Nix wissen macht nix: unsere fiebrige Lust am Pandemic Turn
Lothar Wieler, Deutschlands oberster Seuchenbekämpfer und Chef des Robert-Koch-Instituts, wählt seine Worte mit Bedacht. Tagtäglich widersteht er tapfer den zahlreichen Medienvertretern, die unablässig schon dutzendfach beantwortete Fragen stellen und immer wieder versuchen, ihm doch noch eine schlagzeilenträchtige Aussage zu entlocken.
Der Chefvirologe der Berliner Charité, der zuletzt zu großer Popularität gelangte Christian Drosten, wird seit Wochen nicht müde, in protestantischer Bescheidenheit die Grenzen nicht nur seines, sondern des epidemiologischen Wissens im Allgemeinen zu betonen. Sein nachvollziehbares Fremdeln mit dem Corona-Medienzirkus ist mit Händen zu greifen (Folge 24 seines Podcasts ist hier besonders instruktiv).
Der Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes schließlich stellt im Interview mit dem SPIEGEL fest: „Die Zahlen sind völlig unzuverlässig“. Und auf die Frage, wie gefährlich denn nun Corona sei, antwortet er schlicht: „Wenn ich das wüsste“. Nicht-Wissen allenthalben. Ungewissheit nicht gerade über alle, aber offenbar doch über zahllose epidemiologisch-virologische Details.
Anders in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht: Die deutsche Staatsrechtslehre, sie kommt gerade richtig in Fahrt. So explosionsartig vermehren sich allerorts die Beiträge zum Thema SARS-CoV 2, dass man ausrufen möchte: Flatten the curve! Eine fiebrige Lust am Ausnahmezustand scheint uns befallen zu haben. Selten nur war so schön gruseln. Willkommen im Pandemic Turn. Da wird gemahnt, gewarnt und es werden Bedenken getragen, was das Zeug hält – und all das aus der Komfortzone des heimischen Arbeitszimmers, den Doppio stets zur Hand: homeoffice halleluja.
Und natürlich, angesichts der juristischen Entwicklungen der letzten Wochen besteht reicher Anlass zu mahnen, zu warnen und Bedenken zu tragen. Die Gesetzesderogation kraft Verordnung aus dem Hause Spahn oder die jüngsten von der Regierung Laschet geplanten Regelungen sind zum Haare ausraufen und nur zwei Beispiele für das gschaftlhuberische Mackertum, das Teile der Politik ergriffen hat: Starke Männer braucht das Land, jetzt in der Pandemie, demnächst an der Spitze der CDU und alsbald dann im Kanzleramt.
Die offenkundig hoch ansteckende Begeisterung unseres Fachs für die Exegese von Ermächtigungsgrundlagen, das Raunen über den mancherorts immer schon populären Ausnahmezustand, die Beschwörung demokratischer Krisen und die Kritik an der exekutiven Lust zur Macht, all das summiert sich zu einem mächtigen Brausen, wie es gelegentlich zu Pfingsten, aber aus den heiligen Hallen der deutschen Rechtswissenschaft nur selten zu vernehmen war. Nachdem wir uns im Großen und Ganzen gepflegt durch die Bonner und Berliner Republik gelangweilt, da und dort bedächtig mit dem Kopf gewackelt oder die wissenschaftliche Stirn in Falten gelegt haben, geht es nun endlich mal wieder um was: herrlich!
Und doch hat die Flut an Beiträgen, Kommentaren, Stellungnahmen und Interviews etwas Atemloses und fast schon unangenehm Selbstberauschendes. Alles ist schon gesagt, aber eben noch nicht von allen. Mit der großen Bedeutung, die den aktuellen Problemen zukommt, ist das kaum zu erklären. Auch dass die hektische Entwicklung der Ereignisse im Trott des herkömmlichen Publikationswesens zu versanden droht, deswegen das Blogformat und das politische Feuilleton die Medien der Krise sind, erklärt nicht alles, zumal die juristische Printliteratur bereits kräftig nachzieht. Die Gründe für die Selbstberauschung liegen tiefer.
Denn die Corona-Epidemie beschert dem Öffentlichen Recht eine lang ersehnte Selbstwirksamkeitserfahrung: Entthront durch den politischen Primat der Ökonomie und oft selbstverzwergt zur Verfassungsgerichtsinterpretin-in-waiting, kann die Disziplin nun endlich mal vorangehen, Meinung machen und entschieden entscheiden. Es geht buchstäblich um (grundrechtliches) Leben und (rechtsstaatlichen) Tod. Bisweilen wirkt es schon wie akademisch sublimierter Katastrophentourismus – quasi alla giurisprudenza. Zur Besonnenheit mahnende Stimmen (etwa hier und hier) gehen da fast unter.
