16 October 2022

Krisenresiliente Verteilungsgerechtigkeit

Die ExpertInnen-Kommission Gas und Wärme hat auf Wunsch der Bundesregierung am 10. Oktober ihre Vorschläge für die zentralen Elemente einer deutschen Gaspreisbreme vorgelegt. Zur Entlastung privater Haushalte sieht dieses zweistufige Konzept auf der ersten Stufe die einmalige Übernahme der Abschlagszahlung im Dezember 2022 auf Basis der Abschlagszahlung von September 2022 durch den Staat vor. Auf der zweiten Stufe soll von Anfang März 2023 bis Ende April 2024 eine Gaspreisbremse greifen. Inwieweit die Vorschläge umgesetzt werden, liegt nun in den Händen der politischen Entscheidungsträger. Eine Bundestagsdebatte hat bereits stattgefunden. Vor allem an der Einmalzahlung im Dezember 2022 wird aus sozialer Sicht Kritik geäußert und die Gefahr einer sozialen Spaltung angemahnt, da die Bedürftigkeit in dem Vorschlag keine Rolle spiele. Wenngleich erste Studien zeigen, dass die steigenden Gaspreise Haushalte mit geringem Einkommen am stärksten belasten und diese Belastung durch die Inflation weiter verstärkt wird, soll die Entlastung allen Haushalten zuteilwerden. Ein Ausgleich der unterschiedlichen Belastungen findet also nicht statt. Der Vorschlag der Kommission und die Debatten darüber zeigen damit einmal mehr, dass die Energiekrise Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aufwirft, für die der Staat in seiner Funktion als Sozialstaat Antworten zu formulieren hat. Dies gelingt ihm derzeit nur bedingt, da die krisentypische Notwendigkeit eines schnellen Handelns die dringend gebotenen Debatten zu Lasten der Verteilungsgerechtigkeit verkürzt oder verhindert.

Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat

Aus dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich kein abstraktes Konzept der Verteilungsgerechtigkeit. Vielmehr bedarf dieses der Ausgestaltung durch den Staat, dem insoweit ein recht umfassender Gestaltungsspielraum eingeräumt wird. Aus verfassungsrechtlicher Sicht erlangen neben dem Sozialstaatsprinzip die Menschenwürde, der Gleichheitssatz sowie die Effektuierung der Freiheitsrechte Bedeutung, ohne dass sich daraus klare Konturen ergeben.

Die Verteilungsfragen resultieren aus der Knappheit eines Gutes – hier des Energieträgers Gas – in dem Sinne, dass mehr als vorhanden benötigt wird oder jedenfalls gewollt ist. Für die Energieversorgung gilt, dass diese Knappheit eine staatliche Verantwortung auslöst. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfügbarkeit ausreichender Energiemengen als „absolutes“ Gemeinschaftsgut eingeordnet (BVerfGE 30, 292, 324). Angesiedelt im Kontext der Daseinsvorsorge handelt es sich um eine Leistung, derer es zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf (BVerfGE 66, 248, 258). Daraus ergeben sich Handlungspflichten, denen der Gesetzgeber grundsätzlich mit sozialrechtlichen Instrumenten nachkommt. Weiterhin folgt daraus, dass nicht schlicht auf die mangelnde oder für manche Personengruppen unerschwingliche Verfügbarkeit des Energieträgers Gas verwiesen werden kann. Die Energieversorgung und den Zugang zu dieser für alle Personengruppen sicherzustellen, ist vielmehr notwendiger Bestandteil der Daseinsvorsoge sowie der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit als wesentliche Aufgaben des Sozialstaats. Aus einer individuellen Perspektive verwirklicht sich auf diese Weise die Verteilungsgerechtigkeit.

Die Verteilungsgerechtigkeit hat darüber hinaus eine gesamtgesellschaftliche Dimension, die der staatlichen Handlungspflicht eine weitere Facette verleiht. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat auch dazu, zu verhindern, dass die Gesellschaft an ihren sozialen Gegensätzen zerbricht. Zwar folgt weder daraus noch aus dem Gleichheitssatz eine Verpflichtung des Staates zur Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Ergreifung von Maßnahmen mit in den Blick zu nehmen, wie sich diese auf den sozialen Frieden der Gesellschaft auswirken. Werden die Mitglieder der Gesellschaft in ungleicher Weise von den Folgen einer Krise belastet, kann sich hieraus die Notwendigkeit von Ausgleichsmaßnahmen ergeben. Hierbei kann es nicht darum gehen, dass im Ergebnis alle exakt dasselbe haben. Dies wäre eine Umverteilung, die das Sozialstaatsprinzip gerade nicht vorsieht. Vielmehr liegt die Aufgabe des Sozialstaates darin, subsidiär unterstützend einzugreifen.

