Zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Halbzeit bis zur Anwendung
Acht Jahre lang haben die Mitgliedstaaten und das Europaparlament mit sich und den verschiedenen Vorschlägen der EU-Kommission gerungen, um einen Kompromiss bei der Reform des europäischen Asylsystems zu erreichen. Vor einem Jahr, am 14.5.2024, kam es dann zur „historischen“ Einigung: Nach der Zustimmung des Europaparlaments im April nahm auch der Rat die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) an. Die Lektüre der über 500 Seiten Gesetzestext offenbart jedoch zahlreiche juristische Unklarheiten und Spannungsfelder. Eine rechtzeitige Auseinandersetzung mit den Neuregelungen ist deshalb unerlässlich.
Die Rechtsakte der Reform
Die GEAS-Reform besteht aus insgesamt 11 Rechtsakten: der schon 2021 beschlossenen EUAA-Verordnung (VO (EU) 2021/2303) und den 2024 beschlossenen Rechtsakten. Diese sind: die Aufnahmerichtline (RL 2024/1346/EU), die Qualifikationsverordnung (VO (EU) 2024/1347), die Asylverfahrensverordnung (VO (EU) 2024/1348), die Grenzrückführungsverordnung (VO (EU) 2024/1349), die Resettlement-Rahmenverordnung (VO (EU) 2024/1350), die Asylmigrationsmanagement-Verordnung (VO (EU) 2024/1351), die Screening-Konsistenz-Verordnung (VO (EU) 2024/1352), die Screening-Verordnung (VO (EU) 2024/1356), die EURODAC-Verordnung (VO (EU) 2024/1358) und die Krisenverordnung (VO (EU) 2024/1359) Diese Rechtsakte werden für Personen, die außerhalb der Grenzverfahren eine ablehnende Asylentscheidung erhalten, ergänzt durch die (für alle ausreisepflichtigen Personen) geltende Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Für diesen Bereich liegt ein Vorschlag der Kommission vom 11.3.2025 zu einer Rückführungsverordnung vor, der den Änderungsvorschlag aus dem Jahr 2018 ersetzt und aktuell in den Anfängen des Gesetzgebungsverfahrens steckt. Der ebenfalls relevante Schengener Grenzkodex (VO 2016/399) wurde im Juli vergangenen Jahres erneut reformiert.
Entstehung und Reformprozess des GEAS
Das GEAS wurde – anders als die allgemeine Diskussion mitunter suggeriert – nicht gerade aus der Taufe gehoben, sondern vielmehr umfassend reformiert. Die politische Entscheidung für das GEAS wurde 1999 bei einem Sondergipfel des Europäischen Rates im finnischen Tampere getroffen. Die Rechtsakte der ersten Umsetzungsphase wurden zwischen 2001 und 2005 verabschiedet und in einer ersten Reformphase in den Jahren 2011 und 2013 weiterentwickelt. Der durch die Reformvorschläge der EU-Kommission im Jahr 2016 ausgelöste und nunmehr abgeschlossene Umgestaltungsprozess zielte auf mehr Effizienz und Vereinheitlichung, da in der Umsetzung des bisherigen Systems große Unterschiede in der Anwendung zwischen einzelnen Mitgliedstaaten zutage traten und die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten an vielen Stellen (insbesondere bei den Zuständigkeitsbestimmungsverfahren, sog. Dublin-Verfahren) nicht gut funktioniert hat.
Seine unionsrechtliche Basis findet das GEAS in Art. 78 AEUV, nach dessen Absatz 1 die Union „eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll“ entwickelt. Abs. 2 normiert Regelungsbereiche, die im Rahmen von Rechtsakten ausgestaltet werden sollen. Dem dient auch die gegenständliche Reform.
