28 August 2025

Verfassungsfeind Marx?

Zur Verfassungs(un)treue von Karl Marx

Darf man in der Bundesrepublik unbehelligt einen Lesekreis zu Marx veranstalten? Laut Verwaltungsgericht Hamburg (Urteil vom 8.4.2025, Az. 17 K 2550/23,): Unklar. Stattfinden darf der Lesekreis ohne Einmischung staatlicher Behörden anscheinend nur, solange er sich nicht „aktiv-kämpferisch“ für Marx‘ Ideen einsetzt, da „die von Marx begründete Gesellschaftstheorie“ in wesentlichen Punkten mit den „Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar“ sei.

Im konkreten Fall ging es um die Marxistische Abendschule Hamburg (MASCH), die wegen ihrer Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht 2021 gegen den Hamburger Verfassungsschutz klagte. Das Hamburger Verwaltungsgericht entschied zwar für die MASCH und gab dem Verfassungsschutz auf, MASCH aus seinem Bericht zu entfernen, aber in seinem Urteil bestritt das Gericht ausdrücklich die Verfassungstreue von Marx (siehe dazu auch hier).

Es lohnt sich, dieses Urteil im Detail anzuschauen, da es nicht nur das ideologisch voreingenommene und sachlich unfundierte Verständnis der Richter von Marx’ Ideen, sondern auch die demokratischen Grenzen des hegemonialen Begriffes der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ (fdGO) verdeutlicht. Im Widerspruch zum Urteil der Hamburger Richter stimmen Marx’ politische Überzeugungen in wichtigen Kernpunkten mit denen des Grundgesetzes überein; und wo Marx alternative politische Institutionen verteidigt, fließt dies aus einer noch tieferen demokratischen Überzeugung als der, die die offizielle „freiheitliche demokratische Grundordnung“ untermauert.

Die Richter zu Marx

Marx’ angebliche Verfassungsfeindlichkeit wird von den Richtern des Verwaltungsgerichts in dem folgenden fragwürdigen langen Absatz zu Marx’ politischen Ideen gerechtfertigt:

„Diese auf die Theorien von Karl Marx zentrierte Betätigung des Klägers steht prinzipiell im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die von Marx begründete Gesellschaftstheorie – mit der sich der Kläger befasst – dürfte in wesentlichen Punkten mit den in § 5 Abs. 5 HmbVerfSchG angeführten Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sein. Die von Marx proklamierte „proletarische Revolution“ und „Diktatur des Proletariats“ wird von ihm als notwendige Voraussetzung angesehen, den Kapitalismus vom Sozialismus abzulösen und letztlich eine klassenlose Gesellschaft im Kommunismus zu erreichen. So liegt nach Marx zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Dieser Umwandlung entspricht, so Marx, eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur des Proletariats als die „voll entfaltete wahre Demokratie“ steht im Gegensatz zur „verhüllten Demokratie der Bourgeoisie“ (www.staatslexikon-online, 8. Aufl. 2022, Stichwort: Diktatur des Proletariats). Bei der von Marx so bezeichneten „wahren Demokratie“ handelt es sich nicht um ein Demokratiemodell mit einer auf allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehender (sic!) Volksvertretung, sondern um eine politische Herrschaft der sogenannten Arbeiterklasse, die zwangsläufig andere Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe an der politischen Willensbildung und mittelbaren Ausübung der Staatsgewalt ausschließt. Die sich nach Marx stellende Aufgabe, die proletarische Staatsmacht gegen die abzulösende Bourgeoisie zu behaupten, führt dazu, dass eine solche Herrschaft offen diktatorisch auftritt. Nach dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ wird das Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen und alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren; was „gewaltsam“ und „vermittels despotischer Eingriffe“ geschehen soll. Bei den eher rudimentären Vorstellungen von einer Gesellschaftsordnung in den Werken von Marx – die keine bestimmte institutionelle Form der Regierungsgewalt beschreiben und bei denen unklar ist, ob das Proletariat als Ganzes oder einzelne Gruppen und Parteien die Staatsgeschäfte leiten, die Wirtschaft kontrollieren und die Klassengegner niederhalten sollten – fehlen sowohl das mit dem Demokratieprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbundene Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition wie auch die verfassungsmäßigen Prinzipien der Gewaltenteilung und der unabhängigen Gerichte. Dabei sind die Machtbefugnisse und Staatstätigkeiten zu den von Marx und Engels beschriebenen Aufgaben (u. a. Verstaatlichung der Unternehmen, Erarbeitung eines „gemeinschaftlichen Plans“, staatliche Kreditinstitute) erheblich vermehrt, die demokratischen Freiheitsrechte des Einzelnen demgegenüber wesentlich reduziert.“

