Odysseus am Mast
Möglichkeiten institutioneller Selbstbindung bei Entscheidungen in eigener Sache
Als Odysseus auf seiner langen Heimfahrt an der Insel der Sirenen vorbeikam, mussten er und seine Männer Mittel und Wege finden, dem verzaubernden Gesang der Sirenen zu entgehen. Odysseus ließ sich fest an den Mast seines Schiffes binden, und seine Männer stopften sich Wachs in die Ohren. Vor einem ähnlichen Problem stehen Parteien und Politiker, wenn sie Entscheidungen in eigener Sache treffen, also Entscheidungen, in denen sie selbst die Regeln des politischen Wettbewerbs und damit ihres Machterwerbs bestimmen können. Es besteht der durchaus verlockende Anreiz, diese Macht zu persönlichen Gunsten auszunutzen. Wie kann verhindert werden, dass Machtmissbrauch in solchen Konstellationen stattfindet?
Am besten wäre, Politiker und Parteien kämen gar nicht erst in derartige Versuchungen. Allerdings zeichnet sich das Wesen der Politik dadurch aus, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Abgeordnete sind dafür gewählt, also demokratisch beauftragt und legitimiert, wichtige gemeinverbindliche Beschlüsse zu fassen. Als wichtigstes Verbindungsstück zwischen Staat und Gesellschaft sind Parteien dabei nahezu zwangsläufig beteiligt, sei es durch Abgeordnete im Parlament oder Parteivertreter in anderen Gremien. Wie für Odysseus und seine Männer führt mitunter kein Weg an der Versuchung vorbei, sondern nur mitten hindurch.
Dem kann zumindest teilweise entgegenwirken, dass ein Entscheidungsgremium plural besetzt ist und Parteiinteressen sich gegenseitig neutralisieren. Wird eine Entscheidung weitgehend konsensual gefällt, ist es unwahrscheinlicher, dass sie Interessen beteiligter Akteure ignoriert. Wird nicht im Konsens entschieden, können politische Kräfte, die nicht einverstanden sind, das aus ihrer Sicht fehlerhafte Verhalten ihrer Konkurrenten öffentlich kritisieren oder gar skandalisieren. Parteien, die nicht in Entscheidungen miteinbezogen sind, etwa Klein- und Kleinstparteien, bleiben allerdings außen vor. Die Gruppe der Bundestagsparteien kann sich – aus guten Gründen – untereinander einig sein, aber dennoch die Interessen kleinerer Parteien ausblenden, wie etwa bei der Fünfprozenthürde.
Um zu verstehen, wie Manipulation und Machtmissbrauch vorgebeugt werden kann, lohnt ein Blick auf bereits bestehende institutionelle Designs, in denen Abgeordnete oder Parteivertreter theoretisch die Möglichkeit hätten, sich selbst Vorteile zu verschaffen. Im Rahmen der Wahlorganisation treffen wir auf solche Konstellationen an mindestens drei Stellen: bei der Wahlkreiseinteilung, der Parteien- und Kandidatenzulassung sowie der Wahlprüfung. Können die Regeln, die dort gefunden wurden, Blaupause für den generellen Umgang mit derartigen Problemen sein?
Gefahr des Gerrymanderings
Vor jeder Wahl werden die Bundestagswahlkreise überprüft und meist aufgrund von Bevölkerungsentwicklungen neu. Dies geschieht durch eine Gesetzesänderung, die die Anlage 2 des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) anpasst. Es entscheiden also gewählte Abgeordnete darüber, wie ihre eigenen Wahlkreise zugeschnitten sind. So drängt sich der Verdacht auf, dass ähnlich wie in den USA sogenanntes Gerrymandering1) – also die politisch motivierte Veränderung von Wahlkreisgrenzen zum eigenen Vorteil – betrieben werden könnte. Die Regierungsmehrheit könnte Wahlkreiszuschnitte beschließen, die es ihren Wahlkreiskandidaten ermöglichte, deutlich häufiger Mandate direkt zu gewinnen.
Die personalisierte Verhältniswahl bietet allerdings aus der Perspektive der Parteien keine Anreize zu derartigen Manipulationen, da für die Mandatsverteilung nur der Zweitstimmenanteil und nicht etwa die Zahl der gewonnenen Wahlkreise relevant ist. Somit könnten allenfalls einzelne Abgeordnete ein Interesse an spezifischen Wahlkreiszuschnitten haben, um die eigene Wiederwahl abzusichern. Hinzu kommt die Eingrenzung des Entscheidungsspielraums durch die Vorgaben des Bundeswahlgesetzes. Wahlkreise müssen aus einem zusammenhängenden Gebiet bestehen, dürfen nicht mehr als +- 25 Prozentpunkte vom Bevölkerungsschnitt abweichen und sollten sich an bestehenden administrativen Grenzen orientieren. Diese Festlegungen schränken den Gestaltungsspielraum zusätzlich ein.
