Recht schutzlos?
Der Kompromisscharakter der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) kommt besonders deutlich beim Thema Rechtsschutz zum Ausdruck. Die elf Rechtsakte der Reform (hier und hier) enthalten eine ganze Reihe von Neuregelungen zum Rechtsbehelfsverfahren, in denen der EU-Gesetzgeber den Mitgliedstaaten erhebliche Gestaltungsspielräume eingeräumt hat. In Deutschland wurden diese in den zwei Gesetzesentwürfen der ehemaligen Ampel-Koalition zur Umsetzung der GEAS-Reform äußerst restriktiv ausgelegt. Auch wenn die Gesetzesentwürfe aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen vorerst auf Eis liegen, ist angesichts der zunehmend verschärften asylpolitischen Rhetorik unter der kommenden schwarz-roten Regierung nicht mit einer Schließung der Rechtsschutzlücken zu rechnen. Wirksamer Rechtsschutz ist vor dem Hintergrund von Art. 47 EU-Grundrechtecharta (GRC) dabei nicht verhandelbar.
Neues Screening ohne Rechtsschutz
Wesentliche Neuerung der Reform ist die Durchführung eines Screening-Verfahrens, in dem Personen, die in den Anwendungsbereich der Screening-Verordnung (VO (EU) 2024/1356, SVO) fallen, innerhalb von maximal sieben Tagen identifiziert und einer vorläufigen Gesundheitskontrolle, einer Vulnerabilitätsprüfung und einer Sicherheitskontrolle unterzogen werden (s. dazu in diesem Symposium Priebe). Vom persönlichen Anwendungsbereich erfasst sind nicht nur Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, sondern auch eine ganze Reihe anderer Drittstaatsangehöriger, die nicht die Einreisevoraussetzungen nach Art. 6 Schengener Grenzkodex erfüllen (Art. 5 SVO). Nach dem Screening werden die Personen in die einschlägigen Verfahren zugeteilt (Art. 18 SVO). An dieser Stelle wird also etwa auch entschieden, ob eine Person ein Grenzverfahren unter der Fiktion der Nichteinreise und unter haftähnlichen Bedingungen durchlaufen muss (s. dazu in diesem Symposium Priebe zur Fiktion der Nichteinreise in der Screening-Prozedur und Nestler zur Haft).
Die Gefahr von Grundrechtsverletzungen während des Screenings hat der EU-Gesetzgeber erkannt und einen unabhängigen Monitoring-Mechanismus eingeführt, der die Einhaltung von Unions- und Völkerrecht überwachen soll (Art. 10 SVO, s. dazu in diesem Symposium Fischer-Übler und Rollet). Einen Rechtsbehelf für etwaige (Fehl-) Entscheidungen sieht die SVO aber nicht vor. Fehlerhafte Entscheidungen zur Aufnahme ins Screening oder rechtswidrige Verfahrenszuweisungen sind also nicht explizit anfechtbar. Auch für die Geltendmachung von Fristüberschreitungen oder datenschutzrechtlicher Aspekte ist kein Rechtsbehelf vorgesehen.
Es stellt sich folglich die Frage, ob das Recht auf effektiven Rechtsschutz gebietet, dass verwaltungsrechtliche Klagearten wie die Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage, die Untätigkeitsklage oder Anträge im einstweiligen Rechtsschutz statthaft sind. Grundsätzlich steht es mit § 44a VwGO und dem Gedanken der Verfahrensautonomie im Einklang, dass Verfahrenshandlungen nicht isoliert, sondern erst mit der Sachentscheidung rechtlich überprüft werden können. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass dem Betroffenen dadurch kein irreparabler rechtlicher Nachteil entsteht (s. BVerfG NJW 1991, 415 (416)). Im Fall des Screenings kann ein solcher irreparabler Nachteil jedoch durchaus eintreten, etwa dann, wenn das Screening eine Person betrifft, die keinen Asylantrag gestellt und somit auch keinen Zugang zu einem Asylklageverfahren hat. In solchen Fällen wird die Screening-Prozedur losgelöst vom Asylverfahren durchgeführt, sodass der im Rahmen des Asylverfahrens vorgesehene asylrechtliche Rechtsbehelf nicht zur Überprüfung von (Fehl-)Entscheidungen im Screening ausreichen kann. Soweit und solange keine speziellen Regelungen einschlägig sind, ist also auf die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Vorschriften zurückzugreifen. Deren Statthaftigkeit hängt maßgeblich davon ab, ob die verschiedenen Maßnahmen im Rahmen des Screenings als Verwaltungsakte einzuordnen sind.
