Menschenwürde
Nach den Katastrophen und Krisenausbrüchen der jüngeren Vergangenheit war es eigentlich immer eine Frage von Tagen oder sogar Stunden, bis eine Flut von Zusendungen bei uns eintraf. Die Nachfrage nach rechtswissenschaftlicher Expertise war enorm, offenkundig und dringend. Die Rechtswissenschaft stand – nach einem Moment des Atemholens und Gedankenordnens – bereit, dieser Nachfrage in Form von Blogposts auf dem Verfassungsblog nachzukommen, und wir standen bereit, sie zu veröffentlichen. Der Ausbruch der Covid-Pandemie, der Angriffskrieg gegen die Ukraine – Maßstäbe waren gefragt, mittels derer man das amorphe Grauen in Recht und Unrecht unterscheiden, Standpunkte, mittels derer man dem Blick auf das Geschehen eine normative Richtung geben kann.
Jetzt, nach dem seit letztem Wochenende von der Terrororganisation Hamas verübten Massaker in Israel, scheint alles anders zu sein. Wir verspüren eine eigentümliche Sprach- und Ratlosigkeit in der globalen Verfassungsrechts-Community, uns selbst eingeschlossen. In eine Debatte über die rechtliche Bewertung der Folgen und Auswirkungen dieses Massakers einzusteigen, ohne zu allererst dieses Massaker selbst zu adressieren, erscheint inadäquat. Betrachtungen über die Rechtswidrig- bzw. Rechtfertigbarkeit dieses Massakers anzustellen, erscheint seinerseits inadäquat: Diese Tat war ein Angriff auf die Menschenwürde. Das und nur das gibt es dazu zu sagen.
Wir werden keine Texte und Kommentare veröffentlichen, die die Menschenwürde der von der Hamas Ermordeten und Entführten in irgendeiner Weise relativieren und den Angriff auf sie als Reaktion auf oder Verteidigung gegen anderweitiges Unrecht zu rechtfertigen versuchen. Die Menschenwürde gilt absolut. Das ist die Richtschnur unserer redaktionellen Entscheidungen im Umgang mit dieser Katastrophe und allen weiteren, die noch aus ihr folgen werden.
Das Gebot zum Schutz der Menschenwürde gilt nur dann absolut, wenn es universell gilt, und es gilt nur universell, wenn es absolut gilt. Das ist die Bedingung der Möglichkeit von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und damit all dessen, was wir hier auf dem Verfassungsblog tun. Die absolute und universelle Geltung des Gebots zum Schutz der Menschenwürde selbst steht nicht zur Diskussion. Wir werden keine Texte und Kommentare veröffentlichen, die zur Entmenschlichung von Palästinenser*innen aufrufen.
Was je nach Fallkonstellation aus dieser absoluten und universellen Geltung der Menschenwürde folgt, kann und muss diskutiert werden. Den Diskussionsraum dafür aufzumachen, ist unser Job, und wir werden uns bemühen, ihn zu erfüllen. Wer – innerhalb der beschriebenen Grenzen – zu dieser Diskussion beitragen kann, ist herzlich eingeladen, das zu tun.
Die Redaktion
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von MAXIMILIAN STEINBEIS:
Als Reaktion auf das Massaker und die Geiselnahme durch die Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 haben wir einen Aufruf israelischer Völkerrechtler*innen veröffentlicht.
An diesem Wochenende wird in Polen ein neues Parlament gewählt und die Frage beantwortet, ob der autoritär-populistische Verfassungsmissbrauch durch die PiS-Regierung weitergeht oder gestoppt wird. Was auch im Fall eines Regierungswechsels schwer zu beantworten bleiben wird, ist die Frage nach der Rückabwicklung des bereits geschehenen Verfassungsmissbrauchs. Wir haben gemeinsam mit unseren Freunden von Democracy Reporting International dazu ein Blogsymposium aufgesetzt. JAKUB JARACZEWSKI erklärt, war auf dem Spiel steht. GRAZYNA BARANOWSKA beleuchtet die plebiszitären Volksbefragungen, mit deren Hilfe die PiS-Regierung die Stimmung durch Suggestivfragen zu ihren Gunsten drehen will. MACIEJ KISILOWSKI untersucht, wie die jetzige PiS-Regierung nach einer Wahlniederlage den friedlichen Machtübergang sabotieren könnte. BARBARA GRABOWSKA-MOROZ und MALORZATA SZULEKA analysiert, wie eine neue Regierung das Dilemma lösen könnte, dass viele Richter*innen in Polen mittlerweile auf verfassungswidrige Weise in ihre Ämter gelangt sind. MARCIN SZWED erläutert, wie es jetzt mit dem zutiefst kompromittierten Verfassungsgericht weitergehen könnte, für dessen grundlegende Reformierung KRZYSZTOF IZDEBSKI plädiert. Die Schlüsselrolle und Zukunft der von der PiS-Regierung installierten “Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten” am Obersten Gerichtshof beleuchten MACIEJ TABOROWSKI und PAWEL FILIPEK. Weitere Beiträge werden noch folgen.