Wäre dieser Absatz als Teil einer ideengeschichtlichen Seminararbeit eingereicht worden, wäre die Arbeit ohne Zweifel durchgefallen: wegen ihrer unzureichenden, voreingenommenen und fragwürdigen Interpretation von Primärquellen; ihrer Nichtberücksichtigung von alternativen Quellen und ihrer Berufung auf eine einzige Sekundärquelle, aus der das Gericht, wie wir sehen werden, allem Anschein nach auch Teile übernommen hat, ohne dies kenntlich zu machen.

Da fast jeder Satz in diesem Absatz problematisch ist, gehen wir sie am besten einzeln durch.

Diktatur des Proletariats

 „Die von Marx proklamierte „proletarische Revolution“ und „Diktatur des Proletariats“ wird von ihm als notwendige Voraussetzung angesehen, den Kapitalismus vom Sozialismus abzulösen und letztlich eine klassenlose Gesellschaft im Kommunismus zu erreichen.“

Hier präsentieren die Richter eine noch vertretbare Zusammenfassung Marx‘ politischer Ideen, ohne sich aber zu fragen, was genau Marx mit dem leicht irreführenden Begriff „Diktatur des Proletariats“ eigentlich meinte. Wie der Marx-Forscher Hal Draper in seiner ausführlichen autoritativen Studie zeigte, wird der Begriff von Marx weitaus weniger benutzt, als nachfolgende Diskussionen vermuten lassen würden.1) Dort, wo er (und Friedrich Engels) ihn einsetzten, fungiert er als Gegenbegriff zu den antidemokratischen Tendenzen vieler sozialistischer Strömungen des 19. Jahrhunderts, die eine „Diktatur über das Proletariat“ verteidigten, in der eine kleine Gruppe von professionellen Revolutionären die Staatsmacht an sich reißen und über das (aus ihrer Sicht) noch ungebildete Proletariat herrschen würde. Draper warnt auch davor, das, was wir heute unter „Diktatur“ verstehen, damit gleichzusetzen, was Marx und seine Zeitgenossen darunter immer noch teilweise verstanden, nämlich die römische Idee der Diktatur als einen temporären und rechtlichen Ausnahmezustand. Solche historischen Nuancen fehlen völlig im Urteil des Verwaltungsgerichts, wo „Diktatur des Proletariats“ einfach mit der Erfahrung der SED-Diktatur im 20. Jahrhundert identifiziert wird.

 „Diese Diktatur des Proletariats als die „voll entfaltete wahre Demokratie“ steht im Gegensatz zur „verhüllten Demokratie der Bourgeoisie“ (www.staatslexikon-online, 8. Aufl. 2022, Stichwort: Diktatur des Proletariats).“

Wenn wir einen Blick auf den zitierten Eintrag im Staatslexikon werfen, wird schnell klar, dass die Richter fast ihr ganzes Verständnis der Diktatur des Proletariats diesem Eintrag entnommen haben, oft wortwörtlich und ohne entsprechende Quellenangabe.