In diesem Sinne kann die Bedürftigkeit als Voraussetzung für die staatliche Unterstützung fungieren, die allerdings ihrerseits zu definieren ist. In der Formulierung dieser Definition liegt eine wesentliche Herausforderung für die Ausgestaltung der Verteilungsgerechtigkeit. Bedürftigkeit wird sicher gegeben sein, wenn sich die Krise in existenzgefährdender Weise auf bestimmte Personengruppen auswirkt. Auf der anderen Seite schützt das Sozialstaatsprinzip nicht vor Verzicht oder allgemeinem Wohlstandsverlust. Es ist nicht Aufgabe des Staates, den Besitzstand zu wahren. Dennoch ist die Bedürftigkeit weder aus Sicht des Sozialstaates noch des Gleichheitssatzes das einzige und ausschließliche Kriterium zur Konkretisierung der krisenbezogenen Verteilungsgerechtigkeit. Zwischen der Verpflichtung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz und der Entlastung aller unabhängig von ihrer Bedürftigkeit oder Belastung entsteht ein durchaus breiter Raum für Diskussion. Diesen gilt es zu auszufüllen, auf der gesellschaftlichen Ebene, aber auch im Parlament, wo die wesentlichen Fragen geregelt werden müssen.

Mangelnde Krisenresilienz des Staates

Zugleich ist in Krisenzeiten vielfach ein schnelles Handeln geboten. Dadurch bewahrt der Staat seine Handlungsfähigkeit und hält das Vertrauen aufrecht. Auch der Sozialstaat muss in der Krise gerade auch in Hinblick auf die damit einhergehenden sozialen Fragen handlungsfähig sein. Der Eindruck des Nichtstuns ist hingegen aus staatspolitischer Sicht fatal. Zugleich erschwert die Notwendigkeit eines schnellen Handelns die sorgfältige Abwägung im Rahmen einer umfassenden parlamentarischen Debatte. In Krisensituationen haben sich ohnehin die Gewichte zugunsten einer erweiterten Handlungsmacht der Exekutive verschoben. Aber auch im parlamentarischen Prozess tangiert die Notwendigkeit eines Handelns unter Zeitdruck Gewissheiten der Entscheidungsfindung. Deshalb ist es problematisch, wenn Krisenphänomenen, zu denen auch die Verteilungsgerechtigkeit gehört, erst nach ihrer Entstehung begegnet wird, statt im Sinne der Krisenresilienz Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Eine solche Krisenresilienz ist in der Energiekrise gerade nicht auszumachen. Weder wurde vorgesorgt, dass die Energiekrise und die draus resultierende Knappheit gar nicht erst entstehen, noch wurden im Vorfeld Antworten auf krisenbedingte Verteilungsfragen formuliert. Deshalb muss das abstrakte Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit nun in der akuten Krise konkret ausgestaltet werden. Diese Herausforderung birgt die Gefahr, dass es gänzlich außer Acht gelassen wird.

In diesem Lichte ist die mit sozialen Argumenten begründete Kritik an der ersten Stufe des Vorschlags der ExpertInnen-Kommission, der Übernahme der Abschlagszahlung im Dezember 2022, zu bewerten. Die Kommission hatte den Auftrag, in kürzester Zeit einen „machbaren Vorschlag“ vorzulegen. Für den nun vorgelegten Vorschlag spricht, dass er ein zügiges Handeln in der Krise ermöglicht. Indem weder die Belastung noch die Bedürftigkeit bei der Übernahme berücksichtigt werden, muss die Bedürftigkeit nicht im Vorfeld definiert oder bei der Umsetzung geprüft werden. Gleichzeitig profitieren aber eben nicht nur diejenigen, die auf die Unterstützung angewiesen sind. Ob diese Entlastung aller, die faktisch Haushalte mit höherem Einkommen stärker entlastet als solche mit geringem Einkommen, der Verteilungsgerechtigkeit entspricht, muss jedoch diskutiert werden. Unterbleibt eine solche Diskussion, kann dies negative Folgen für den sozialen Frieden haben. Allein mit dem auch in der parlamentarischen Debatte vorgebrachten Verweis auf die Notwendigkeit eines schnellen Handelns lassen sich diese negativen Folgen nicht aufwiegen. Die kritische Würdigung betrifft nicht die Kommission, die lediglich einem Wunsch nachgekommen ist, ohne dass sie Verantwortung trägt. Diese liegt vielmehr beim Staat, der in seiner sozialstaatlichen Verantwortung jenseits der Existenzsicherung Konzepte für die Verteilung knapper Güter bereitstellen und generell die Möglichkeit einer Knappheit mitdenken muss. Ansonsten ist der Staat nicht krisenresilient in Hinblick auf Verteilungsfragen. Dessen ungeachtet gilt es, die durch Krisen entstehenden besonderen Belastungen möglichst schon im Vorfeld abzufedern.

