05 August 2025

Rechtswissenschaft und Citizen Science

Eine Einladung

Citizen Science als Forschungsansatz hat in der Rechtswissenschaft bisher keine Verbreitung gefunden. Der Beitrag stellt das Konzept der Citizen Science aus Anlass des Projekts „Offener Zugang zum Grundgesetz“ vor und lädt alle Interessierten dazu ein, am ersten bürgerschaftlichen Review einer Grundgesetzkommentierung mitzuwirken.

Der Graben zwischen Verfassungsanspruch und Rechtswirklichkeit

Das Grundgesetz verfasst die Bürger:innen als Rechtsträger:innen, denen das Recht zur Seite steht, die sich des Rechts ermächtigen dürfen und denen dafür subjektive Rechte zustehen, allen voran die Grundrechte. Dennoch tut sich ein Graben zwischen diesem Anspruch des Grundgesetzes und der komplizierten Rechtswirklichkeit auf: Rechtssprache wird als bürger:innenfern wahrgenommen, die Inanspruchnahme von Recht als hürdenreich beschrieben und juristisches Wissen weitreichend hinter Bezahlschranken „versteckt“. So entsteht das Bild des Rechtsunterworfenen, dem das Recht zwar an sich offenstehen soll, der sich des Rechts indes nicht erwehren, es nicht verstehen kann und ihm deshalb im Kafka’schen Sinne ausgeliefert erscheint:

„Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: Wenn es dich so lockt, versuche es doch (…).“ (Kafka, Der Prozess)

Diesem Graben begegnet das Grundgesetz mit einem materiellen Publizitätsgebot, das auf Rechtsvermittlung drängt, die nicht notwendig staatlicher Natur sein muss, sondern auch die Rechtswissenschaft adressiert. Die Aufgabe, über das Recht aufzuklären, es zu erläutern und auch zu vermitteln, adressiert nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung. Zuletzt stärker ins Bewusstsein gerückt ist die Wissenschaftskommunikation (etwa in Form von Blogbeiträgen und Podcasts) als Vermittlungsweg von Rechtserkenntnissen in die Bürgerschaft. Das innovative Konzept der Citizen Science hat in der Rechtswissenschaft hingegen bisher keinen Widerhall gefunden. Dabei bietet Citizen Science die weitergehende Möglichkeit, den rechtswissenschaftlichen Diskurs noch stärker in die Bürgerschaft zu öffnen, indem sich Bürger:innen unmittelbar an den Prozessen des Erklärens, Interpretierens und Fortbildens des Rechts beteiligen.

Der Forschungsansatz Citizen Science

Der Begriff der Citizen Science beschreibt ein Forschungsdesign, bei dem Personen, die dem Wissenschaftsbereich institutionell nicht zugehörig sind, an wissenschaftlichen Forschungsprozessen beteiligt werden. Die Beteiligung wissenschaftsfremder Personen am Forschungsprozess fordert Wissenschaft heraus, wird diese doch gerade als etwas beschrieben, das sich über die bloße Meinung erhebt, das besondere Qualitätsansprüche an die Ernsthaftigkeit und Planmäßigkeit des Erkenntnisstrebens stellt. Citizen Science verfolgt demgegenüber einen inklusiven Ansatz, der bürgerschaftliches Wissen in den Forschungsprozess integrieren soll und damit die Deutungshoheit der Wissenschaft über das Wissen herausfordert. Mit Citizen-Science-Ansätzen eng verbunden sind Forderungen einer Demokratisierung der Wissensproduktion, die die beschriebene Spannungslage noch verschärft, weil Wissen im wissenschaftlichen Sinne eigentlich nicht als mehrheitsfähig angesehen wird: Die Existenz des Klimawandels – um ein intensiv diskutiertes Beispiel zu wählen – ist vom wissenschaftlichen Standpunkt aus keine mehrheitsfähige Meinung, sondern eine dem politischen Meinungskampf enthobene, wissenschaftlich konsentierte Beschreibung der Realität.

Vom Dilettantismus als Wert in der Wissenschaft

Citizen Science würde aber falsch verstanden, wenn Demokratisierung von Wissenschaft in diesem Sinne als Abstimmung über das Richtig und Falsch wissenschaftlicher Erkenntnisse begriffen würde. Demokratisierung im Sinne von Citizen Science meint vielmehr (nur) eine Perspektivenöffnung: In den ernsthaften und planmäßigen Prozess wissenschaftlichen Arbeitens fließen außerwissenschaftliche Perspektiven ein und bereichern, hinterfragen und kontrastieren womöglich auch den Blickwinkel des:der Wissenschaftler:in. Citizen-Science-Ansätze bieten so die Möglichkeit, die von Wissenschaftler:innen in Anspruch genommene epistemische Autorität zu reflektieren. Genau hierin liegt die besondere Stärke des Ansatzes: Die mit der Beteiligung von Nicht-Wissenschaftler:innen ermöglichte Perspektivenöffnung kann wichtige Impulse für innovative Forschungsprozesse geben. Über die Rolle von Dilettantismus als solcher Impulsgeber dachte auf dem Citizen-Science-Tag der Leibniz Universität Hannover kürzlich Prof. Dr. Stefan Böschen unter Rekurs auf Max Weber nach, der bereits 1919 konstatierte:

„Viele unserer allerbesten Problemstellungen und Erkenntnisse verdanken wir gerade Dilettanten. Der Dilettant unterscheidet sich vom Fachmann […] nur dadurch, daß ihm die feste Sicherheit der Arbeitsmethode fehlt, und daß er daher den Einfall meist nicht in seiner Tragweite nachzukontrollieren und abzuschätzen oder durchzuführen in der Lage ist.“