Im Staatslexikon lesen wir zum Beispiel: „Überdies blieb unklar, ob das Proletariat als Ganzes oder einzelne Gruppen und Parteien die Staatsgeschäfte leiten, die Wirtschaft kontrollieren und die Klassengegner niederhalten sollten“, was fast Wort für Wort ohne Zitierangabe im Urteil übernommen wird. Teilsätze im Urteil wie, „dass eine solche Herrschaft offen diktatorisch auftritt“ und „keine bestimmte institutionelle Form der Regierungsgewalt beschreiben“, entpuppen sich als ungenaue Zitate aus Eric Hobsbawms Buch Wie man die Welt verändert: Über Marx und Marxismus (2012), die das Staatslexikon (richtig) zitiert hat. Schließlich ist offensichtlich, dass die Zitate aus Marx’ und Engels‘ „Manifest der Kommunistischen Partei“, die im Urteil vorkommen, genau denen entsprechen, die im Staatslexikon zitiert werden, und dass der umgebende Satz im Urteil nur eine Umschreibung von dem im Staatslexikon ist. Es ist daher festzuhalten: Der einzige vermeintliche Bezug auf eine Primärquelle von Marx im Urteil weist deutlich darauf hin, dass die Richter mit höchster Wahrscheinlichkeit den Text nicht einmal selber gelesen haben.

Richter sind keine Historiker oder Wissenschaftler. Aber wenn sie einen bedeutenden Denker kurzerhand als verfassungsfeindlich einstufen, dann dürfen wir schon erwarten, dass sie mehr als nur eine einzige Sekundärquelle konsultieren.

Allgemeines Wahlrecht

„Bei der von Marx so bezeichneten „wahren Demokratie“ handelt es sich nicht um ein Demokratiemodell mit einer aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehender (sic!) Volksvertretung.“

Hätten die Richter einen Blick in Marx‘ Werke geworfen, hätten sie diesen Satz nicht schreiben können. In den 17 „Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland“, die Marx und Engels einen Monat nach dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ mitverkündeten, hieß gleich die zweite: „Jeder Deutsche, der 21 Jahre alt [ist], ist Wähler und wählbar….“2)

Diese Forderung nach allgemeinem Wahlrecht hat Marx lebenslang verteidigt und als zwingende politische Vorbedingung der sozialistischen Emanzipation gesehen. Die Rechtfertigung dafür wurde von Marx präzise in seiner Reportage über die Chartisten (die britische Arbeiterbewegung, die sich für eine demokratische Verfassung einsetzte) zusammengefasst:

„Die sechs Punkte der Charte, für die sie kämpfen, enthalten weiter nichts als die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und jener Bedingungen, ohne die das allgemeine Wahlrecht für die Arbeiterklasse illusorisch wäre – z.B. geheime Abstimmung, Diäten für die Parlamentsmitglieder, alljährliche allgemeine Wahlen. Das allgemeine Wahlrecht ist aber für die Arbeiterklasse Englands gleichbedeutend mit politischer Macht; denn das Proletariat bildet dort die große Majorität der Bevölkerung… Das Durchsetzen des allgemeinen Wahlrechts wäre daher in England in weit höherem Maße eine Errungenschaft sozialistischen Inhalts als irgendeine Maßnahme, die auf dem Kontinent mit dieser Bezeichnung beehrt worden ist. Hier wäre ihr unvermeidliches Ergebnis die politische Herrschaft der Arbeiterklasse.“3)

Hier wird klar, dass Marx das allgemeine Wahlrecht sogar höher als bestimmte soziale Reformen wertschätzte, weil es den Arbeitern ermöglichen würde, ihre Bevölkerungsmehrheit in eine politische Mehrheit im Parlament umzusetzen und damit einen durchdringenden sozialistischen Wandel einzuleiten.4)

Im Gegensatz zu der Aussage der Richter stimmt Marx also völlig mit dem Artikel 38 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes („Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.”) überein.

Die Richter übersehen außerdem vollständig, wo Marx‘ demokratische Überzeugungen noch über das Grundgesetz hinausgehen. Nämlich in Bezug auf das Recht, auch in Artikel 38 GG aufgeführt, dass Abgeordnete „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden” sind. Für dieses Recht zum freien Mandat hätte Marx wenig Sympathie gehabt. Wie seine Billigung der Chartisten-Forderung nach „alljährliche(n) allgemeine(n) Wahlen“ schon andeutete, war Marx ein Befürworter des sogenannten imperativen Mandats, nach dem Abgeordnete von ihren Wähler:innen eng kontrolliert werden. Er verteidigte deswegen, dass Abgeordnete „jederzeit absetzbar“ sein sollten, um somit zu vermeiden, dass „das Volk im Parlamente ver- und zertreten“ wird.5)

Das imperative Mandat ist zwar nicht mit Artikel 38 Abs. 1 S. 2  GG zu vereinen. Ist man aber gleich verfassungsfeindlich, wenn man es – aus demokratischer Überzeugung – befürwortet?

