Kohärentes Asyl- und Aufenthaltsrecht statt legislativer Hyperaktivität
Kaum ein Bereich wurde vom deutschen Gesetzgeber in den letzten Jahren häufiger geändert als das Asyl- und Aufenthaltsrecht. Allein das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hat seit dem 1. Januar 2015 40 neue Fassungen mit zum Teil umfangreichen Änderungen erhalten. Auch das Asylgesetz (AsylG) (16) und das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) (14) wurden im Schnitt seit Anfang 2015 fast jedes Quartal verändert. Dabei können im politischen Aushandlungsprozess fünf teils komplementäre, teils konkurrierende Zielvorgaben identifiziert werden: die Integrationsförderung, administrative Vereinfachungen, Sicherheitsfragen, Missbrauchsbekämpfung und die bessere Durchsetzung der Ausreisepflicht. Bei solch heterogenen Zielvorgaben ist es nicht erstaunlich, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht ein fragmentierter Flickenteppich mit inkohärenten Normen ist, der der Rechtsanwendungspraxis (nicht intendierte) Spielräume eröffnet und das Recht in seiner Verbindlichkeit schwächt. Zudem gerät durch den Fokus auf die innerstaatlichen politischen Diskussionen und Ereignisse der geltende völker- und europarechtliche Rahmen tendenziell aus dem Blick, was Asylsuchenden den Zugang zu grundlegenden Rechten erschwert. Notwendig wäre eine von tagespolitischen Schwankungen und medial überzeichneten Einzelfällen losgelöste Konsolidierung des Regelungssystems, also ein umfassender Reformentwurf, der politische Ziele evidenzbasiert und nachvollziehbar in rechtliche Kategorien und Normen übersetzt.
Ausgangslage
Als Reaktion auf den Anstieg der Asylantragszahlen seit 2012, die ihren Höhepunkt in den Jahren 2015/2016 hatten, wurde der deutsche Gesetzgeber im Asylbereich stärker aktiv. Dies begann Ende 2014 mit zwei Gesetzen, die als Reaktion auf die hohen Antragszahlen aus den West-Balkanstaaten die Länder Serbien, Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien als sichere Herkunftsstaaten einstuften, gleichzeitig aber auch das Ziel hatten, den Arbeitsmarktzugang sowie die Rechtstellung von asylsuchenden und geduldeten Personen zu verbessern. Diesen Regelungen folgten Änderungsgesetze, um Asylverfahren zu beschleunigen und dadurch gleichzeitig die Zahl der Rückführungen zu erhöhen, sowie Anreize zur Stellung “ungerechtfertigter Asylanträge” zu verringern. Auf dem Höhepunkt der Antragszahlen legte der Gesetzgeber den Fokus neben der Beschleunigung des Asylverfahrens insbesondere darauf, die Versorgung und Unterbringung von neuankommenden Personen sicherzustellen. Dazu führte der Gesetzgeber z.B. den Ankunftsnachweis (§ 63a AsylG) ein und änderte baurechtliche Vorschriften, um Gebäude leichter nutzen zu können. Spätestens seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln und verstärkt nach dem Anschlag am Berliner Breitscheidplatz adressierte die Gesetzgebung insbesondere vermeintliche Rechts- und Sicherheitslücken. Dadurch entfernte sich der Gesetzgeber jedoch von der Ausrichtung auf die administrative Realität hin zu einer größer angelegten Strategie, um die öffentliche Sicherheit zu erhöhen. Diese wurde mit dem Ziel gekoppelt, die Zahl der Rückführungen zu erhöhen, verschärfte z.B. das Ausweisungsrecht und schuf Erleichterungen beim Datenaustausch und bei der Überwachung von Personen. Der Appellcharakter vieler Normen nimmt in dieser Zeit stark zu (sichtbar auch an Gesetzestiteln wie „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“, „Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern“). Gleichzeitig nimmt die praktische Handhabbarkeit des gesetzlichen Rahmens ab: Die Normen werden in schnellem Rhythmus geändert und dadurch praktisch immer schwerer umsetzbar. Insbesondere für kleine Verwaltungseinheiten war es kaum mehr möglich, mit der sich ändernden Rechtslage Schritt zu halten.
Hinzu kommt, dass sich die nationalen Zielkonflikte bei der Gesetzgebung vor dem Hintergrund eines politischen Vakuums auf Ebene der Europäischen Union entfalteten. Spätestens seit Ende 2015 ist die Uneinigkeit der europäischen Staaten in der Asyl- und Migrationspolitik offenkundig. So waren etwa nicht alle EU-Mitgliedstaaten bereit, sich an der Verteilung eindeutig schutzbedürftiger Personen („Relocation“) zu beteiligen, und insbesondere klassische Transitländer setzten auf die „natürliche“ Fluktuation durch schlechte Unterbringungsbedingungen oder fehlende Infrastruktur und damit auf nationale Lösungsansätze. Das Paket zur Reform des 1999 aus der Taufe gehobenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems der EU-Kommission kam im Frühjahr und Sommer 2016 zu spät, um die Fokussierung auf nationale Lösungen aufzuhalten.