Verschränkung der Krisenphänomene

Letztendlich zeigt die Energiekrise nur exemplarisch, dass Krisen Verteilungsfragen mit sich bringen können, für die der Staat Antworten bereithalten muss. Auch die Klimakrise wird langfristig Verteilungsfragen aufwerfen, wenn in Folge klimatischer Veränderungen eine Knappheit an Ressourcen entsteht. Die Klimakrise hat also ebenfalls eine soziale Dimension.  Insoweit gilt wiederum, dass Belastungen durch den Klimaschutz nicht zu sozialen Härten führen dürfen. Auch das kann Ausgleichsmechanismen notwendig machen. Klimaschutz und Sozialstaat sind insoweit miteinander verschränkt. Darüber hinaus stehen Krisen selten isoliert nebeneinander, sondern es bestehen Verschränkungen zwischen den Krisenphänomenen. Die durch die Abhängigkeit vom russischen Gas entstandene Energiekrise ist auch eine Folge der Versäumnisse bei der Energiewende und damit Teil der Klimakrise. Auf der anderen Seite werden entgegen der staatlichen Verpflichtung zum Klimaschutz die Klimakrise und die damit einhergehenden Verteilungsfragen weiter verstärkt, wenn Lösungen zur Bewältigung der Energiekrise in klimaschädlichen Energieträgern gesucht oder diese durch staatliche Maßnahmen zum Ausgleich krisenbedingter Belastungen zumindest mittelbar begünstigt werden.

Noch prekärer wird die Situation, wenn sich – wie zuletzt beim Flüchtlingsgipfel eindringlich angemahnt – nahezu unbemerkt die nächste „Migrationskrise“ anbahnt. Fortgesetze Fluchtmigration, wie sie derzeit auch, aber keineswegs nur aus der Ukraine erfolgt, fordert den Staat immer auch in seiner Funktion als Sozialstaat heraus. Beispielhaft sei nur auf die Unterbringung der Geflüchteten verwiesen, die den Staat bereits vor der Energiekrise nicht unerheblich herausgefordert hat. Durch ein vorrausschauendes Handeln hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass aus seiner verstärkten Aktivierung als Sozialstaat keine weiteren Verteilungsfragen entstehen. Dazu gehört, auch in der Krise Handlungsfähigkeit zu bewahren und unter Beweis zu stellen, indem etwa frühzeitig die erforderliche Infrastruktur bereitgestellt wird. Nur so wird die sozialstaatliche Verantwortung wahrgenommen und zugleich die Integrationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft sichergestellt, was für einen gelungenen Integrationsprozess und letztendlich für die Wahrung des sozialen Friedens unerlässlich ist. Eine Verschränkung zwischen Migration und Klimakrise ergibt sich wiederum, wenn klimatische Veränderung Fluchtursache sind oder Fluchtgründe auslösen. Zwar wird die Klimaflucht im geltenden Asyl- und Flüchtlingsrecht nicht explizit aufgegriffen und erscheint zunächst systemfremd. Allerdings können grund- und menschenrechtliche Bindungen dazu führen, dass faktisch ein Bleiberecht besteht. Mittels des Migrationsrechts kann in diesen Fällen nicht mehr oder nur noch bedingt steuernd reagiert werden. Mithin wird der durch die Verfassung ohnehin gebotene Klimaschutz letztendlich zum migrationsrechtlichen Steuerungsinstrument.

Fazit

Die Energiekrise offenbart eindrücklich, dass der Staat krisenbedingten Verteilungsfragen nicht mit hinreichender Resilienz begegnet. Aus Krisen kann eine Knappheit an Ressourcen entstehen. Damit einher gehen Verteilungsfragen, die es innerhalb des verfassungsrechtlich vorgebebenen Rahmens so zu adressieren gilt, dass das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit möglichst umfassend erreicht wird. Hierfür bedarf es umfassende Debatten und vorausschauende Konzepte, die im Fall einer akuten Krise aktiviert und krisenspezifisch angepasst werden können. Werden Verteilungsfragen hingegen erst in der Krise beantwortet, kann der Staat seiner sozialstaatlichen Verantwortung nicht hinreichend nachkommen. Zugleich entspricht es ebenfalls sozialstaatlicher Verantwortung, Krisenphänomenen auch in Hinblick auf die Verteilungsgerechtigkeit stets in ihrer Gesamtheit und in ihrer Verschränkung zu begegnen.

 


SUGGESTED CITATION  Fontana, Sina: Krisenresiliente Verteilungsgerechtigkeit, VerfBlog, 2022/10/16, https://verfassungsblog.de/krisenresiliente-verteilungsgerechtigkeit/, DOI: 10.17176/20221016-110310-0.

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