 „[…] eine politische Herrschaft der sogenannten Arbeiterklasse, die zwangsläufig andere Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe an der politischen Willensbildung und mittelbaren Ausübung der Staatsgewalt ausschließt.“

Beweise für diese Aussage werden von den Richtern nicht geliefert, und sie hätten sie auch nicht liefern können, da diese nicht in Marx’ Werken zu finden ist. Die sowjetische Entscheidung, in der Verfassung von 1918 (Artikel 64 & 65) Nicht-Arbeitern das Wahlrecht zu entziehen, hat keine Grundlage in Marx’ Schriften.6) Für Marx war klar, dass das allgemeine Wahlrecht für alle galt, Arbeiter und Kapitalisten eingeschlossen. Er befürwortete zum Beispiel, dass den bürgerlichen Gegnern der Pariser Kommune von 1871 sogar nach einer bewaffneten Demonstration „wie allen anderen Bürgern von Paris gestattet wurde, sich an der Wahlurne bei der Wahl der Kommune zu versuchen“.7)

Gewalt und Revolution

 „Nach dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ wird das Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen und alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren; was „gewaltsam“ und „vermittels despotischer Eingriffe“ geschehen soll.“

Wie schon oben angedeutet, ist es unwahrscheinlich, dass die Richter das „Manifest“ selber gelesen haben. Sonst hätten sie zum Beispiel lesen können, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist.“8) Oder dass Marx und Engels antidemokratische Sozialisten dafür angreifen, dass sie demokratische Bewegungen wie die Chartisten abwerteten und versuchten, die „überlieferten Anatheme gegen den Liberalismus, gegen den Repräsentativstaat, gegen die bürgerliche Konkurrenz, bürgerliche Preßfreiheit, bürgerliches Recht, bürgerliche Freiheit und Gleichheit zu schleudern und der Volksmasse vorzupredigen, wie sie bei dieser bürgerlichen Bewegung nichts zu gewinnen, vielmehr alles zu verlieren habe.“9) Das „Manifest“ als Ganzes ist das Resultat einer langanhaltenden Bemühung von Marx und Engels, ihre kommunistischen Mitstreiter:innen von der Notwendigkeit von Demokratie und bürgerlichen Rechten zur sozialistischen Transformation zu überzeugen.10)

Die Richter nehmen Anstoß an Marx’ und Engels‘ Beschreibungen, dass diese Transformation „gewaltsam“ und „vermittels despotischer Eingriffe“ passieren wird. Aber wer den Text liest, erkennt leicht, dass Marx und Engels dies in Bezug auf Maßnahmen zur Beschränkung des privaten Besitzes der Produktionsmittel formulieren (und nicht, z.B., gegen eine bürgerliche Opposition). Wie schon angedeutet, gingen Marx und Engels davon aus, dass solche sozialistischen Maßnahmen von einem demokratisch kontrollierten Staat ausgeführt werden sollten. Die Richter sollten wissen, dass solche demokratisch legitimierten Maßnahmen, wie alle rechtlichen Anweisungen, natürlich auch gleichzeitig „gewaltsam“ wären, und zwar in dem Sinne, dass sich alle daran halten müssten. Obwohl dies oft vergessen wird, erlaubt die deutsche Verfassung nach Artikel 15 genau eine solche demokratische „Vergesellschaftung“ der Produktionsmittel. Der Ausdruck „despotische Eingriffe“ ist sicherlich ungeschickt von Marx und Engels ausgewählt, scheint mir aber eher darauf gerichtet zu sein, dass solche Maßnahmen von den bisherigen Besitzern der Produktionsmittel als despotisch empfunden würden, und nicht darauf, dass sie despotisch durchgeführt werden sollten.

