zu unterstützen.
Die Zurechnung von Treibhausgasemissionen zu einzelnen Staaten – auch auf Grundlage kumulierter historischer und aktueller Werte – ist laut Gerichtshof wissenschaftlich möglich. Diese Möglichkeit stärkt die Position der Staaten, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, und erlaubt ihnen, rechtliche Verantwortung geltend zu machen. Gleichzeitig betonte das Gericht, dass alle Staaten ein rechtliches Interesse an der Einhaltung der Klimaverpflichtungen haben. Daraus ergibt sich, dass jeder Staat – unabhängig von direkter Betroffenheit – Verstöße gegen das Klimavölkerrecht rügen kann.
Klimapolitisches Nichthandeln hat völkerrechtliche Konsequenzen
Wenn ein Staat seine internationalen Verpflichtungen verletzt, können laut IGH sämtliche Rechtsfolgen des Völkerrechts über die Staatenverantwortlichkeit ausgelöst werden. Dazu gehört die Pflicht, völkerrechtswidriges Verhalten zu beenden und zukünftige Verstöße zu verhindern. Dies kann bedeuten, dass klimaschädliche Politiken oder Genehmigungen widerrufen und Zusicherungen zur Nichtwiederholung abgegeben werden müssen.
Wo ein nachweisbarer Schaden entstanden ist, sind Staaten zudem zur vollständigen Wiedergutmachung verpflichtet. Diese kann in Form von Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme erfolgen, durch finanzielle Kompensation für messbare Schäden oder durch symbolische Genugtuung – etwa in Form einer öffentlichen Anerkennung oder Entschuldigung. Auch nach einem völkerrechtswidrigen Verhalten besteht die Pflicht fort, die eigenen Verpflichtungen weiterhin zu erfüllen. So kann etwa erwartet werden, dass betroffene Staaten neue oder verbesserte national festgelegte Klimabeiträge (NDCs) vorlegen.
Zwar benennt das Gutachten keine konkreten Verantwortlichen und beziffert auch keine Entschädigungen, doch macht der IGH deutlich, dass solche Feststellungen rechtlich zulässig sind. Voraussetzung ist allerdings, dass ein ausreichend klarer und nachvollziehbarer Kausalzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem eingetretenen Schaden besteht (Gutachten Rn. 422).
Die fossile Industrie gerät unter Druck
Für Produzenten fossiler Energieträger hat das Gutachten weitreichende Konsequenzen. Der IGH stellte klar, dass das zu beurteilende Verhalten nicht auf direkte Emissionen durch Verbrennung begrenzt ist, sondern sämtliche staatlichen Handlungen oder Unterlassungen umfasst, die zur Schädigung des Klimasystems durch anthropogene Emissionen beitragen. Damit ist auch die Förderung fossiler Energien erfasst.
Insbesondere können die Vergabe von Explorationslizenzen, die Genehmigung neuer Förderprojekte oder die Gewährung von Subventionen für fossile Energieträger einen Verstoß gegen internationales Recht darstellen. Der IGH formuliert ausdrücklich, dass ein Versäumnis, das Klimasystem vor Emissionen zu schützen – etwa durch unzureichende Regulierung von Produktion, Verbrauch, Lizenzvergabe oder Subventionen fossiler Energien – eine völkerrechtswidrige Handlung darstellen kann.
Dies bedeutet, dass Staaten mit großen Kohle-, Öl- und Gasvorkommen vor einem erhöhten rechtlichen Risiko stehen, wenn sie ihre Produktionskapazitäten weiter ausbauen. Neben dem Gutachten selbst haben einzelne Richter*innen gesonderte Erklärungen abgegeben. In ihrer gemeinsamen Erklärung betonen Richter Bhandari und Richterin Cleveland, dass keine neuen fossilen Förderprojekte mehr genehmigt werden dürfen, wenn das 1,5-Grad-Ziel eingehalten werden soll. Sie qualifizieren die staatliche Förderung fossiler Energien als völkerrechtlich problematisch, wenn sie zu vorhersehbaren Klimaschäden führt – eine Auslegung, die sich auf die im Gutachten entwickelten Sorgfaltspflichten stützt (Gutachten Rn. 295–298, 427; gemeinsame Erklärung Bhandari/Cleveland Rn. 3, 13, 15). Umweltprüfungen für neue Projekte müssten deshalb auch die nachgelagerten Emissionen aus der Verbrennung der geförderten Energieträger (sogenannte Scope-3-Emissionen) berücksichtigen.