Dabei ist auch relevant, dass sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die unmittelbare Wirkung des wirksamen Rechtsbehelfs aus Art. 47 GRC ergibt. Nationale Gerichte sind danach verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnisse für die volle Wirksamkeit des Rechtsschutzes aus Art. 47 GRC zu sorgen (s. EuGH FMS u.a. Rn. 140; A. K. u.a. Rn. 162; Egenberger Rn. 78 und Torubarov Rn. 56). Das umfasst die Verpflichtung, sich für eine Klage für zuständig zu erklären, auch wenn im nationalen Recht kein Rechtsbehelf dafür vorgesehen ist (EuGH FMS u.a. Rn. 144).
Beim Rechtsschutz liegt der Teufel im Detail
Die GEAS-Reform regelt die Rechtsbehelfe im Zuständigkeits- und regulären Asylverfahren in getrennten Verordnungen. Während der gerichtliche Überprüfungsumfang im Asylverfahren grundsätzlich uneingeschränkt beibehalten wird (Art. 67 Abs. 3 Asylverfahrensverordnung, VO (EU) 2024/1348, AVO)), wird die Klagemöglichkeit im Zuständigkeitsverfahren stark eingeschränkt (Art. 43 Asylmigrationsmanagement-Verordnung, VO (EU) 2024/1351, AMMVO).
Art. 43 Abs. 1 AMMVO gewährt ein „Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“ gegen Überstellungsentscheidungen im Zuständigkeitsverfahren, der jedoch auf drei Konstellationen beschränkt wird: Erstens auf Verstöße gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung (lit. a), zweitens auf das Vorliegen von Umständen nach der Überstellungsentscheidung, die für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung entscheidend sind (lit. b) und drittens auf die fehlerhafte Anwendung der Zuständigkeitskriterien in Bezug auf das Kindeswohl oder das Recht auf Familieneinheit im Aufnahmeverfahren (lit. c). Diese Einschränkung droht, nicht nur den effektiven Individualrechtsschutz, sondern auch die Wirksamkeit der Rechtsordnung zu untergraben.
Durch die Einschränkung des Art. 43 Abs. 1 AMMVO scheint auf den ersten Blick der Rechtsschutz gegen sonstige Verfahrensfehler im Zuständigkeitsverfahren zu entfallen, etwa bei der Anwendung aller anderen Zuständigkeitskriterien oder bei behördlichen Fristversäumnissen. Es stellt sich aber die Frage, ob solche Aspekte Umstände nach der Überstellungsentscheidung darstellen, die für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung entscheidend sind. Bei der Beurteilung dieser Frage liegt der Teufel im Detail: In Bezug auf die zeitliche Dimension hat der EuGH bereits entschieden, dass Überstellungsfristen und Wiederaufnahmegesuche Umstände sind, die zeitlich nach Erlass der Überstellungsentscheidung eintreten (EuGH Shiri Rn. 42; Hasan Rn. 32). Im Unterschied dazu bezieht sich die Frist zur Stellung eines Aufnahmegesuchs jedoch auf den Erlass der Überstellungsentscheidung und ist dieser somit zeitlich vorgelagert (s. EuGH Shiri Rn. 41; Mengesteab Rn. 51). Die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien könnte dann ein Umstand nach der Überstellungsentscheidung sein, wenn entscheidende Beweise erst nach der Überstellungsentscheidung vorgelegt werden können (s. EuGH Gezelbash). Jedenfalls werden die Umstände des Einzelfalls zur Beurteilung maßgeblich sein.