1956 wurde die Wahlkreiskommission als unabhängiges Expertengremium eingerichtet. Sie soll zeigen, wo Wahlkreise aufgrund von Bevölkerungsentwicklungen neu zugeschnitten werden müssen und dazu Vorschläge unterbreiten. Dabei bezieht sie unter anderem auch Stellungnahmen der jeweiligen Landesregierungen und der Landesverbände der Bundestagsparteien mit ein. Trotz dieser umfangreichen Vorbereitungen übernimmt der Gesetzgeber nur einen Bruchteil der unterbreiteten Änderungsvorschläge. Für die Bundestagswahl 2021 beispielsweise legte die Wahlkreiskommission insgesamt 22 Änderungsvorschläge vor, von denen nur zwei übernommen wurden. Vier wurden anderweitig gelöst und der Rest unverändert belassen. Für andere Wahlperioden ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Arbeit der Wahlkreiskommission ist, auch wenn ihre Vorschläge selten umgesetzt werden, nicht vergebens. Seit ihrer Einsetzung ermahnt ihr Bericht die Abgeordneten dazu, regelmäßig eine Neuabgrenzung der Wahlkreise vorzunehmen.2)
So wie die Wahlkreiseinteilung bislang strukturiert ist, ist das Modell einer vorgeschalteten Expertenkommission allerdings nur bedingt geeignet, Machtmissbrauch zu verhindern. Deutlich stärker wirken der fehlende strategische Anreiz, die Wahlkreiseinteilung zu manipulieren, sowie die rechtlichen Vorgaben, die den Gesetzgeber einschränken.
Unliebsame Mitbewerber ausschließen
Einem anderen institutionellen Design folgt die Parteien- und Kandidatenzulassung, die die jeweiligen Wahlausschüsse auf Wahlkreis-, Landes- und Bundesebene vollziehen. Sie bestehen aus dem Wahlleiter, von den Parteien vorgeschlagenen Beisitzern (acht auf Bundesebene und sechs auf Landes- und Wahlkreisebene) und je zwei Richtern des Oberverwaltungsgerichts beziehungsweise der Landesverwaltungsgerichte (auf Landes- und Bundesebene). Insbesondere letztere wurden 2012 mit dem „Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen“ zur Ergänzung der Wahlausschüsse mit der Hoffnung eingeführt, mehr juristischen Sachverstand in die Entscheidungen einfließen zu lassen.3) Bei der Zuteilung der Beisitzer sind die Parteien entsprechend des Wahlergebnisses der letzten Bundestagswahl im jeweiligen Wahlgebiet zu berücksichtigen. Die von den Parteien benannten Beisitzer stellen in den Wahlausschüssen somit die Mehrheit der Mitglieder. Hinzu kommt, dass die Bundesinnenminister bzw. Landesregierungen die Wahlleiter ernennen. Das ist nicht unproblematisch, da eine der Hauptaufgaben der Wahlausschüsse ist, zu entscheiden, welche Parteien und Kandidaten an der Wahl teilnehmen dürfen. So entscheiden hier ebenfalls Parteivertreter darüber, gegen wen ihre Parteien bei der Wahl antreten.
Wer schon einmal einer Wahlausschusssitzung beigewohnt hat, wird allerdings bemerkt haben, dass Parteipolitik dort kaum stattfindet.4) Zum einen sind die Mitglieder zwar von ihren Parteien benannt, stehen diesen gegenüber aber in aller Regel nicht in einem finanziellen oder politischen Abhängigkeitsverhältnis. Auch das Amt des Wahlleiters wird als unabhängiges Ehrenamt ausgeübt. Zum anderen ist der Entscheidungsspielraum, ob ein Wahlvorschlag zuzulassen oder abzulehnen ist, sehr eng. Oft besteht nur in speziellen Konstellationen überhaupt eine Abwägungsentscheidung. Ein prominentes Beispiel aus der jüngeren Zeit ist die Entscheidung des Landeswahlausschusses Bremen, die Landesliste der AfD nicht zur Wahl zuzulassen, da die Unterschrift einer Vertrauensperson fehlte. Er musste in diesem Fall abwägen, ob die Verweigerung der Unterschrift schwerwiegend genug war, um den Ausschluss der Landesliste zu rechtfertigen. Der Landeswahlausschuss wies die Liste zurück, wogegen die AfD Bremen Beschwerde beim Bundeswahlausschuss einlegte. Dieser gab ihr recht und ließ die Liste zu. Auch diese durchaus strittige Entscheidung erging fast einstimmig bei nur einer Enthaltung und einer Nein-Stimme im Bundeswahlausschuss.