All das irritiert weniger dort, wo es um genuin verwaltungsrechtsdogmatische Fragen oder solche der Rechtsstaatlichkeit geht. Dass es aber, soweit Grundrechte angesprochen sind, so ziemlich allen von uns sowohl an der epidemiologischen Kompetenz als auch an belastbaren Daten fehlt, um eine seriöse Abwägung vornehmen zu können, scheint nachrangig. Rumgewogen wird nach Herzenslust.
Dass der verzweifelte Versuch italienischer, französischer und vielleicht bald auch deutscher Ärzte, die knappen intensivmedizinischen Ressourcen adäquat einzusetzen, zum Gegenstand rechtsphilosophischer Fingerübungen wird – fair enough. Dass aber kaum jemand mal sagt, wie es denn unter den Bedingungen der Triage richtig und (!) praktikabel gehen soll, wenn die Zeit zum Grundlagenkolloquium auf der Intensivstation gerade einmal knapp ist, sei’s drum (siehe aber etwa hier).
Wie sehr das Fach im epidemiologischen Tunnel steckt, zeigt ein Blick auf die Welt jenseits des Infektionsschutzrechts: So hat zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht in der vorvergangenen Woche mit seiner Entscheidung über das Zustimmungsgesetz zum Abkommen über ein Einheitliches Patentgericht eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen. Nicht nur hat es dieses Zustimmungsgesetz für nichtig erklärt (soweit erkennbar erstmals in der Rechtsprechungsgeschichte des Gerichts), sondern auch die schon vorher reichen Sachgehalte des Art. 38 Abs. 1 Satz GG um einen weiteren, nämlich die sogenannte „formelle Übertragungskontrolle“ ergänzt. Dass mit der Entscheidung auch eines der ambitioniertesten Projekte des europäischen Wirtschaftsraums jedenfalls zunächst einmal suspendiert wurde (ob zurecht oder zu Unrecht, spielt dabei keine Rolle), das sei nur am Rande erwähnt. Las man etwas darüber? Hier oder anderwärts?
Besondere Zeiten produzieren besondere Maßnahmen und besondere Maßnahmen erfordern besondere rechtswissenschaftliche Begleitung. Das ist keine Frage. Das Fach als wissenschaftliche Disziplin täte indes gut daran, sich an der Zurückhaltung der eingangs genannten Kollegen hier und da ein Beispiel zu nehmen. Von Drosten lernen heißt siegen lernen. Es wird ohnehin zu viel geschrieben.
Wenn man unter diesen Artikel so oft “Danke” schreiben würde, wie es angemessen ist, würde bei Herrn Steinbeis der Webserver voll laufen.
Danke!
Ich kam mir schon schäbig dabei vor, den Klagelauten und Todesgesängen skeptisch bis ablehnend gegenüberzustehen. Richtig gruselig wird es, wenn in den regulären Medien dann Nichtjuristen mit Fachbegriffen wie Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheitsgebot um sich werfen, ohne sie zu kennen. Das erinnert zuweilen an das Phänomen von Kindergartenkindern: die schnappen ein Wort auf und merken am Kontext in dem es gefallen ist, an der Art wie der Sprecher es sagt oder auch an der Reaktion der anderen, dass das wohl ein “spannendes” Wort sein muss und streuen es hier und da ein. Ohne es begriffen zu haben. Hat man bisher eigentlich nur in den Kommentarspalten hinsichtlich der Meinungsfreiheit gesehen.
Sehr geehrter Herr Krüper,
ich finde, Sie gehen zu hart mir den KollegInnen ins Gericht. Tatbestandlich völlig entgrenzte Schutzbereiche, Verhältnismäßigkeitsprüfungen nicht selten bis in die allerletzten Winkel gesetzgeberischer Entscheidungsdetails und dazu verfassungsprozessrechtliche Hebel, mit denen jedermann und jedefrau politische Großentscheidungen auch ganz ohne irgendeine unmittelbare Selbstbetroffenheit in Karlsruhe verfassungsbeschwerdlich überprüfen lassen kann – zuletzt ergänzt um die „formelle Übertragungskontrolle“, wie Sie richtig anmerken. All das hat breite Teile des Staatsrechts eben zu dem gemacht, was es ist: Ein gegen den Politbetrieb zunehmend schwer abgrenzbarer Gegenstand, in dem Politaktivismus und rechtliche Argumentation immer mehr zu einem Amalgam verschmelzen. Und das alles angeblich unwiderleglich damit begründbar, dass eine Unterscheidung zwischen Recht und Politik kategorial nicht möglich, ja nicht einmal diskursiv zugänglich ist und die immer dichtere Verrechtlichung sozialer Beziehungen ohnehin ein Zivilisationsfortschritt.