Schon vor Inkrafttreten der jüngsten Reform des GEAS hat die EU-Kommission weitere Vorschläge zu Änderungen vorgelegt. Auch die deutsche Bundesregierung möchte die Regelungen laut Koalitionsvertrag weiterentwickeln, während gleichzeitig der sehr anspruchsvolle Umsetzungsprozess läuft. Diese parallelen Prozesse stellen eine reale Gefahr dar, dass die Umsetzung der Reform ins Stocken gerät und/oder als nicht zentral angesehen wird. Dies kann zu einem Szenario beitragen, in dem die Normen nicht mit der notwendigen Sorgfalt und rechtlichen Präzision umgesetzt werden und das System weiterhin nicht die erhoffte Einheitlichkeit erreicht.
Inkrafttreten, Anwendbarkeit und Geltung
Damit sich die Mitgliedstaaten auf die Umsetzung vorbereiten und Kapazitäten schaffen können, sind das Inkrafttreten und die Anwendbarkeit der neuen Normen zeitlich voneinander entkoppelt. Die EUAA-Verordnung und die Resettlement-Rahmenverordnung sind (zumindest größtenteils) bereits jetzt in Kraft und in Anwendung getreten. Die anderen Rechtsakte sind seit Juni 2024 in Kraft, ihre praktische Anwendbarkeit ist jedoch erst ab Juni bzw. Juli 2026 vorgesehen.
Von der Frage der Anwendbarkeit der Rechtsnormen verschieden ist die Frage der unmittelbaren Geltung in den Mitgliedsstaaten. Mit Ausnahme der Aufnahmerichtlinie handelt es sich bei sämtlichen Rechtsakten um Verordnungen im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV. Diese sind in allen ihren Teilen verbindlich und entfalten unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten, ohne dass es eines nationalen Umsetzungsgesetzes bedarf. Die Umstellung von umsetzungsbedürftigen Richtlinien auf unmittelbar geltende Verordnungen ist bereits im Zeichen der Zielsetzung hin zu mehr Verbindlichkeit und Einheitlichkeit aufzufassen.
Nichtsdestotrotz zeigen die Rechtsakte an einigen Stellen deutlich den Kompromisscharakter der Reform, der sich in einer inhaltlichen Offenheit der Normen niederschlägt. Insofern haben einige der Vorschriften der Verordnungen „Richtliniencharakter“, da sie den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielräume einräumen, die eine nationale Umsetzungsregelung erforderlich machen. An diesen Stellen verfügen die Mitgliedstaaten jedoch nicht über einen uneingeschränkten Regelungsspielraum. Vielmehr normiert das Unionsrecht „Mindeststandards“, die den nationalen Gesetzgebern einen unionsrechtlich begrenzten Spielraum zur Verfügung stellen.
Umsetzungsgesetzgebung in Deutschland
In Deutschland hat die Ampelkoalition noch vor den Neuwahlen einen Entwurf für ein Umsetzungsgesetz in zwei Kabinettsentwürfen vorgelegt (siehe hier und hier). Auch wenn diese Entwürfe vorerst auf Eis liegen, zeigen sie weitgehend eine restriktive Ausschöpfung der unionsrechtlich gewährten Gestaltungsspielräume. Ein Beispiel hierfür ist die Festlegung der Klage- und Eilantragsfristen im Dublin-Verfahren. Nach Art. 43 Abs. 2 und 3 Asylmigrationsmanagement-Verordnung müssen diese Fristen zwischen 1 und 3 Wochen liegen. Im Entwurf der Ampel-Koalition wurde die Klagefrist auf teils eine, teils zwei Wochen festgelegt (§ 74 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 3 AsylG-E), die Eilantragsfrist beträgt eine Woche (§ 34a Abs. 3 S. 1 AsylG-E). Viel restriktiver könnte die neue Bundesregierung diese Spielräume selbst bei entsprechendem politischem Willen nicht ausgestalten.
Auch wenn die Anwendbarkeit der Rechtsnormen größtenteils für 2026 vorgesehen ist, sieht der Kabinettsentwurf ein Pilotprojekt zur Durchführung von Flughafenverfahren vor, das schon vor 2026 angewandt werden soll (siehe hier). Auch andere Mitgliedstaaten planen entsprechende Pilotverfahren, insbesondere zu Grenzverfahren, so zum Beispiel auch Griechenland. Diese Verfahren sind mit erheblichen Einschränkungen der Rechte der Betroffenen verbunden (siehe hier, S. 319 ff.).
