05 September 2022

Pastorale Agonalität

Die bundespräsidiale Demokratiepolitik Frank-Walter Steinmeiers

Das deutsche Staatsoberhaupt ist parteipolitisch neutral. Kommt dies deutschen Bürger:innen wie eine Selbstverständlichkeit vor, ist es doch eine politische Anomalie, die, so ist hinlänglich bekannt, als eine Lehre aus Weimar zu verstehen ist. In einem Urteil stellte auch das Bundesverfassungsgericht noch einmal fest, dass der Bundespräsident sich entsprechend seiner verfassungsrechtlichen Stellung zur alltäglichen Parteipolitik distanziert zu verhalten habe. Das Bundespräsidialamt argumentiert wiederum, dass genau diese Stellung es dem Präsidenten ermögliche, „klärende Kraft zu sein, Vorurteile abzubauen, Bürgerinteressen zu artikulieren, die öffentliche Diskussion zu beeinflussen, Kritik zu üben, Anregungen und Vorschläge zu machen.“ Der Parteipolitik enthoben soll er für Orientierung in normativen, moralischen, ethischen oder schlicht grundsätzlichen Fragen sorgen. Da ja vor allem das gesprochene Wort das Instrument des Bundespräsidenten ist, überrascht es nicht, dass Bürger:innen allzu oft mit pastoraler, kirchentagsähnlicher Rhetorik von oben adressiert werden. Es verwundert auch nicht, dass dieses Amt eine protestantische Denk- und Sprechkultur geradezu kondensiert (nur die beiden Bundespräsidenten Heinrich Lübke und Christian Wulff waren Katholiken).1) Wo Parteipolitik aufhört, so scheint es in deutschen Debatten, beginnt das Ethik-Hauptseminar.

Vom Ethik-Hauptseminar zum Proseminar Demokratietheorie

Der aktuell amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lädt seit Beginn seiner ersten Amtszeit 2017 in ein Proseminar Demokratietheorie ein. „Demokratie“ hatte er zum Thema seiner ersten Amtszeit erwählt; er versteht sich – mit Recht und guten Gründen – in Zeiten einer Anfechtung der Demokratie von außen und innen als deren Hüter und Verteidiger. Als Motto seiner zweiten Amtszeit, die er dank Wiederwahl in der Bundesversammlung im Februar 2022 antrat, haben er und seine Büroleiterin Dörte Dinger angegeben, er wolle mehr „Kontroverse wagen“. In seiner Rede zum zweiten Amtsantritt erklärte Steinmeier also: „Ich bin hier und ich bleibe! Ich werde als Bundespräsident keine Kontroverse scheuen, denn ohne Kontroverse keine Demokratie. Aber es gibt eine rote Linie und die verläuft bei Hass und Gewalt!“ Bei dieser Gelegenheit gab er auch zu Protokoll: „Wer für die Demokratie streitet, hat mich an seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!“

Und tatsächlich hat es den Anschein, dass Steinmeier seither zahlreiche Kontroversen nicht nur nicht gescheut, sondern bisweilen auch gesucht hat: Er hat sich bemerkenswert deutlich zum Problem einer ökonomischen Abhängigkeit von China positioniert, eine viel diskutierte Rede zum Antisemitismus auf der Documenta in Kassel gehalten, in der Kontroverse um eine allgemeine Dienstpflicht Stellung bezogen, angesichts der russischen Invasion der Ukraine öffentlich Fehleinschätzungen und Naivität konzediert, und sein Staatsbesuch in der Ukraine wurde ihm als persona non grata unter großer öffentlicher Diskussion abgesagt, was den Blick auf seine Zeit als ehemaliger Bundesaußenminister und Kanzleramtschef lenkte. Wie lässt sich nun Steinmeiers programmatische Lust auf Einmischung und Kontroverse erklären? Gerät der Bundespräsident an die Grenzen seiner Überparteilichkeit?

Zunächst kann Steinmeier den größer gewordenen – politischen, diskursiven – Spielraum neben einer Ampel-Regierung nutzen, in der Konflikte offen zu Tage liegen, in der politisch gestritten und politisch gesprochen wird. Neben einer ebenfalls präsidial wirkenden Bundeskanzlerin hätte schon jede der kurz angeführten Verlautbarungen Steinmeiers als Grenzüberschreitung gewirkt, denn die deutsche Öffentlichkeit unter Angela Merkel war trotz aller Krisen und Konflikte geradezu berauscht von politischer Geräuschlosigkeit. Doch die jetzigen Krisen und Herausforderungen erfordern einen härteren Tonfall; auch eine Außenministerin wie Annalena Baerbock wurde im Juli 2022 bei einem Besuch in der Türkei viel deutlicher als ihre Amtsvorgänger. Nie war die Aufmerksamkeit für politische Kommunikation, nie waren die Erwartungen an Geradlinigkeit bei gleichzeitiger Kompromissfähigkeit so hoch wie heute.