Sie fordern darüber hinaus, dass neue national festgelegte Klimabeiträge alle Aspekte der fossilen Förderung, Lizenzvergabe und Subventionierung in Übereinstimmung mit dem 1,5-Grad-Ziel behandeln. Außerdem betonen sie, dass die Sorgfaltspflichten zur Umsetzung der NDCs und zur Verhinderung erheblicher grenzüberschreitender Schäden eine konsequente Regulierung und den Ausstieg aus fossilen Energien verlangen.
Staaten mit fossilen Ressourcen sollten daher keine neuen Explorationslizenzen mehr vergeben, keine neuen Förderprojekte mehr genehmigen und eine verbindliche Strategie zum Ausstieg aus der fossilen Produktion beschließen.
Klimaanpassung ist rechtliche Pflicht, nicht nur politische Option
Auch hinsichtlich der Klimaanpassung sendet das Gutachten ein klares Signal. Der IGH stellt fest, dass die Verpflichtungen zur Anpassung an den Klimawandel gleichwertig neben den Minderungspflichten stehen und entscheidend dazu beitragen, die schädlichen Folgen des Klimawandels zu begrenzen.
Die notwendige Anpassung der Staaten an den Klimawandel hängt dabei maßgeblich von der Ambition ihrer heutigen Minderungsmaßnahmen ab. Der IGH erkennt an, dass Staaten aufgrund der Klimaverträge, des Völkergewohnheitsrechts und anderer relevanter Rechtsnormen verpflichtet sind, Anpassungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen – auf Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Zugleich betont der Gerichtshof, dass die Auswirkungen des Klimawandels grundlegende Menschenrechte erheblich beeinträchtigen können. Dazu gehören das Recht auf Leben, Gesundheit, Wohnen, eine gesunde Umwelt und Privatleben sowie die Rechte von Frauen, Kindern und indigenen Völkern. Eine unzureichende Anpassung kann somit einen Verstoß gegen internationale Menschenrechtsverpflichtungen darstellen.
Das Gutachten verändert die bisherige Wahrnehmung der Klimaanpassung im Völkerrecht grundlegend. Was bisher oft als nachrangig behandelt wurde, wird nun als gleichrangige rechtliche Verpflichtung neben der Emissionsminderung anerkannt. Staaten werden stärker in die Pflicht genommen, angemessene und rechtzeitige Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz zu ergreifen und die am stärksten betroffenen Länder beim Umgang mit den Folgen des Klimawandels zu unterstützen.
Durch die Anwendung des Sorgfaltsmaßstabs lässt sich künftig auch rechtlich prüfen, ob Staaten ihre Verpflichtungen zur Anpassung ernsthaft, informiert und glaubwürdig wahrnehmen.
Das Gutachten unterstreicht den Reformbedarf im internationalen Investitionsschutz
Das Gutachten hat auch weitreichende Folgen für das internationale Investitionsrecht. In den letzten Jahren haben Investoren aus dem fossilen Energiesektor vermehrt auf das Instrument der Investor-Staat-Schiedsgerichtsbarkeit (ISDS) zurückgegriffen, um klimapolitische Maßnahmen wie Kohleausstiege, Lizenzstopps oder Subventionsabbau rechtlich anzugreifen.
Der IGH macht jedoch unmissverständlich deutlich, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, und dass diese Pflicht nicht lediglich in deren Ermessen liegt. Diese Einschätzung wird durch die gesonderte Erklärung von Richterin Cleveland bestätigt, die ausdrücklich betont, dass Investitionsverträge im Lichte dieser verbindlichen Klimaverpflichtungen auszulegen sind (Cleveland-Erklärung Rn. 21–22). Das bedeutet, dass entsprechende Maßnahmen nicht ohne Weiteres als willkürlich oder unbillig im Sinne des Investitionsschutzrechts bewertet werden können.
Besonders relevant ist in diesem Zusammenhang die Feststellung des IGH, dass Staaten auch für das Versäumnis haften können, angemessene Maßnahmen zur Begrenzung von Emissionen durch private Akteure – einschließlich ausländischer Investoren – zu ergreifen. Damit unterstreicht der Gerichtshof, dass das Völkerrecht die Staaten verpflichtet, auch Investorenemissionen zu regulieren, selbst wenn diese sich später vor Schiedsgerichten gegen solche Maßnahmen zur Wehr setzen sollten.