Verschärfung unter Grundrechtsvorbehalt
Ziel der GEAS-Reform ist offiziell die Schaffung eines einheitlichen, unionsweit abgestimmten Ansatzes im Bereich Asyl und Migration, der kohärente Verfahren, gemeinsame Standards und eine solidarische Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten gewährleistet (siehe hier). Tatsächlich spiegelt das Regelwerk aber vor allem einen Kompromiss wider, in dem sich vornehmlich migrationspolitisch restriktive Positionen der Mitgliedstaaten durchgesetzt haben. Ausnahmen bilden der Schutz von Minderjährigen und einzelne Verfahrensrechte, die im Einklang mit menschenrechtlichen Vorgaben gestärkt wurden.
Die Reform trägt somit in weiten Teilen die Handschrift eines diskursiven Wandels hin zu mehr Kontrolle, Abschottung, einer starken Orientierung an Sicherheitsaspekten und Forderungen nach mehr Effizienz im europäischen Asylverfahrensrecht. Diese Entwicklungen, die parallel in ähnlicher Weise in Deutschland stattgefunden haben, können unter dem Stichwort „Versicherheitlichung“ zusammengefasst werden und folgen einer perpetuierten Krisenlogik, die der Entwicklung eines kohärenten Rechtssystems jedenfalls nicht zuträglich ist.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Verschärfungen für schutzsuchende Personen wird für die deutsche Rechtspraxis die Frage bedeutsam sein, an welchem grundrechtlichen Maßstab die Anwendung der GEAS-Vorschriften zu messen ist. Die EU-Grundrechtecharta ist jedenfalls immer dann anwendbar, wenn Unionsrecht durchgeführt wird (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV, Art. 51 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta) – was in allen Teilen des Asylverfahrens unzweifelhaft der Fall ist. In jüngerer Zeit hat auch das Bundesverfassungsgericht die Charta anstelle des Grundgesetzes als grundrechtlichen Prüfungsmaßstab herangezogen (vgl. hier und hier) – und zwar dann, wenn eine vollständig unionsrechtlich determinierte Konstellation, die sich auf eine konkrete Rechtsfrage bezieht, in Rede steht (vgl. hier, Rn. 39 ff.). Dementsprechend werden auch die Fachgerichte bei vielen Rechtsfragen die Charta für die grundrechtskonforme Auslegung zu berücksichtigen haben. Dies stärkt einerseits die Rolle der EMRK und des EGMR, weil die EU-Grundrechte jedenfalls die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie die EMRK-Äquivalente. Andererseits eröffnet es Zugang zu Grundrechten, die das GG in der Form nicht kennt, etwa dem Verbot der Individual- und Kollektivausweisung (Art. 19 Abs. 1 und 2 EU-Grundrechtecharta). Ohnehin werden mit Blick auf die umfassenden unionsrechtlichen Vorgaben Vorlagen an den EuGH im Rahmen des Art. 267 AEUV an Bedeutung gewinnen (müssen) und können ggf. vor dem Bundesverfassungsgericht über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erzwungen werden (vgl. hier, Rn. 3).
Beiträge im Symposium
Das vorliegende Symposium widmet sich zentralen rechtlichen Fragen, die sich ein Jahr nach der Verabschiedung der Rechtsakte zur Reform des GEAS stellen. Ziel des Symposiums ist es, eine erste Navigationshilfe in der komplexen Rechtslandschaft des neuen GEAS zu liefern. Die Beiträge können angesichts der Masse und Komplexität an neuen Regelungen dabei nur einzelne Schlaglichter sein, um ausgewählte rechtliche Problembereiche aufzuzeigen:
ANNA LENA PRIEBE setzt sich zu Beginn mit einer der größten Neuheiten der Reform, dem sog. Screening, auseinander. Sie erklärt dessen Ablauf und setzt es in den Kontext von menschenrechtlicher Kritik und digitalen Grenzen.