Zugleich mag die selbstgewählte Kontroversität von Steinmeiers Einlassungen an seinem selbstgewählten Thema Demokratie liegen. Das Eintreten für Demokratie erscheint als eine kämpferische Position; es gibt, darauf macht der Präsident aufmerksam, Feinde der Demokratie innen und außen, denen man klarmachen muss, was Demokratie als Staatsform und als Gesellschaftsordnung erfordert. Hier kann aber der Bundespräsident kaum die Versäumnisse politischer Bildungsarbeit kompensieren.

Über diese Erklärungsansätze hinaus scheint es interessant, jene Lust an der Kontroverse zu Steinmeiers immer wieder prononciertem Demokratieverständnis ins Verhältnis zu setzen. Steinmeier macht sich für einen Demokratiebegriff stark, der auf Diskussion, Auseinandersetzung und auf eine (politisch und rechtlich gezähmte) Konfliktivität setzt. Es lohnt sich daher, die Versatzstücke moderner Demokratietheorie in bundespräsidialen Reden anzuschauen und zu überlegen, inwiefern Steinmeiers kontroverse Einsätze performativ sein Demokratieverständnis umzusetzen versuchen.

Steinmeier betreibt eine Form metaparteipolitischer Demokratiepolitik

Gerade in der Debatte um Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wird immer wieder diskutiert, in welchem Maße Demokratie auf eine „entgegenkommende Lebenswelt“ (Jürgen Habermas) angewiesen sei. In diesem Zusammenhang mahnte Steinmeier 2020, die wehrhaften Institutionen der Demokratie bedürften einer wehrhaften Zivilgesellschaft, in der sich Bürger:innen Radikalen, Extremisten und Populisten entgegenstellen müssen. Hier wird der Begriff des Populismus für einen Antagonismus nutzbar gemacht: Es gebe eine Kluft zwischen Bürger:innen, die auf der Seite der liberalen Demokratie stünden, und denen auf der Seite der illiberalen, gefährlichen, antidemokratischen Populisten oder derjenigen, die nur wegschauten. Der überparteiliche Steinmeier bemüht sich hiermit um einen Weg, gängige Parteispaltungen und polarisierende cleavages zu überwinden, indem er die Differenz zwischen Demokraten und Antidemokraten an die Stelle konkreter politischer, politikalltäglicher Konflikte setzt. Er betreibt eine Form metaparteipolitischer Demokratiepolitik.

Für diese mobilisiert Steinmeier Versatzstücke aus sozialwissenschaftlichen Debatten der Gegenwart. Auffällig sind etwa Bezüge zum Werk des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller, dem es gelingt, langwährende akademische Debatten in lesbare, populärwissenschaftliche Bücher und Beiträge zu überführen. Müller liefert Steinmeier einen Populismusbegriff, mit dem das Problem auf konkrete Akteure begrenzt wird, die mithilfe des „Wir-gegen-das-Establishment“-Antagonismus operieren und von einer Hypertrophie falscher demokratischer Ideale zehren.2) Populismus ist für Steinmeier sodann ein Phänomen der Angst, während Demokratie „die Regierungsform der Mutigen“ sei. „Mut“ wird bei ihm gar zum zentralen Begriff der Demokratie.

Steinmeier charakterisiert Demokratie als eine positive Anstrengung, Zumutung und als eine Institutionalisierung von Selbstkritik und Selbstkorrektur. Sein Politik- und Demokratieverständnis ist von einer rhetorischen Beschwörung politischer und diskursiver Konfliktlösungsmöglichkeiten durchdrungen. Ein paar Redefragmente können hierüber Aufschluss geben: Er wolle „[…] der Polarisierung entschieden entgegentreten, den öffentlichen Raum unserer Demokratien schützen und stärken und Politik auf der Grundlage von Vernunft und Fakten gestalten.“ Steinmeier bejaht Demokratie als ein rationales, diskursives Programm: „Wer überzeugen will, muss streiten können und auch streiten wollen.“ Weiterhin erklärt er: „Wichtig ist einzig und allein, dass jeder im Streit den Anderen achtet. Dass das bessere Argument zählt und nicht die lautere Parole, dass Vernunft, Respekt und Anstand ihre Geltung behalten im politischen Streit.“

Zugleich habe Streiten eine versöhnliche Qualität, denn so gebe es die Möglichkeit von „Momenten, in denen wir als Land zusammenkommen.“ Die in seinen Reden wiederkehrenden Themen und Motive wie „ständiges Gespräch unter Demokraten“, „im Gespräch bleiben“, „zusammenkommen“ offenbaren eine protestantisch-pastorale Beschwörung politisch-sozialer Kommunalität durch die Diskursivierung des Politischen. Dies entspricht selbstredend dem Amt des Bundespräsidenten, ist aber doch vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass Steinmeier ja wie oben zitiert erklärt, man bekomme ihn zum Gegner, wenn man die Demokratie anfechte. Hier vermengen sich ein pastoraler Duktus mit einer neuen Form meta-, weil demokratiepolitischer Agonalität.