Voraussetzung ist weiter, dass die Umstände „für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung erforderlich“ sind (Art. 43 Abs. 1 lit. b AMMVO). Die Rechtsprechung des EuGH zur Dublin-III-VO liefert hier Anhaltspunkte zur Auslegung: Gemäß Erwägungsgrund 19 der Dublin-III-VO sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen auch „die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung“ umfassen. Darunter fasst der EuGH jedenfalls die Notwendigkeit, dass der Rechtsbehelf auf die Einhaltung der Verfahrensgarantien der Verordnung abzielen können muss (EuGH Shiri Rn. 38; Mengesteab Rn. 44-48).
Das Paradox des wirksamen eingeschränkten Rechtsschutzes
Aus der Rechtsprechung des EuGH lässt sich ableiten, dass Art. 43 Abs. 1 lit. b AMMVO im Einklang mit Art. 47 GRC – dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – weit auszulegen ist. Der EuGH bejahte in mehreren Entscheidungen die Anwendbarkeit des Rechtsbehelfs aus Art. 27 Abs. 1 der Dublin-III-VO für verfahrensrechtliche Fragen und berief sich dabei teilweise unmittelbar auf Art. 47 GRC und somit auf Primärrecht, das auch unabhängig vom Sekundärrecht einzuhalten ist (z.B. EuGH Ghezelbash zur fehlerhaften Anwendung der Zuständigkeitskriterien; Mengesteab zur Fristsäumnis beim Aufnahmegesuch; Hasan zur Fristsäumnis beim Wiederaufnahmegesuch; Shiri zur Fristsäumnis bei Überstellungsfristen; I.S. gegen die Ablehnung eines Aufnahmegesuchs zur Durchsetzung von Familienzusammenführung). Dabei zog das Gericht auch Erwägungsgrund 19 der Dublin-III-VO zur Auslegung heran, wonach Ziel der Verordnung ein wirksamer Schutz der Betroffenen im Einklang mit Art. 47 GRC ist (s. auch hier, S. 324 f.).
Zwar ist der äquivalente Erwägungsgrund 62 der AMMVO enger gefasst und der wirksame Rechtsbehelf darin auf die drei oben genannten Fallgruppen beschränkt. Dieser „wirksame“ und doch „beschränkte“ Rechtsbehelf soll jedoch auch mit Art. 47 GRC und der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung in Einklang stehen. Ferner bestätigt Erwägungsgrund 87 AMMVO, dass die Verordnung „im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen“ der Union und des Völkerrechts steht, einschließlich der Charta. Die uneingeschränkte Wahrung dieser Rechte, darunter ausdrücklich auch Artikel 47 GRC, ist Ziel der Verordnung. Ein eingeschränkter Rechtsbehelf kann jedoch unmöglich die uneingeschränkte Wahrung der Grundrechte garantieren. Besonders paradox wird dies, wenn gerade das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betroffen ist.
Da der EuGH die unmittelbare Wirkung des Art. 47 GRC anerkannt hat (s. oben), lässt sich in Konstellationen außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 43 Abs. 1 lit. b AMMVO – etwa bei Entscheidungen im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung außerhalb des Aufnahmeverfahrens – ein uneingeschränkter Rechtsbehelf unmittelbar aus Art. 47 GRC herleiten.
Umsetzung am untersten Limit
Bei der Ausgestaltung der Rechtsmittelfristen hat der EU-Gesetzgeber den Mitgliedstaaten besonders viel Gestaltungsspielraum gelassen. Eine Gegenüberstellung der unionalen und vorgeschlagenen nationalen Regelungen zeigt, dass sich die ehemalige Bundesregierung für eine maximal restriktive Umsetzung der vorhandenen Spielräume entschieden hat – von einer Lockerung dieser Linie kann nach dem Regierungswechsel zu schwarz-rot wohl kaum ausgegangen werden. Als Beispiel: Die Asylverfahrensverordnung sieht im regulären Asylverfahren eine Klagefrist von zwei Wochen bis einem Monat vor (Art. 67 Abs. 7 lit. b AVO). Die Frist für den Eilantrag muss unionsrechtlich mindestens fünf Tage betragen (Art. 68 Abs. 5 lit. a AVO). Der Kabinettsentwurf zur Umsetzung der GEAS-Reform hat hier das unterste Limit vorgeschlagen: Die Klagefrist soll gemäß § 74 Abs. 1 AslyG-E zwei Wochen ab Zustellung der Entscheidung mit einer Begründungsfrist von einem Monat betragen (§ 74 Abs. 2 S. 1 AsylG-E). Der Eilantrag soll innerhalb einer Woche gestellt werden (§ 36 Abs. 2 S. 1 AsylG-E).
