Palantirs Beitrag
Schamlos und ungeschickt "zur Verteidigung Europas"
Am 15. Tag des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ruft Alexander Karp, der CEO von Palantir Technologies, in einem offenen Brief „Zur Verteidigung Europas“ auf. Es ist ein bemerkenswertes Dokument, das zu dem Schluss kommt, nur digitale Gegenwehr könne Europa noch retten – selbstredend mit Palantirs Hilfe. Bemerkenswert ist nicht nur die schamlose Instrumentalisierung des Kriegs für seine Zwecke. Prämisse, Analyse, Schlussfolgerung: Satz für Satz lässt Karps Brief die Augenbrauen höher wandern. Aber der Reihe nach.
Sehende Steine als Wundermittel
Palantir, benannt nach den Sehenden Steinen aus Tolkiens „Herr der Ringe“, ist ein US-amerikanisches Technologieunternehmen, das sich auf Big Data spezialisiert hat, also die Auswertung großer Datensätze. Einer der ersten Investoren war In-Q-Tel, der Investmentarm der CIA; größter Anteilseigner ist Peter Thiel, ein Tech-Milliardär mit deutschen Wurzeln, der Donald Trump mit Geld und Reden unterstützte, seine Freiheit vom Frauenwahlrecht untergraben sieht und den skandalumwitterten österreichischen Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz als „global strategist“ beschäftigt.
Ein Schwerpunkt des Unternehmens liegt auf der Entwicklung und dem Betrieb von Software für Polizeibehörden, Nachrichtendienste und das Militär – zunehmend auch in Deutschland. Zu Palantirs Aushängeschildern gehört Predictive Policing, also der Versuch der Vorhersage künftiger Straftaten, sowie die Aufbereitung von Polizei-Datenbanken und ihre Verknüpfung mit öffentlich zugänglichen Daten – also all das, wozu sich eingestaubte Behörden aus eigener Kraft nicht in der Lage oder befugt sehen. Das Unternehmen wirkt so bisweilen wie der Große Bruder, der mit Wundermitteln hilft, wenn Vater Staat nicht weiterweiß.
„Die westliche Zivilisation lastete in den vergangenen 15 Jahren einige Male auf unseren eher schmalen Schultern“, sagte CEO Karp einmal ganz bescheiden der New York Times unter Verweis auf Terroranschläge, die Palantir verhindert haben will. Bei allem Weit- und Tiefblick, den Karp für sein Unternehmen in Anspruch nimmt, besteht er stets darauf, in seine Produkte Vorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre einzubauen. Die beiden wichtigsten Ausprägungen dieses Schutzes sind allerdings trivial: die Beschränkung des Datenzugriffs auf die dazu Berechtigten und eine Protokollierung aller Zugriffe. Schon lange sagt Karp, Palantir sei gebaut worden, „um den Westen zu unterstützen“. Deshalb betreibe das Unternehmen keine Geschäfte mit Ländern wie Russland oder China.
Europas „Fantasievorstellungen“
Nun also dieser Brief. Er ist auf Palantirs Internetseite prominent verlinkt. Und Karp holt darin weit aus: Die Geschichte sei schon immer unangenehm für all jene gewesen, deren Überzeugungen über ihren angeblichen Verlauf am stärksten gewesen seien. Er nennt die „Fantasievorstellung“ eines dauerhaften Friedens in Europa „bestenfalls verfrüht“ – und man fragt sich unwillkürlich, welche Fantasievorstellung er meint. Denn anders als offenbar ihm ist hierzulande durchaus bekannt, dass seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa mehr Krieg herrschte als in den vier Jahrzehnten zuvor: Die Jugoslawien- und die Tschetschenienkriege in den 1990er- und den 2000er-Jahren, der Krieg in Georgien 2008, die russische Annexion der Krim 2014, die jahrelangen Kämpfe der ukrainischen Regierung um abtrünnige Provinzen im Osten des Landes, schließlich die Kriege um Bergkarabach, zuletzt im Jahr 2020. In den Staaten östlich von Deutschland hat sich niemand je Illusionen über die Gefahr gemacht, die von Putins Russland ausgeht. Dass Westeuropa die kleinen und großen russischen Aggressionen der letzten Jahre nicht ernst genug nahm, ist zwar durchaus richtig; doch diese Mitursache wiegt wenig gegenüber Russlands Schuld an diesem Krieg.