Seit 2016 sind die Ziele der Integrationsförderung und der administrativen Vereinfachung in den Gesetzgebungsverfahren immer mehr in den Hintergrund geraten. Aktuell dominieren – neben den Sicherheitsfragen – sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in den Gesetzgebungsverfahren das Aufspüren potentieller Missbrauchskonstellationen und die Eliminierung von Pull-Faktoren, wie nicht nur die Äußerungen der Kanzlerin im Oktober 2016 zur Notwendigkeit einer „nationalen Kraftanstrengung“ bei Rückführungen verdeutlicht. Mit diesen Tendenzen liegt Deutschland im Trend des sog. Return turn und folgt der in den Industriestaaten generell zu verzeichnenden Tendenz zur Versicherheitlichung und zur Kriminalisierung im Migrationsbereich (sog. Crimmigration).
Perpetuierte Krisenlogik
Die Gesetzesbegründungen zu den Änderungsgesetzen nehmen die allgemeine öffentliche Diskussion über Asyl und Rückkehr und die ihr innewohnende Krisenlogik auf. Mit sinkenden Ankunftszahlen verlagerte sich der Schwerpunkt der Asyl- und Migrationsgesetzgebung von der Lösung einer akuten faktischen Aufnahmekrise zur Bewältigung einer (gefühlten) Krise der Rechtsstaatlichkeit. So findet sich im Entwurf zum zweiten Gesetz für eine bessere Durchsetzung der Ausreisepflicht etwa folgende Formulierung: „Im Bereich der Rückkehr ist eine stärkere Durchsetzung des Rechts erforderlich“. Die Perpetuierung des Krisentopos findet ihren symbolischen Ausdruck etwa in der befristeten Aufhebung des Trennungsgebots bei der Abschiebungshaft (§ 62a AufenthG) unter Verweis auf „eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist“, die (erst) im Jahr 2019 in das Gesetz eingefügt wurde.
Der Hyperaktivität des deutschen Gesetzgebers endete also nicht mit dem deutlichen Rückgang der Asylantragszahlen, sondern hält weiter an: Trotz der Tatsache, dass das Migrationspaket vom Juli 2019 mit sieben neuen Gesetzen als ein gewisser Endpunkt angepriesen wurde, sind weitere Änderungen entweder anhängig oder werden weiter diskutiert, wie zum Beispiel Marokko, Algerien, Tunesien und Georgien als sichere Herkunftsländer einzustufen oder das Asylprozessrecht zu reformieren aber auch das sog. „Miri-Gesetz“. Es steht zu befürchten, dass auch durch diese ad-hoc-Reaktionen die Fragmentierung zunimmt und sich bestehende Inkohärenzen weiter verschärfen.
Heterogene Ziele und inkohärenter Rechtsrahmen
Die besagten heterogenen Zielvorgaben stehen in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zueinander. Die daran anknüpfenden Gesetzgebung wird notwendig inkohärent und befindet sich zudem an einigen Stellen in Widerspruch zu den verbindlichen europarechtlichen Vorgaben.
Stellvertretend für viele andere Bereiche soll dies hier am Beispiel des Zugangs zum Arbeitsmarkt illustriert werden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt, der als ein zentrales Element struktureller Integration angesehen wird, ist für asylsuchende Personen theoretisch nach drei Monaten möglich (§ 61 Abs. 2 AsylG). Diese Änderung wurde im November 2014 zur Entlastung der Sozialkassen und in Anerkennung der oft lange andauernden Aufenthalte eingeführt. Dies gilt allerdings nur, wenn die Person nicht mehr verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, da während dieser Zeit ein Arbeitsverbot gilt (§ 61 Abs. 1 S. 1 AsylG). Die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, wurde 2019 verlängert und besteht nunmehr für längstens 18 Monate (§ 47 Abs. 1 AsylG – vorher sechs Monate). Allerdings ist nach neun Monaten die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu erlauben, wenn das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist (§ 61 Abs. 1 S. 2 AsylG). Personen, die aus einem sicheren Herkunftsstaat kommen, haben zum Arbeitsmarkt allerdings keinen Zugang (§ 61 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG), auch wenn ihr Asylverfahren noch läuft.