Steinmeiers Vorwärtsverteidigung ist sozialdemokratisch, protestantisch, pädagogisch und habermasianisch

Will Steinmeier nun Diskussionsbereitschaft, ja Streitbarkeit und Kontroversität als Wesenskern der Demokratie herausstellen, so wird auch sein Wille zu kontroversen Standpunkten und politischen Einlassungen an den Grenzen einer möglichen Parteinahme plausibel. Hier geht es um mehr als einzelne Positionen – es geht um die performative Einlösung seines Demokratieprogramms. Schließlich vollführt Steinmeier die Vorwärtsverteidigung einer demokratischen Gesprächs- als Streitkultur. Diskutieren heißt lernen, sich korrigieren, mutig sein und Gemeinschaft herstellen. So findet sich sowohl eine Bejahung von ‚Streit‘ als Kennzeichen einer pluralistischen, demokratischen, liberalen Kultur als auch eine Zähmung von Konflikten. Streit sei begrüßenswert, aber doch im Rahmen der Rechtsordnung und im Sinne einer argumentativen, vernünftigen Deliberation. Streit und Dissens gehören dazu, so Steinmeier, müssen aber auf eine bestimmte Weise ausgetragen werden.

Schließlich führt der Bundespräsident die Ideen der Streitkultur und Bereitschaft zur Selbstkorrektur mit Ideen einer rational herstellbaren Versöhnlichkeit, mit einer bürgerlichen Zivilisiertheit, einer politischen Gemeinschaft und einer Betonung von Diskurs und Deliberation zusammen. Steinmeiers Denken und Sprechen ist, was als Befund noch wenig erstaunlich ist, einerseits sozialdemokratisch, protestantisch, pädagogisch und habermasianisch. Andererseits wird aber nun genau die Einforderung von Engagement, Diskussion und Deliberation als demokratische Kompetenzen politisch mobilisiert. Die Fähigkeit, sich den Mühen der Debatte gewissenhaft und mit Willen zur Selbstverbesserung zu stellen, wird selbst zum Motiv einer politischen, neubürgerlichen Kollektiverzählung und zum Mittel einer politischen Konfliktführung. Es wird eine Konfliktlinie gezogen zwischen denen, die reden und streiten können, die zur Vernunft, zur Anerkennung des Anderen sowie zu Selbstreflexion und Selbstkorrektur fähig sind, und den anderen, dazu unfähigen oder unwilligen. Kurz, die Konfliktlinie lautet: Wer gut streiten kann und will, ist auf unserer Seite, wer nicht, auf der anderen. Damit wird also das politisch Agonale, damit wird Gegnerschaft im 21. Jahrhundert habermasianisiert.

War das Programm einer deliberativen Demokratie einmal ein emanzipatorisches Gegenprogramm zu einer autoritären, obrigkeitsstaatlichen, wenig inklusiven und dezisionistischen Politik, so wird es heute als Normalmodell von Politik in einen Staatsdiskurs von Amtsträgern innerhalb der politischen Institutionen eingebaut. Der moderne Staat hat nicht nur ein Interesse an sich selbst, er hat auch zunehmend ein Interesse an Beschreibungen der Gesellschaft als deliberierend, diskutierend, kritisch und rational, um sich selbst zu stabilisieren. Umso aufschlussreicher, dass Steinmeier uns heute ein Beispiel für offensives, ja kämpferisches Habermasianisieren bietet.

References

References
1 Für diesen Punkt und für Gespräche zum Verhältnis von Konfessionalität, Politik und Theorie danke ich Julian Müller.
2 Vgl. Steinmeier, Frank-Walter: 4. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: „Gesellschaft ohne Politik? Liberale Demokratien in der Bewährungsprobe“, Schloss Bellevue, 23.05.2018, online: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/05/180523-Forum-Bellevue.html; Steinmeier, Frank-Walter: Konferenz „The Struggle for Democracy“ anlässlich der Eröffnung des Thomas-Mann-Hauses Los Angeles/USA, 19.06.2018. online: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/06/180619-USA-Konferenz-Democracy.html; Steinmeier, Frank-Walter: Vereidigung zum Bundespräsidenten vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates, Berlin, 22.03.2017, online: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/03/170322-Vereidigung.html [alle: 30.08.2022].

SUGGESTED CITATION  Séville, Astrid: Pastorale Agonalität: Die bundespräsidiale Demokratiepolitik Frank-Walter Steinmeiers, VerfBlog, 2022/9/05, https://verfassungsblog.de/pastorale-agonalitat/, DOI: 10.17176/20220905-230541-0.

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