Auf die größere Frage, ob eine sozialistische Transformation nach Marx „gewaltsam“ passieren sollte, wie das Urteil mehrfach impliziert, ist die Antwort komplex. Marx war überzeugt, dass eine gewaltsame Revolution gegen die despotischen Regierungen Europas im 19. Jahrhundert (der unmittelbare Kontext des „Manifests“) gerechtfertigt war.

Ob eine gewaltsame Revolution gegen eine Regierung, die dem heutigen Verständnis der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ entspricht, danach nötig wäre, hat Marx offengelassen. Hier hilft es, sich zu erinnern, dass solche politischen Regime zu Marx‘ Zeit kaum existierten. 1872 meinte er, „daß in den meisten Ländern des Kontinents der Hebel unserer Revolutionen die Gewalt sein muß“, aber in Ländern wie „Amerika, England … vielleicht noch Holland“ (genau denen, die am meisten demokratisiert waren), gebe es die Möglichkeit, dass „die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können.“11)

Marx hatte eine eindeutige Präferenz für den friedlichen Weg: „Ein Aufstand wäre dort [in England] eine Dummheit, wo man durch friedliche Agitation rascher und sicherer den Zweck erreicht.“12) Marx blieb aber skeptisch, ob die bürgerliche Minorität sich wirklich an „das Urteil der Mehrheit“ halten und sich auf friedliche und rechtliche Agitation begrenzen würde, wenn eine sozialistische Regierung demokratisch an die Macht kommen würde.13) Eine solche gewaltsame Reaktion müsste von der Regierung „durch Gewalt niedergeschlagen“ werden, aber wie Marx richtig erkennt, wäre natürlich die demokratisch gewählte sozialistische Regierung dann selbst „die ‚gesetzliche‘ Gewalt.“14) Die Hamburger Richter folgen exakt der gleichen Logik, wenn sie Gruppen, die „aktiv-kämpferisch“ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorgehen, als verfassungsfeindlich einstufen.

Das Proletariat als Ganzes

 „Bei den eher rudimentären Vorstellungen von einer Gesellschaftsordnung in den Werken von Marx – die keine bestimmte institutionelle Form der Regierungsgewalt beschreiben und bei denen unklar ist, ob das Proletariat als Ganzes oder einzelne Gruppen und Parteien die Staatsgeschäfte leiten […]“

Es stimmt, dass Marx kritisch gegenüber Utopien war, die genau vorschreiben wollten, wie der Sozialismus aussehen sollte. Aber aus seinen Schriften zur Pariser Kommune kann man entnehmen, welche Vorstellungen er von einer zukünftigen Regierungsgewalt hatte. Wichtiges Element davon war, wie schon diskutiert, dass Abgeordnete unter der engen Kontrolle ihrer Mandatsgeber:innen wirken sollten, durch Absetzbarkeit und jährliche Wahlen.

Die Pariser Kommune zeigt auch, wie klar es für Marx war, dass „das Proletariat als ganzes“ und nicht „einzelne Gruppen oder Parteien“ das Staatswesen leiten sollten. Zum einen verteidigt er die Versuche der Kommune, die öffentliche Verwaltung aus der Hand des Beamtentums zu nehmen und auf das Volk zu übertragen. Beamte sollten wählbar und absetzbar sein und den Lohn eines Arbeiters bekommen. So würden breite Teile des Proletariats in die Selbstverwaltung des öffentlichen Lebens mit einbezogen. Noch dazu hatte Marx kein Problem, die Leitung der Pariser Kommune als eine „Regierung der Arbeiterklasse“ zu bezeichnen, obwohl die mit ihm verbündeten Abgeordneten (die Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation) eine klare Minderheit waren – ein Indiz dafür, dass es Marx nicht um eine einzige alleinregierende Partei ging, sondern um die breite Unterstützung und Mitarbeit des Proletariats als Ganzes.15)

 Gewaltenteilung

„[…] fehlen sowohl das mit dem Demokratieprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbundene Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition wie auch die verfassungsmäßigen Prinzipien der Gewaltenteilung und der unabhängigen Gerichte.“

Auf das Recht auf eine verfassungsmäßige Opposition bin ich schon eingegangen. Dass Marx in mancher Hinsicht ein Kritiker der Gewaltenteilung war, ist unbestreitbar. Er beschreibt sie einmal polemisch als den „alten Verfassungsunsinn“.16) Aber die Richter liegen falsch, wenn sie Marx die Ablehnung von „unabhängigen Gerichten“ unterstellen.