Darüber hinaus spricht das Gutachten explizit Bereiche an, die häufig Gegenstand von Investitionsstreitigkeiten sind – etwa die Vergabe fossiler Lizenzen und Subventionen. Die gemeinsame Erklärung von Bhandari und Cleveland stellt klar, dass eine Genehmigung neuer fossiler Projekte mit den bestehenden Verpflichtungen unvereinbar sein kann, wenn dadurch das 1,5-Grad-Ziel gefährdet wird (Gemeinsame Erklärung Bhandari/Cleveland Rn. 5–10). Die Argumentation des IGH legt also nahe, dass Staaten völkerrechtlich verpflichtet sein können, solche Politiken zurückzunehmen oder zu reformieren, auch wenn daraus neue Investorenklagen entstehen.
Aus dem Gutachten ergibt sich, dass das internationale Investitionsrecht nicht so ausgestaltet oder interpretiert werden darf, dass es die Einhaltung von Klimaverpflichtungen behindert. Investitionsverträge, die dieser Anforderung nicht genügen, müssen reformiert werden. Der IGH stellt fest, dass die Klimaverpflichtungen eines Staates gegenüber der gesamten internationalen Gemeinschaft bestehen. Daraus folgt, dass Investoren nicht geltend machen können, sie hätten berechtigte Erwartungen darauf gehabt, dass ein Staat völkerrechtswidrig weiter fossile Lizenzen vergibt oder beibehält.
Richterin Cleveland betont diese Konsequenzen in ihrer gesonderten Erklärung. Unter Verweis auf die Erkenntnisse des Weltklimarats (IPCC), wonach ISDS-Verfahren eine abschreckende Wirkung („regulatory chill“) auf Klimaregulierung entfalten können, erklärt sie, dass Investitionsschutzverträge nicht losgelöst, sondern im Einklang mit dem Klimavölkerrecht auszulegen sind.
Das Gutachten des IGH und Clevelands Erklärung verstärken somit den Handlungsdruck auf Staaten, das internationale Investitionsrecht im Lichte der Klimaziele umfassend zu reformieren. Konkret sollten Vertragsstaaten in Erwägung ziehen,
- rechtmäßige Klimamaßnahmen ausdrücklich von Schadenersatzansprüchen auszunehmen,
- zukunftsbezogene Schadensersatzforderungen für entgangene Gewinne zu begrenzen, die Staaten aufgrund vermiedener Emissionen bestrafen und
- Mechanismen wie Investitionsschiedsverfahren entweder abzuschaffen oder zu begrenzen, wenn diese Klimaschutzmaßnahmen abschrecken.
Ein globales Fundament für Klimagerechtigkeit
Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs fügt sich ein in eine wachsende Reihe völkerrechtlicher Entscheidungen, die den Handlungspflichten von Staaten im Klimaschutz eine neue rechtliche Qualität verleihen. Im Jahr 2024 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass unzureichender Klimaschutz eine Verletzung der Menschenrechte darstellen kann. Dieses Urteil ging auf eine Klage von mehr als 2.000 Schweizer Seniorinnen zurück, die den Staat für seine Untätigkeit zur Verantwortung zogen.
Auch andere internationale Gerichte haben sich bereits mit dieser Thematik befasst oder wurden darum ersucht. So bestätigte der Internationale Seegerichtshof die Verpflichtungen von Staaten unter dem UN-Seerechtsübereinkommen, während sich der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte mit der menschenrechtlichen Dimension des Klimawandels befasste. Zudem ist derzeit eine Anfrage an den Afrikanischen Gerichtshof anhängig, ebenfalls ein Gutachten zur Klimaverantwortung von Staaten zu erlassen.
Das Gutachten des IGH bestätigt nun auf höchster völkerrechtlicher Ebene, was viele Rechtswissenschaftler*innen sowie zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren fordern: Staaten sind verpflichtet, Klimaschäden zu verhindern, und sie können völkerrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie dies unterlassen.
Mit seiner Auslegung des internationalen Rechts schafft der Gerichtshof eine klare rechtliche Grundlage für ambitionierten, wissenschaftsbasierten Klimaschutz. Das Gutachten wird voraussichtlich nicht nur zukünftige Gerichtsverfahren und Streitbeilegungsverfahren beeinflussen, sondern auch die Verhandlungen im Rahmen des UN-Klimaregimes prägen. Zudem bietet es besonders gefährdeten Staaten neue rechtliche Argumente und politische Hebel im globalen Ringen um Klimagerechtigkeit.
Indem es die Verpflichtungen aus dem Klimarecht, dem allgemeinen Völkerrecht und dem Menschenrechtsschutz zusammenführt, schafft das Gutachten ein neues Fundament für verbindliche, gerechte und zukunftsgerichtete Klimapolitik.