Bemerkenswert ist auch die im Kabinettsentwurf vorgeschlagene Formulierung zur aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen. Schon jetzt bietet das Asylrecht zahlreiche Ausnahmen vom verwaltungsrechtlichen Grundsatz, dass Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung haben. Diesem Grundsatz macht Art. 75 AsylG-E nun vollständig den Garaus – denn mit dem Kabinettsentwurf sollen Klagen im Asylverfahren grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Zwar kann weiterhin ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt werden (vgl. Art. 43 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 AMMVO, Art. 68 Abs. 4 AVO). Dennoch steht diese Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses im Widerspruch zu Art. 68 Abs. 1 AVO, der im Grundsatz die aufschiebende Wirkung der Klage vorsieht. Auch hat der EuGH mehrfach entschieden, dass eine automatische aufschiebende Wirkung menschenrechtlich geboten ist, jedenfalls dann, wenn eine Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung droht (EuGH Abdida Rn. 52; EGMR Gebremedhin Rn. 67; Hirsi Jamaa Rn. 200).
Ein Novum der Reform sind obligatorische Entscheidungsfristen für Gerichte, wobei diese je nach Verfahrensart variieren. Im regulären Asylverfahren reichen sie beispielsweise von minimal einer Woche (mit Verlängerungsmöglichkeit) im Eilantrag (§ 26 Abs. 2 S. 5 AsylG-E) bis maximal sechs Monaten in der Hauptsache (§ 77 Abs. 5 AsylG-E, Art. 69 AVO). Die Konsequenzen einer nicht eingehaltenen Entscheidungsfrist sind aber nicht gesetzlich geregelt. Der EuGH hat in der Vergangenheit entschieden, dass Art. 47 GRC einer Entscheidungsfrist (von 60 Tagen) nicht grundsätzlich entgegensteht, das Gericht aber die Verfahrensgarantien sicherstellen können muss. Kann es das nicht, muss das Gericht die Entscheidungsfrist unangewendet lassen und stattdessen „so rasch wie möglich“ sein Urteil nachholen (EuGH PG). Den Antragstellenden könnte dann eine Entschädigungsmöglichkeit im Rahmen der Verzögerungsrüge gemäß § 198 GVG eröffnet sein.
Verfahrenseffizienz auf Kosten des Rechtsschutzes
Das Rechtsbehelfsverfahren zeigt mit seinen vielen Gestaltungsspielräumen deutlich den Kompromisscharakter der GEAS-Reform (s. zum Kompromisscharakter Endres de Oliveira ab S. 45 in Jahrbuch Migrationsrecht 2023/24, sowie in diesem Symposium Hruschka, Nestler, Stübinger). Im Kabinettsentwurf der Ampelkoalition soll der gewährte Gestaltungsspielraum genutzt werden, um ein hochkomplexes, möglichst restriktives Fristensystem umzusetzen, das das Risiko rechtlicher Unübersichtlichkeit birgt. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz tritt insgesamt hinter dem Ziel der Verfahrenseffizienz zurück. Besonders problematisch ist die Einschränkung des Überprüfungsumfangs im Zuständigkeitsverfahren sowie der fehlende Rechtsbehelf im Screening-Verfahren. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf kann aber nicht einfach durch einen partiellen Ausschluss von Überprüfungsmöglichkeiten umgangen werden. Etwaige Rechtsschutzlücken sollten mit Blick auf Art. 47 GRC unbedingt geschlossen werden.