Wenn Sie nun gerade von den jüngeren KollegInnen erwarten, dass die sich in diesem konturlosen Gegenstand zurechtfinden und der Versuchung widerstehen, irgendwelche Argumente, die ihnen durch den Kopf rauschen und leicht mit irgendeinem verfassungsrechtlichen Topos sprachlich verknüpft werden können, stante pede zu verbloggen, dann erwarten Sie womöglich zu viel.
Ich habe mich über Ihren Beitrag dennoch sehr gefreut.
Bravo!
Droht uns mal wieder ein “Methodenstreit”? Nichts wissen und trotzdem verfassungsrechtliche Bedenken anmelden? Ja, das muss sein, auch wenn es manchen (Politiker) nervt. Hinweise zumal auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind vor allem deswegen angebracht, weil das gesamte Instrumentarium ja noch gar nicht ausgepackt ist. Da wären noch: Kategorische Ausgangssperre, Schließung der Lebensmittelgeschäfte und des ÖPNV, Unterbringung infizierter Menschen in Quarantänezentren (vgl. FAZ v. 28.3.2010, S. 6). Hier müssen die Staats- und Verwaltungsrechtler ihre Stimme erheben, wenn es zu weit geht.Es darf nicht der Eindruck entstehen, es sei alles zulässig, was (vielleicht) nützt.
Ein Hauch von Diktatur liegt über dem Land. Denunziantentum und Blockwartmentalität werden wieder hoffähig. Und viele rufen nach immer härteren Maßnahmen. Wer hätte das gedacht?
Lieber Herr Lindner,
haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Dass ich die juristischen und politischen Entwicklungen keineswegs für unproblematisch halte, habe ich mich zu verdeutlichen bemüht (gschaftlhuberisches Mackertum). Und dass das begleitet und kommentiert werden muss, steht auch außer Frage. Dass die spezifisch wissenschaftliche Perspektive aber auch eine des Maßhaltens in Frequenz und Sache ist (wobei letzteres in der Tat im Moment nicht immer einfach ist), scheint mir aber auch richtig. Darum ging es mir!
Julian Krüper
Volle Zustimmung jedenfalls für die Grundaussage des Beitrags. Es ist gut, dass hier allmählich wieder auch Kritik an der Kritik laut(er) wird. Mit etwas anderem Blickwinkel hat jüngst auch Thomas Fischer in seiner unnachahmlichen Art auf Spiegel-Online zur Problematik (wieder einmal) Kluges geäußert.
Ich habe große Skepsis gegenüber der Rolle, die Teile der deutschen Wissenschaft vom öffentlichen Recht (aber auch andere) in der Diskussion eingenommen haben. Niemand behauptet, in dieser Jahrhundert-Krise eine Patentlösung zu haben. Aber dass konkrete, und auch einschneidende, Maßnahmen angezeigt sind, dürfte zweifelsfrei sein. (Ebenso wie ich jedenfalls für Deutschland keinen Zweifel daran habe, dass es sich um temporäre Maßnahmen handelt.)
Noch zum Verhältsnismäßigkeitsgrundsatz: Der Rekurs auf die Verhältnismäßigkeit (“Abwägung”) ist im deutschen Verfassungsrecht eine der gröbsten Keulen, die es gibt (neben der Menschenwürde), und jedenfalls alles andere als juristische Feindogmatik – z.T. scheint er mir manches Mal eher auf eine politische Selbstermächtigung der subsumierenden Personen hinauszulaufen. Letztlich richtet sich diese Ermächtigung aber nur an das BVerfG. Das schließt “Meinungen” zur (Un-) Verhältnismäßigkeit selbstredend nicht aus. Sie sind im Diskurs sogar notwendig. Nach meinem Dafürhalten ist dabei aber gerade in der aktuellen Situation besondere Zurückhaltung, ja “Demut” angezeigt.
Endlich schreibt das mal einer. Danke! Es scheint ja derzeit so, als ob alles, wo “Corona” draufsteht, veröffentlicht wird, auch wenn es irrelevant ist oder alles Wesentliche schon gesagt wurde (wieviele Beiträge brauchen wir zB zur strafrechtlichen Seite des InfektionsSchG?