In den Wahlausschüssen beschränkt Machtmissbrauch, dass ihre Mitglieder, die zwar Parteimitglieder sind, sich selbst nicht als Agenten ihrer Parteien verstehen.5) Zum anderen ist der Entscheidungsspielraum, den das Bundeswahlgesetz den Ausschüssen einräumt, gering. Hinzu kommt die Möglichkeit, gegen Entscheidungen der Wahlausschüsse Beschwerde beim nächsthöheren Ausschuss einzulegen. Ob die Einbeziehung richterlicher Mitglieder die Arbeitsweise der Ausschüsse verrechtlicht hat, ist fraglich, da die meisten Mitglieder, zumindest des Bundeswahlausschusses, ohnehin eine juristische Ausbildung vorzuweisen haben.6) An der mehrheitlich konsensualen Entscheidungsfindung änderten sie jedenfalls nichts.
Den eigenen Betrug vertuschen
Nach Bundestagswahlen (und Wahlen zum Europäischen Parlament) können Wahlberechtigte und Wahlorgane Wahlbeschwerden beim Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestags einreichen. Dieser besteht aus neun Abgeordneten und hat die Aufgabe, eine Beschlussempfehlung zu erarbeiten, wie mit den Wahleinsprüchen zu verfahren ist. Auch hier liegt potenziell eine problematische Konstellation vor, wenn Abgeordnete über die Gültigkeit ihrer eigenen Wahl entscheiden. Sie könnten beispielsweise dabei vorgefallene Unregelmäßigkeiten verdecken und so durch Wahlbetrug ihre eigene Wahl absichern – eine Praxis die im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich war.7) Weist der Bundestag einen Wahleinspruch zurück, besteht die Möglichkeit, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde dagegen einzulegen.
Diese institutionelle Hürde schränkt solche Manipulationsversuche bereits maßgeblich ein. Bei ihren Entscheidungen müssen die Abgeordneten stets bedenken, dass mit dem BVerfG ein weiteres Gremium diese revidieren kann. Während der Deutsche Bundestag bislang fast alle Wahleinsprüche zurückwies, hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder einzelne Wahleinsprüche zum Anlass genommen, um den Gesetzgeber zu Nachbesserungen am Wahlrecht aufzufordern und damit dem Begehren der jeweiligen Einspruchsführer entsprochen. So geht beispielsweise die folgenschwere Entscheidung des BVerfG zum negativen Stimmgewicht8) auf einen Wahleinspruch zurück. Dass das Gericht hier und in anderen Fällen zu anderen Ergebnissen als der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags kam, ist allerdings kein Indiz für Manipulation seitens des Ausschusses, sondern liegt darin begründet, dass der Ausschuss weitreichendere Entscheidungen zur Gültigkeit von Rechtsnormen explizit dem BVerfG überlässt.
Für die Arbeit im Wahlprüfungsausschuss gilt, dass die meisten Beschlüsse unstrittig sind, da entweder die Zulässigkeit nicht gegeben ist oder, wenn es sich um einen Wahlfehler handelt, die Mandatsrelevanz fehlt. Lediglich in Einzelfällen, etwa bezüglich der kürzlich zu entscheidenden Frage, wie umfangreich die Wahlwiederholungen in Berlin sein sollen, war politischer Streit zu vernehmen. Während die Abgeordneten der Regierungsmehrheit sich für eine möglichst minimalinvasive Wiederholung einsetzten, plädierte insbesondere die Unionsfraktion für deutlich umfangreichere Wiederholungswahlen. Hier spielten neben den rechtlichen Gesichtspunkten sicherlich auch politische Motive eine Rolle. Die Union konnte sich vor dem Hintergrund guter Umfragewerte von einer möglichst umfangreichen Wahlwiederholung mehr Mandate erhoffen, während den Regierungsfraktionen daran gelegen gewesen sein dürfte, dies zu verhindern. Letztlich wird das BVerfG entscheiden, ob die minimalinvasive Lösung der Ampelkoalition rechtens war, was wiederum zeigt, wie wirkmächtig der mehrstufige Prozess der Wahlprüfung ist.