Staatsgewalt zur Eindämmung von Staatsgewalt
Gleichwohl stellt Karp eine vermeintliche „Vermischung deskriptiver und normativer Darstellungen der Welt“ in das Ursachenzentrum der aktuellen Krise. Der Ukrainekrieg rühre aus der kollektiven Ungläubigkeit all jener, die ein überzogenes Vertrauen in die rohe Kraft ihrer Ideale entwickelt hätten. Nur dies habe es in den letzten Jahrzehnten ermöglicht, dass sich das Machtgleichgewicht in Europa verschiebe. Wir seien so lange Zeit so sicher gewesen, dass die Geschichte geendet habe, dass wir ihrer Entwicklung nun in stillem Schock gegenüberstünden.
Auch das ist alles nicht recht nachvollziehbar: Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ aus dem Jahr 1989 gilt längst als widerlegt, durch Ereignisse wie 9/11 und Entwicklungen wie Chinas Aufstieg oder Trumps Präsidentschaft; sogar Fukuyama selbst sagt schon seit Jahren, das Ende sei vertagt. Es ist außerdem unklar, ob sich Karps Vorwurf der Fehleinschätzung gegen jene richtet, die an Russlands Wandel durch Handel glaubten, gegen jene, die in der Vergangenheit Aufrüstung und Abschreckung ablehnten, oder gegen jene, die die Ukraine nicht in die NATO aufnehmen wollten. Und „stiller Schock“ ist nun wirklich nicht die richtige Bezeichnung für die (politische) Gefühlslage im Westen seit Kriegsbeginn. Unschärfen wie diese aber zeichnen Karps gesamten Brief aus.
Das betrifft auch seine nächste These, wonach die rohe Staatsgewalt und die Fähigkeit des Staates, seine Vorstellungen von individueller Freiheit oder der angemessenen Begrenzung staatlicher Überwachung durchzusetzen, untrennbar miteinander verbunden seien. Er meint, nur Staatsgewalt ermögliche es, individuelle Freiheit gegen diese Staatsgewalt zu verteidigen. Das ist ein merkwürdig zirkuläres, vor allem aber verkürztes Staatsverständnis. Der Staat ist nicht primär dazu da, Gefahren für die Freiheit einzudämmen, die er selbst begründet. Dann wäre er ziemlich überflüssig. Tatsächlich liegt seine Funktion darin, gerade jene freie Entfaltung der Persönlichkeit zu fördern, die ohne ihn nicht möglich ist. Dazu gehört, das bestreitet niemand, ein Gewaltmonopol.
„The Center Will Hold“
Doch Karp braucht diese Idee vom starken Staat für seine nächste Schlussfolgerung, zu der er aber nur über den Umweg einer weiteren Unschärfe gelangt: Es sei absurd, darüber zu diskutieren, die Staatsgewalt und die Macht von Unternehmen zu begrenzen, solange eine Gemeinschaft nicht die Mittel zur Selbstverteidigung besitze. Er vermengt also das nach innen wirkende staatliche Gewaltmonopol mit der nach außen gerichteten Verteidigungsfähigkeit und meint, nur wer sich verteidigen könne, könne vernünftig über Begrenzungen der Staatsgewalt nach innen diskutieren. Doch warum sollten militärisch verletzliche Staaten nicht über die Begrenzung der Staatsgewalt nach innen diskutieren? Und überhaupt ist die These kaum zu begründen, der Westen sei (ohne Palantir) schutzlos: Nicht einmal Putin wird bezweifeln, dass die NATO ihre Mitglieder auch gegen Russland verteidigen könnte.
Von dieser wackligen Grundlage aus wagt Karp nun einen großen Sprung: Europa habe zwei Jahrzehnte an der Seitenlinie der digitalen Revolution verbracht, lautet der Vorwurf. Der Kontinent müsse endlich digitale Technik nutzen, um sich zu schützen. Karp scheut nicht davor zurück, ganz konkret zu werden: Europa solle sich disruptiven Unternehmen (wie Palantir) zuwenden, die die feste Umarmung zwischen etablierten Auftragnehmern und Regierungen aufbrechen wollten. Palantirs Software sei auf der ganzen Welt im Einsatz. „Das Zentrum wird halten“, schreibt er („[t]he center will hold“), was auch immer das bedeuten mag. Aber das Unternehmen brauche eine vereinte Technologie-Industrie in Europa, die sich erhebe und diesen Kampf an Palantirs Seite führe, um ihn zu gewinnen. Welchen Kampf genau meint er? Jenen der Ukraine gegen Russland? Einen Angriff Russlands gegen ein weiteres europäisches Land, gar ein NATO- oder EU-Mitglied? Künftige Konflikte mit China? Man weiß es nicht.