Marx‘ Kritik an der Gewaltenteilung hat wenig mit der Judikative selber zu tun, ihm geht es vornehmlich um das Verhältnis zwischen der Legislative und der Exekutive. Marx sah die Legislative als den demokratischsten Teil der Verfassung und glaubte, dass die Exekutive sich allzu leicht der Kontrolle des Volkes entzog: „Die Exekutivgewalt im Gegensatz zur Legislativen drückt die Heteronomie der Nation im Gegensatz zu ihrer Autonomie aus“.17) Eine Teilung der Macht zwischen Exekutive und Legislative war also für Marx in Wirklichkeit ein Weg, die Demokratie über Gebühr einzuhegen. Ideengeschichtliche Studien zeigen, dass die Theorie der Gewaltenteilung genau deswegen von vielen ihrer Befürworter verteidigt wurde.18)

Marx kritisierte Verfassungen, die die Regierungsmacht auf Kosten der Legislative auf einen Präsidenten konzentrieren. Besonders scharf griff er die 1848er-Verfassung der Französischen Republik an, weil sie dem Präsidenten das Recht gab, Minister zu ernennen und zu entlassen, Kriminelle zu begnadigen, lokale und kommunale Räte aufzulösen, internationale Verträge abzuschließen und ihm noch dazu die Leitung der Streitkräfte und der Staatsbürokratie übertrug. Marx diagnostizierte diese Machtkonzentration als einen fatalen Fehler, der den Weg zum Ende der Republik durch den Staatsstreich von Präsident Louis Napoleon Bonaparte (später Napoleon III.) vorbereitete.19)

Stattdessen plädierte Marx für die klare Unterordnung der exekutiven Gewalt unter die Legislative. Er lobte die Pariser Kommune dafür, dass sie die Polizei, das Beamtentum und die Streitkräfte der Autorität der gewählten Kommune unterstellte und dass sie selber „nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft [war], vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit.“20) Damit bezog sich Marx darauf, dass die Kommune sich ohne eine separate, unabhängige Exekutive organisiert hatte und stattdessen die verschiedenen ministeriellen Aufgaben (Bildung, Arbeit, Finanzen, usw.) auf eine Gruppe von je fünf bis acht Abgeordneten aufteilte, die von einem von der ganzen Kommune gewählten Vorsitzenden angeführt wurde. Somit hatten rund zwei Drittel der etwa 90 Abgeordneten gleichzeitig eine verwaltende und eine gesetzgebende Rolle.21)

Dies ist zwar nicht die übliche moderne Verfassungspraxis, ist aber auch nicht Meilen entfernt vom jetzigen europäischen Verständnis der Gewaltenteilung (wo Minister:innen und Premierminister:innen oft Teil der Legislative sind).22) Marx‘ Kritik richtet sich eher gegen eine Gewaltenteilung nach Art der USA, wo die Exekutive und Legislative ganz getrennt sind und erstere mit übermäßiger Macht ausgestattet ist (wie wir jetzt jeden Tag leidvoll beobachten können).

Kehren wir kurz zur Judikative zurück. Marx hat seit seinen frühesten Auseinandersetzungen mit der Preußischen Regierung immer die Unabhängigkeit der Justiz von der Exekutive verteidigt. In seiner Diskussion der Kommune schlug er sogar vor, dass man die jetzige „Unterwürfigkeit“ der Richter „unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen“ beenden sollte, indem man sie „gewählt, verantwortlich und absetzbar“ machen würde.23) Die Richter des Hamburger Verwaltungsgerichts mögen eine solche Demokratisierung ihrer Posten vielleicht befürchten, das macht diese aber nicht gleich verfassungsfeindlich.