Außerhalb des Rahmens des Symposiums betrachtet TOMASZ T. KONCEWICZ die Zukunft Polens als Mitgliedstaat der Europäischen Union nach dieser Wahl, die über die Zukunft der Demokratie in Europa so entscheidend ist wie kaum eine zweite.
In zwei westdeutschen Bundesländern hat sich am letzten Sonntag die AfD als stärkste Oppositionspartei erwiesen. Ist das Grundgesetz wehrlos gegenüber dem Aufstieg autoritärer verfassungsfeindlicher Parteien? Dass diese Wehrlosigkeits-Erzählung schon bezogen auf Weimar nicht stimmte und zu allererst der Selbstentlastung der Verantwortlichen diente, führt GERTRUDE LÜBBE-WOLFF in einem außerordentlich lesenswerten Long-Read aus. Mit dem Parteiverbot (Art. 21) und der Grundrechtsverwirkung (Art. 18) stellt das Grundgesetz zwei Instrumente zur Verfügung. Was das Parteiverbot betrifft, sei es tatsächlich bei der AfD möglicherweise dafür schon zu spät, wofür nicht notwendig das BVerfG verantwortlich gemacht werden könne, dessen Rechtsprechung restriktiver ausgelegt worden sei als notwendig. Auch gegen das Verbot bloß eines Landesverbands, etwa Björn Höckes Thüringischem, spreche verfassungsrechtlich nichts. Mehr Erfolg verspreche aber das andere, weitgehend vergessene Instrument, das die Verfassung im Kampf gegen Verfassungsfeinde bereit legt: die Grundrechtsverwirkung.
Im Bundestag wird unterdessen debattiert, wie die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung weiterhin von den Millionentöpfen der staatlichen Stiftungsfinanzierung fern gehalten werden kann. Der Entwurf eines Stiftungsfinanzierungsgesetzes liefert der AfD nach der Analyse von ADEN SORGE verfassungsrechtliche Angriffspunkte “auf dem Silbertablett”.
In Reaktion auf die bayerischen und hessischen Landtagswahlen einigt sich gerade ein breiter Teil des Parteienspektrums, dass das eigentlich zu lösende Problem die Anwesenheit von zu vielen Asylbewerber*innen in Deutschland sei. Die Idee, ihr Existenzminimum künftig durch “Sachleistungen” zu sichern statt durch Bargeld, nennt ROSA-LENA LAUTERBACH einen “populistischen Taschenspielertrick”.
Das Urteil des Europäischen Gerichts zur Verantwortung von Frontex für Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze hat bereits eine Menge Kritik erfahren. CATHARINA ZIEBRITZKY lenkt den Blick auf die positiven Aspekte der Entscheidung.
In Frankreich, der “einigen und unteilbaren Nation”, hat Präsident Emanuel Macron den Kors*innen regionale Autonomie versprochen und will dafür die Verfassung ändern lassen. Warum das verfassungsrechtlich zwar ginge, politisch aber wenig Aussicht auf Erfolg hat, begründen SARAH GEIGER und PIERRE-EMMANUEL RODRIGUEZ.
Dänemark geht gerade durch einen gewaltigen Geheimdienstskandal. Wie es dazu kommen konnte und was dabei auf dem Spiel steht, fächert MARC SCHACK auf.
In Italien verteidigt die Melloni-Regierung die nationale kulinarische Souveränität mit einem Verbot von aus Zellkulturen gewonnenem, ohnehin noch lange nicht marktreifem Laborfleisch. Ein Fausthieb in einem Kampf gegen einen Gegner, der noch gar nicht aufgetaucht ist, spotten GUIDO BELLENGHI und LUCA KNUTH und ordnen den Vorgang als ein Stück nationalistischer Hyper-Politik ein.
Zuletzt noch eine Ankündigung in eigener Sache: Nächste Woche fällt das Editorial aus. Ich brauche eine Pause. Das nächste Editorial kommt am 27. Oktober.
Ihnen alles Gute und Kopf hoch,
Max Steinbeis