Ein (Alb-)Traumprodukt
In der Gesamtschau ist der ganze Brief nichts weiter als ein ungeschickter, geradezu krampfhafter Versuch, mit Russlands Angriff auf die Ukraine für Palantirs Technologie zu werben. Karps Argument scheint es zu sein, dass Palantir den Staat nach innen und nach außen stärke. Doch was er über die Stärkung der Staatsgewalt schreibt, klingt mehr nach ihrer fortgesetzten Privatisierung. Karp wird ganz nebenbei zum Opfer seiner eigenen Ausgangsthese, wonach Menschen gern Wunsch und Wirklichkeit verwechseln: Er wünscht sich, dass die Produkte seiner Firma den Staat nach innen und nach außen stärken, ohne individuelle Freiheitsrechte zu verletzen. In der Realität aber ist Palantirs Beitrag zur Verteidigung umstritten und die Beschränkung von Freiheit ist seiner Technologie inhärent.
Seit Palantir begonnen hat, Polizeibehörden und Nachrichtendienste mit Software zu versorgen, haben zahlreiche Stellen ihre Verträge wieder gekündigt, darunter etwa die Polizei in New York und die NSA. In der CIA sind die Meinungen über den Nutzen von Palantirs Software geteilt. Ungeteilt sind hingegen die Meinungen von Aktivist*innen: Palantirs Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Immigration and Customs Enforcement (ICE) rief etliche Menschenrechtsorganisationen auf den Plan, die Palantir vorwarfen, Donald Trumps harte Abschiebepolitik zu fördern. Die US-Bürgerrechtsorganisation ACLU bezeichnet das Unternehmen als Schlüsselfirma der Überwachungsindustrie, dessen Software in einen totalitären Albtraum führen könne. Scharf kritisiert wurde auch, dass ein Londoner Palantir-Mitarbeiter Cambridge Analytica beriet, das hoch umstrittene Unternehmen, das mit Big Data die Wahl Donald Trumps ermöglicht haben will.
„Software“, schreibt Karp, „ist so sehr wie alles andere ein Produkt der rechtlichen und moralischen Ordnung, der sie entstammt, und spielt eine Rolle in ihrer Verteidigung.“ Genau in dieser Aussage liegt das Problem, ein doppeltes sogar: Erstens kann Technologie ebenso gut die rechtliche und moralische Ordnung zerstören, die sie hervorgebracht hat. Das gilt gerade für die USA, deren digitalen Innovationsgeist Karp so lobt, mit ihren von Facebook und Co. befeuerten Kulturkämpfen. Zweitens nimmt Karp fälschlicherweise an, dass staatliche Überwachung durch westliche Regierungen stets legitim sei.
Das ist sie nicht, wie etwa Trumps unmenschliche Abschiebepolitik beweist. Sie ist oft sogar illegal, wie es das Bundesverfassungsgericht für Deutschland und der Europäische Gerichtshof für die Europäische Union immer wieder festgestellt haben. Gerade auch der Einsatz von Palantirs Software „Gotham“ durch deutsche Polizeidienststellen beruht auf völlig unzureichenden Rechtsgrundlagen, weshalb meine Organisation, die Gesellschaft für Freiheitsrechte, gegen sie klagt. Wir stellen auch infrage, ob das, was diese Software leisten soll, überhaupt gerechtfertigt werden kann: nämlich Menschen zu vermessen und Persönlichkeitsprofile zu erstellen, die sich noch nie etwas haben zuschulden kommen lassen. Selbst wenn man Palantir mit mehr Wohlwollen begegnen will als ich – die Instrumentalisierung des Leids in der Ukraine für die Interessen seines Unternehmens hätte sich Karp besser gespart.
Wo ist der rechtliche Bezug dieses Artikels? Urteile müssen auch nicht mehr verlinkt werden, nur der Hinweis auf die eigene Organisation?