Die Beiträge von LISA STEURER und MAXIMILIAN PICHL zum neu eingeführten Solidaritätsmechanismus und JULIA KIENAST zur Krisenverordnung beschäftigen sich mit der Behandlung von Krisensituationen durch die Reform. Dabei werden Risiken aufgezeigt, aber auch das Potenzial benannt, durch die neuen Regelungen nationalstaatliche Alleingänge unter Berufung auf Ausnahmezustände einzudämmen.
CONSTANTIN HRUSCHKA beschäftigt sich mit der Frage, ob die kombinierte Anwendung aus Unionsrecht und Umsetzungsgesetzgebung, die häufig mit dem sogenannten „Normwiederholungsverbot“ (auch „Doppelungsverbot“) begründet wird und die Lektüre der Gesetzestexte in der Praxis wesentlich erschwert, in der gegebenen Form mit Unionsrecht vereinbar ist. In einem weiteren Text diskutiert er die Rechtmäßigkeit der Leistungskürzungen bei unterlassenen Mitwirkungshandlungen.
Ein Bereich, in dem sich de lege lata einige Verbesserungen zeigen, sind Kinderrechte sowie die Regelungen zur Überprüfung besonderer Schutzbedarfe von vulnerablen Geflüchteten. Auf praktische Komplikationen in diesem Kontext weisen NEREA GONZÁLEZ MÉNDEZ DE VIGO und PAULINE ENDRES DE OLIVEIRA in Bezug auf Kinderrechte und DILKEN ÇELEBI mit Blick auf geschlechtsspezifische Bedarfe hin.
Ein zentrales Problem des reformierten GEAS ist: Rechtsschutz könnte in Zukunft in vielfacher Hinsicht deutlich erschwert werden, sodass dieser Aspekt einen besonderen Fokus des Symposiums verdient. Wie Rechtsschutzmöglichkeiten in vielerlei Hinsicht formal-rechtlich eingeschränkt werden, führt zunächst KATHARINA STÜBINGER aus. ANNIKA FISCHER-ÜBLER und TANJA ROLLET zeigen, wie der neue unabhängige Monitoring-Mechanismus Lücken im Rechtsschutz schließen soll. Der Zugang zu Rechtsschutz und -beratung wird gerade vor dem Hintergrund von mehr Befugnissen zu Freiheitsbeschränkungen und Inhaftnahme im neuen GEAS komplizierter, wie ROBERT NESTLER zeigt. Wie mittels Drittstaatenregelungen zukünftig die Externalisierung von Asylverfahren möglich wäre, analysiert schließlich CATHARINA ZIEBRITZKI.
Halbzeit ohne Pause
Ein Jahr nach Verabschiedung der GEAS-Reform befinden wir uns in der Halbzeit bis zur tatsächlichen Anwendung. Vielerorts wird mit Unbehagen auf die über fünfhundert Seiten umfassenden Gesetzestexte der GEAS-Reform geblickt, andernorts verschwinden sie noch vorerst in der (digitalen) Schublade. Eines ist klar: Die Reform wird große Umwälzungen des europäischen und nationalen Asylrechts mit sich bringen. Doch die gigantische Innovation, die mitunter suggeriert wird („we put Dublin to bed“), ist nicht zu erwarten. Viele Mechanismen sind bekannt, nur komplizierter geworden. Einige Ansätze sind neu. Dabei sind neben wenigen Fortschritten vor allem (grund- und menschenrechtliche) Rückschritte zu konstatieren, die man im Dickicht der Regelungen leicht übersieht. Auch in Kombination mit der Umsetzungsgesetzgebung sind weitere Restriktionen sowie Ineffizienzen und Fehlanwendungen vorprogrammiert.
Mit Blick auf die Komplexität des Regelungswerks und die zahlreichen offenen Rechtsfragen ist eine frühzeitige Vorbereitung und Auseinandersetzung mit der Reform essenziell. Denn nur wenn bestehende Lücken gefüllt und exzessive Restriktionen rechtlich eingehegt werden, kann die GEAS-Reform die nötige Solidarität und Harmonisierung gewährleisten, die sie verspricht. Nur wenn dies gelingt, können faire und effiziente Asylverfahren gewährleistet werden, die für ein funktionierendes Asylsystem zentral sind.