Zwar stimmt die Grundregelung formal noch weitgehend mit Art. 15 AufnahmeRL überein, der einen effektiven Arbeitsmarktzugang nach spätestens neun Monaten vorsieht. Staatsangehörige eines sicheren Herkunftsstaates auszuschließen, ist aber wohl nur schwer mit Art. 21 Grundrechtecharta (GRC), der jegliche Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet, und mit dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen. Daneben werden im Bereich des Arbeitsmarktzugangs für Personen mit einer Duldung der Regelungsbereich des Asylgesetzes (das während eines Asylverfahrens gilt) mit dem des Aufenthaltsgesetzes (das alle anderen Sachverhalte für Drittstaatsangehörige umfassen soll) vermischt: § 61 Abs. 1 S. 3 AsylG (!) enthält eine Ermessensnorm für den Arbeitsmarktzugang von Personen, die seit mehr als sechs Monaten geduldet sind, während § 60a Abs. 6 AufenthG Fälle regelt, in denen einer geduldeten Person keine Arbeitserlaubnis erteilt werden darf, und der 2019 neu eingeführte § 60b Abs. 5 AufenthG bestimmt, dass einer Person deren Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ versehen ist, die Erwerbstätigkeit nicht erlaubt werden darf. Gleichzeitig regeln die ebenfalls 2019 neu eingeführten §§ 60c (Ausbildungsduldung) und 60d AufenthG (Beschäftigungsduldung) Situationen, in denen geduldete Personen eine Ausbildung oder eine längerfristige Beschäftigung mit dem Ziel ausüben können, eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Je nachdem, wie die zuständige Ausländerbehörde und/oder die Bundesagentur für Arbeit (die in der Regel ihre Zustimmung erteilen muss) Schwerpunkte setzt, kann dann die Frage, ob eine Person eine Beschäftigung ausüben darf, sehr unterschiedlich beurteilt werden. Diese rechtlich fragwürdigen Abstufungen bzw. Differenzierungen zwischen verschiedenen Personengruppen tragen insgesamt zur Inkohärenz des Systems bei. Zudem besteht beim Arbeitsmarktzugang ein Spannungsverhältnis zu Art. 15 GRC, der regelt, dass „jede Person … das Recht [hat], zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben.“ Der EuGH hat im Kontext des Ausschlusses einer Person vom internationalen Schutzstatus festgehalten, dass Art. 15 GRC zu den Rechten gehört, die Personen auch ohne rechtmäßigen Aufenthalt zustehen. Die Regelungen zum Arbeitsmarktzugang müssen aufgrund ihrer Inkohärenz und den Widersprüchen zu den grundrechtlichen Vorgaben grundlegend überarbeitet und bereinigt werden, um rechtstaatlichen Standards zu entsprechen.
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist neben den sich durch die dauernde Gesetzgebung ergebenden Inkohärenzen vor allem die Erosion der Verbindung aus Status und dem Zugang zu Rechten bedenklich. Diese ergibt sich durch Sanktionsnormen und daraus, dass Unterkategorien wie bspw. „gute Bleibeperspektive“, „sicherer Herkunftsstaat“ und „Personen mit ungeklärter Identität“ eingeführt werden. Die mit dem vormals einheitlich konstruierten Status als Asylbewerber*in verbundenen Rechte divergieren nunmehr je nachdem, zu welcher Sub-Kategorie die betreffende Person gehört. Entsprechende Differenzierungen sind nur zulässig, wenn sie auf tragfähige Gründe gestützt sind, zu denen die Staatsangehörigkeit jedenfalls nicht zählt. Der durch die Sanktionsnormen und die Kategorisierung intendierte Steuerungseffekt widerspricht zumindest teilweise verbindlichen europarechtlichen Standards. So wurden zum Beispiel seit 2015 im AsylbLG die Sanktionstatbestände des § 1a AsylbLG, die eine Absenkung des Leistungsniveaus bewirken, erheblich erweitert. Viele Änderungen in diesem Bereich haben zum Leitmotiv, die Abschiebbarkeit zu erhalten und somit Integrationsangebote vor Statusanerkennung zu vermeiden. Das verbindliche europäische Asylrecht sähe hingegen vor, diese Personen bis zu einer negativen Entscheidung als potentielle Flüchtlinge anzusehen und sie auch in Bezug auf staatliche Leistungen weitestgehend wie eigene Staatsangehörige zu behandeln (Art. 17 Abs. 5 AufnahmeRL). Auch der EGMR hat dieses Prinzip im Urteil zu den „hot returns“ an der spanisch-marokkanischen Grenze nochmals betont. Eine entsprechende Anpassung der deutschen Rechtslage wäre europarechtlich (und wohl auch verfassungsrechtlich) geboten.
Wege aus der Inkohärenz
Die gesetzgeberische Hyperaktivität und der bestehende exekutive Föderalismus führten in Deutschland seit 2015 zu einer Rechtszersplitterung, die sowohl der systemischen Kohärenz als auch der Rechtssicherheit abträglich ist. Gerade die – bewusst oder unbewusst – durch die gesetzgeberische Hyperaktivität erzeugte Intransparenz und Ambiguität haben schwerwiegende negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Schutzsystems insgesamt, da es willkürlich und nicht nachvollziehbar erscheint. Neben den rechtlichen Implikationen stellen diese Entwicklungen vor allem die Verwaltung im Allgemeinen und deren Mitarbeit*innen im Besonderen vor enorme Herausforderungen. Deshalb kommen Forderungen nach klaren Richtlinien und transparenten Regelungen insbesondere auch aus Verwaltung und Gerichtsbarkeit.
Es ist daher generell zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber versucht, seiner Verantwortung gerec