Citizen Science in der Rechtswissenschaft

Spezifisch für die Rechtswissenschaft ermöglicht Citizen Science, Impulse der Normadressat:innen in den Forschungsprozess zu integrieren. Der Gedanke der Inklusion und Partizipation ist dem demokratischen Rechtsstaat inhärent: Über die Anhörung von Verbänden und der interessierten Öffentlichkeit im Gesetzgebungsverfahren bis hin zur prozessualen Einlassung der an einem Rechtsstreit Beteiligten vor den Gerichten implementiert die Rechtspraxis Perspektiven der Rechtsunterworfenen, um Partizipation zu ermöglichen und das Versprechen des Grundgesetzes einzulösen, die Bürger:innen als Rechtssubjekte anzusehen. Grund genug, über die Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements auch im Bereich der Rechtswissenschaft nachzudenken und so einen Schritt auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpret:innen“ zuzugehen. Wie aber lässt sich Citizen Science in der Rechtswissenschaft ermöglichen?

Als Textwissenschaft bietet sich bürgerschaftliche Beteiligung an rechtswissenschaftlicher Forschung an der Schnittstelle der Textproduktion an. Sehr weitgehend wäre ein Ansatz, bei dem juristische Laien eingeladen werden, als Autor:innen an dem Verfassen juristischer Texte mitzuwirken. Dass dies möglich ist, zeigen Projekte wie die Wikipedia, deren Einträge auch bei Rechtsthemen von jedermann editiert werden können und die mittlerweile durchaus beachtliche Darstellungen von Rechtsthemen liefert (s. näher zu Wikipedia als Rechtsquelle hier). Diese Form der Integration von Laien in den wissenschaftlichen Prozess bedarf einer engen Begleitung durch Rechtswissenschaftler:innen, um die Texte im rechtswissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig zu halten. Als Beispiel mag der von Oswald herausgegebene literarische Kommentar zum Grundgesetz dienen: Er bietet zwar gelungene Perspektiverweiterungen, knüpft jedoch kaum an rechtsdogmatische Fragestellungen an.

Niedrigschwelliger realisieren lassen sich Ansätze, die entweder im Vorhinein oder im Anschluss an die Textproduktion ansetzen. Vorstellbar wären etwa Foren, in denen ein Forschungsthema unter bürgerschaftlicher Beteiligung zunächst diskutiert und die Impulse sodann in den Forschungsprozess aufgenommen werden.

Bürger:innen-Review im Projekt OZUG

Für einen Citizen-Science-Ansatz, der im Anschluss an die Textproduktion anknüpft, haben wir uns im Projekt „Offener Zugang zum Grundgesetz (OZUG)“ entschieden. Dafür probieren wir erstmals das Format eines Bürger:innen-Reviews aus. Im Projekt geben wir den ersten Grundgesetzkommentar heraus, dessen Inhalte für jede:n frei verfügbar und offen lizenziert über das Internet zugänglich gemacht werden. Da das Projekt aufgrund seiner weitergehenden Zugänglichkeit auch den Anspruch verfolgt, sich als Bürger:innenkommentar breiteren Bevölkerungsschichten zu öffnen und sich insofern als Form der Verfassungsrechtsvermittlung versteht, sollen die Kommentierungen rechtswissenschaftliche Fachdiskurse auch für breitere Bevölkerungsschichten öffnen. Dafür möchte das Projekt auch bürgerschaftliche Perspektiven auf das Grundgesetz in den Forschungsprozess integrieren. Zivilgesellschaftliche Expertise soll über Bürger:innen-Reviews eingebunden werden. Diese Perspektiveröffnung bietet sich im Projekt OZUG umso mehr an, als es sich um eine Kommentierung des Grundgesetzes handelt, also dem grundlegenden Normenbestand unseres Gemeinwesens.

Kürzlich haben wir damit begonnen, die interessierte Öffentlichkeit einzuladen, die fertigen Textentwürfe von Wissenschaftler:innen zu reviewen. Wir erhoffen uns von dem Prozess, dass Bürger:innen ihre Perspektiven mit den Autor:innen teilen, die sodann Anregungen und Kritik aufnehmen sowie Verständnisschwierigkeiten abschwächen können. Interessierte Bürger:innen erhalten unter Wahrung der Vertraulichkeit ein Manuskript per E-Mail und können es auf Verständlichkeit prüfen, Fragen stellen und Anmerkungen machen. Zur Unterstützung bieten wir eine Einführung in die rechtswissenschaftliche Methodik an. Die Fachautor:innen erhalten mit dem Bürger:innen-Review eine Rückmeldung, ob ihre Texte auch für die Bürgerschaft verständlich formuliert sind. Zudem laden wir dazu ein, die Positionen der Fachautor:innen kritisch zu prüfen, eigene Argumente einzubringen und auf Unklarheiten hinzuweisen. Die Begutachtungen fließen in der abschließenden Phase des Projekts in die Überarbeitung der Kommentierungen ein, die anschließend im Open Access erscheinen.

Einladung zum Mitmachen

Zum Bürger:innen-Review laden wir über die Plattform mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen ein. Wir freuen uns über jede:n, der:die sich der Kommentierung eines der Artikel des Grundgesetzes und den Tiefen rechtswissenschaftlicher Perspektive öffnen möchte.


SUGGESTED CITATION  Eisentraut, Nikolas: Rechtswissenschaft und Citizen Science: Eine Einladung, VerfBlog, 2025/8/05, https://verfassungsblog.de/rechtswissenschaft-citizen-science/.

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