Marx und Freiheit

 „Dabei sind die Machtbefugnisse und Staatstätigkeiten zu den von Marx und Engels beschriebenen Aufgaben (u. a. Verstaatlichung der Unternehmen, Erarbeitung eines „gemeinschaftlichen Plans“, staatliche Kreditinstitute) erheblich vermehrt, die demokratischen Freiheitsrechte des Einzelnen demgegenüber wesentlich reduziert.“

Diese Kritik schließlich hat weniger mit Marx direkt zu tun als mit der demokratischen Debatte, ob die Übertragung unseres Wirtschaftslebens vom Markt auf kollektive und demokratisch geleitete Institutionen die Freiheit reduzieren oder nicht vielmehr sogar erweitern würde. Das ist eine anhaltende gesellschaftliche Auseinandersetzung, in der sich die Hamburger Richter hiermit klar positionieren. Wir als Bürger:innen haben aber auch das Recht, anders zu denken, zu lesen und politisch zu agieren. Ironisch ist, dass die Richter des Hamburger Verwaltungsgerichtes von einem Marx-Lesekreis profitieren würden, um an einer solchen Debatte besser teilnehmen zu können.

References

References
1 Hal Draper, Karl Marx’s Theory of Revolution, Bd 3: “The Dictatorship of the Proletariat” (New York: Monthly Review Press, 1986)
2 „Forderungen der kommunistischen Partei in Deutschland”, Marx Engels Werke (MEW), Bd. 5, S. 3.
3 Marx, “Die Chartisten”, MEW, Bd. 8, S. 344.
4 Marx war überzeugt, dass das Proletariat 1850 eine Mehrheit in England erreicht hatte, weil die ländliche Bevölkerung schon damals großenteils zu besitzlosen Lohnarbeitern umgewandelt worden war. Das Proletariat war also für Marx nicht nur auf industrielle Fabrikarbeiter beschränkt; stattdessen umfasste es alle, die ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber verkaufen mussten – was auch heute noch für eine Mehrheit der erwachsenen und aktiven Bevölkerung gilt.
5 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 340.
6 https://www.constituteproject.org/constitution/Russia_1918 .
7 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (Zweiter Entwurf), MEW, Bd. 17, S. 588.
8 Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 481.
9 Ibid., S. 487, 490-91.
10 Siehe Richard Hunt, The Political Ideas of Marx and Engels (University of Pittsburgh Press, 1974), Bd. 1, Kapitel 5; Bruno Leipold, Citizen Marx: Republicanism and the Formation of Karl Marx’s Social and Political Thought (Princeton, 2024), Kapitel 4.
11 Marx, [Rede über den Haager Kongreß], MEW, Bd. 18, S. 160.
12 [Aufzeichnung eines Interviews, das Karl Marx einem Korrespondenten der Zeitung „The World” gewährte], MEW, Bd. 17, S. 641.
13 Ibid., S. 643.
14 Marx, [Konspekt der Reichstagsdebatte über das Sozialistengesetz], MEW, Bd. 34, S. 499.
15 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 342. Siehe Hunt, The Political Ideas of Marx and Engels, Bd. 2, S. 145-46.
16 Marx, „Die Konstitution der Französischen Republik, angenommen am 4. November 1848”, MEW, Bd. 7, S. 498.
17 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S.196.
18 M. J. C. Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers (Oxford: Clarendon Press, 1967), S. 33; Bernard Manin, „Checks, Balances and Boundaries: The Separation of Powers in the Constitutional Debate of 1787,” in The Invention of the Modern Republic, Hrsg. Biancamaria Fontana (Cambridge: Cambridge University Press, 1994), S. 27-62.
19 Leipold, Citizen Marx, S. 231-33.
20 Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 339.
21 Hunt, The Political Ideas of Marx and Engels, Bd. 2, S. 144-5.
22 Ibid. S. 135.
23 Ibid. S. 144-145

SUGGESTED CITATION  Leipold, Bruno: Verfassungsfeind Marx?: Zur Verfassungs(un)treue von Karl Marx, VerfBlog, 2025/8/28, https://verfassungsblog.de/marx-grundgesetz/.

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