Eigennützige Entscheidungen verhindern
Im Rahmen der Wahlorganisation treffen wir an mehreren Stellen Konstellationen an, in denen Parteivertreter Entscheidungen treffen könnten, die ihren Parteien (oder sich selbst) einen Vorteil verschaffen würden. Man kann, etwa bei den Wahlausschüssen, infrage stellen, ob sie wirklich aus von den Parteien vorgeschlagenen Vertretern besetzt sein müssen. Unabhängig von der Bewertung dieser Frage lassen sich allerdings keine Anzeichen für einen systematischen Machtmissbrauch durch diese Gremien finden. Um zu verstehen warum, hilft der Blick auf die institutionellen Designs.
In allen drei Fällen existieren neben dem Gremium, in dem Parteivertreter sitzen, noch weitere vor- bzw. nachgelagerte Gremien. Insbesondere die nachgelagerte Überprüfungsmöglichkeit reduziert Anreize zum Machtmissbrauch, da sie objektiv falsche Entscheidungen revidieren kann. Die der Wahlkreiseinteilung vorgelagerte Wahlkreiskommission hingegen kann auf die endgültige Einteilung der Wahlkreise kaum einwirken.
Bei allen drei Fallbeispielen zeigt sich, dass viele Varianten des Machtmissbrauchs schon im Vorwege verhindert werden, indem Regeln den Entscheidungsspielraum einengen. Im Rahmen der Wahlkreiseinteilung etwa sind die in § 3 Bundeswahlgesetz festgelegten Regeln einzuhalten, was einer disproportionalen Wahlkreiseinteilung bereits einen Riegel vorschiebt. Hinzu kommt, dass Machtmissbrauch nur dann eine individuell sinnvolle Strategie ist, wenn der Nutzen die Kosten übersteigt.
Die Wahlausschüsse präsentieren zudem das Modell der gemischten Gremien. Dort sitzen neben den Parteivertretern auch der Wahlleiter bzw. die Wahlleiterin und auf Landes- und Bundesebene richterliche Mitglieder. Während es keine Indizien dafür gibt, dass sich letztere in den Ausschüssen anders verhalten als ihre nicht-richterlichen Kollegen, ist insbesondere die Rolle des zumindest formal nicht von einer Partei entsandten Wahlleiters hervorzuheben. Dessen Sitzungsleitung schränkt die ggf. drohende Dominanz der Parteivertreter zusätzlich ein.
Die vorangegangenen Überlegungen zeigen: Wenn Parteivertreter in eigener Sache entscheiden, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass sie diese Macht zu ihren Gunsten ausnutzen. Die Gefahr existiert, kann allerdings begrenzt werden. Je nachdem, um welchen Sachverhalt und welche Gremien es sich handelt, können verschiedene institutionelle Designs gewählt werden. Im Rahmen der Organisation von Bundestagswahlen treffen wir vorbereitende Expertengremien, nachgelagerte externe Überprüfung, Mischgremien und vor allem klare Regeln, die den Handlungsspielraum von vornherein einengen, an. Dies sind Vorkehrungen dafür, wie die Parteien sich – im Bild der Odyssee gesprochen – selbst an den Mast binden bzw. die Ohren mit Wachs verschließen, um nicht der Versuchung des Sirenengesangs zu erliegen.
References
↑1 | Siehe zum Begriff und zur Bedeutung in der US-amerikanischen Geschichte Engstrom, Erik: Partisan Gerrymandering and the Construction of American Democracy, Michigan 2013. |
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↑2 | Dies zeigte sich besonders in den ersten Wahlperioden, siehe Ridder, Wiegand: Die Einteilung der Parlamentswahlkreise, Göttingen 1976. |
↑3 | Siehe bspw. Danzer, Stephan, Zur Einführung des Rechtsschutzes vor der Wahl, in KommP Wahlen, H.1, 2012, S. 66-67. |
↑4 | Berichte zu den Wahlausschusssitzungen veröffentlicht regelmäßig Johannes Risse, siehe zuletzt ders.: Der Bundeswahlausschuss und die Bundestagswahl 2021, in: MIP, H. 1 2022, S. 1-19. |
↑5 | Eigene Befragung und Experteninterviews. |
↑6 | Martin Jäger: Die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl, 2021, Berlin, S. 209-213. |
↑7 | Siehe hierzu Robert Arsenschek: Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich, Düsseldorf 2003; Margaret Anderson: Practicing Democracy. Elections and political culture in imperial Germany, 2000 Princeton, New Jersey. |
↑8 | BVerfGE 121, 266. |