Repräsentation und Präsenz
Parteitage als Ort des Kompromisses
Die innerparteiliche Demokratie ist durch Kompromisse gekennzeichnet. Parteitage befördern in ihrem traditionellen Format die Kompromissfindung: durch Repräsentation und Präsenz. Digitale Parteitage erweisen sich nicht in gleicher Weise als kompromissaffin. Darin liegt eine Verlockung für diejenigen, die kein Interesse am Kompromiss haben. Verfassungswidrig ist die Einführung des Digitalformats deswegen nicht, seine demokratischen „Kosten“ müssen aber eingepreist werden.
I. Innerparteiliche Kompromissfindung
Der Kompromiss gehört zum Wesen der Demokratie. „Kompromiss bedeutet: Zurückstellen dessen, was die zu Verbindenden trennt, zugunsten, dessen, was sie verbindet“, schreibt Hans Kelsen, dem wir die Einsicht in die demokratischen Wesenhaftigkeit des Kompromisses zu verdanken haben. Diese Einsicht gilt nicht nur für die Demokratie auf staatlicher Ebene, sondern auch für die Demokratie innerhalb der Parteien, die für Kelsen Organe der staatlichen Willensbildung sind: „Nur Selbsttäuschung und Heuchelei kann vermeinen, dass Demokratie ohne politische Parteien möglich sei.“ Die Parteien integrieren Individualinteressen und strukturieren damit die demokratische (d. h. kompromisshafte) Bildung des „Staatswillens“ vor. Erbracht wird diese Integrationsleistung nicht zuletzt durch Parteitage, auf denen Parteiprogramme im Kompromissverfahren beschlossen werden (§ 9 Abs. 3 PartG).
Wer einen Eindruck davon gewinnen will, wie sich die innerparteiliche Kompromissfindung auf Parteitagen vollzieht, dem sei die ARD-Dokumentation „Kevin Kühnert und die SPD“ empfohlen. Folge 5, „Machtlektionen“, handelt vom Bundesparteitag der SPD im Dezember 2019, auf dem ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen wurde. Eine Szene zeigt den damaligen Juso-Chef Kühnert im Gespräch mit anderen Juso-Funktionären. Sie diskutieren angeregt über einen Beschlussvorschlag des Parteivorstands, der aus ihrer Sicht keine klare Abkehr von den umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen bedeutet. Die Jusos wollen in der Frage „keine Kompromisse“ eingehen. Zwischen den Delegiertenreihen stellt Kühnert Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zur Rede; die Stimmung ist gereizt. Die nächste Einblendung zeigt Kühnert und Heil hinter den Parteitagskulissen gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans, der mit irgendjemandem telefoniert (ohne Ton). Daraufhin macht Heil einen neuen Textvorschlag, der – nach Kühnerts Einschätzung – zu 90 % dem entspricht, was die Jusos fordern. Der Kompromiss ist gefunden und wird vom Parteitag kurz darauf beschlossen.
Den Dokumentarfilmern ist ein Paradebeispiel für die innerparteiliche Kompromissfindung vor die Linse gekommen. Was Zuschauern, die mit dem Innenleben von Parteien wenig vertraut sind, als Kungelei und Hinterzimmerpolitik erscheinen mag, ist die gelungene Integration verschiedener in der Partei vertretener Interessen, auf ausgleichendem (kompromisshaftem) und damit zutiefst demokratischem Wege: Hubertus Heil, stellvertretend für den Parteivorstand, und Kevin Kühnert, stellvertretend für die Jusos, haben zurückgestellt, was sie trennt, zugunsten dessen, was sie verbindet. Beide Seiten haben nachgegeben und gerade dadurch ein für alle annehmbares Ergebnis gefunden. Das Gelingen dieses Kompromisses wurde durch zwei Faktoren begünstigt, die Parteitage in ihrer traditionellen Form auszeichnen: Repräsentation und Präsenz.
II. Repräsentation und Präsenz
Obwohl dies rechtlich möglich wäre, kommen auf Parteitagen in aller Regel nicht sämtliche Mitglieder einer Partei zusammen. Stattdessen wählen die Parteimitglieder auf den unteren Ebenen der Organisationsstruktur Delegierte, die auf dem Parteitag die „Basis“ repräsentieren. Dadurch bleibt der Kreis der Personen, die an der Kompromissfindung beteiligt sind, überschaubar. Eine weitere Reduktion des kompromissrelevanten Personals ergibt sich aus informellen Repräsentationsbeziehungen, wie sie in der Kühnert-Heil-Szene deutlich werden: Heil verhandelt für den Parteivorstand, Kühnert für die Jusos. Beide repräsentieren namhafte Gruppen innerhalb der Partei. Die innerparteiliche Repräsentation ist keine bloße praktische Notwendigkeit, sondern eine etablierte Sozialtechnik, die es erleichtert Kompromisse zu finden: Denn unter Wenigen wird man sich erfahrungsgemäß rascher einig als unter Vielen.
Die Kühnert-Heil-Episode zeigt neben den Repräsentationsbeziehungen außerdem anschaulich, welche Bedeutung die physische Präsenz auf Parteitagen hat. Sie ermöglicht vielfältige unmittelbare und vor allem spontane Interaktionen zwischen den Repräsentanten. Es gelingt Kühnert, Heil wegen der streitigen Formulierung zur Rede zu stellen, ihn hinter die Kulissen zu bitten, den Parteivorsitzenden hinzuzuholen und so – kurz vor der entscheidenden Abstimmung – einen Beschlussvorschlag zu formulieren, mit dem alle leben können. Heil kann sich den Jusos nicht entziehen, umgekehrt müssen sich auch die Jusos seine Position anhören. Es gibt – in den Grenzen sozialadäquaten Verhaltens – kein Entrinnen: Die körperliche Anwesenheit zwingt beide Seiten, sich in die Augen zu sehen, die Position der jeweils anderen zumindest zu registrieren und sich in irgendeiner Weise dazu zu verhalten.
Physische Präsenz schafft Verbindlichkeit. Es wird nicht auf Papier kommuniziert, das bekanntlich geduldig ist, oder mit digitalen Nachrichten, die sich einfach wegklicken lassen. Wer unter Anwesenden interagiert, setzt sich einer erhöhten, meist unausgesprochenen Erwartung aus, sein Gegenüber ernst zu nehmen und sich an das Vereinbarte zu halten. In der erwähnten Szene aus der ARD-Dokumentation wird diese Erwartung sogar verbalisiert. Kühnert sagt am Ende: „Das ist jetzt ein Vertrauensmoment […], dass wir uns jetzt hier in die Augen gucken und sagen ‚Wir meinen das Gleiche‘.“ Heil akzeptiert die gesteigerte Verbindlichkeit. Durch die Vergewisserung der inhaltlichen Übereinstimmung erhält der Kompromiss eine besondere Qualität, ist die Gefahr gebannt (oder zumindest verringert), einen bloßen „Formelkompromiss“ zu beschließen.
III. Verlockungen der Digitalisierung
Kann sich eine vergleichbare Kompromissfindung auch auf digitalen Parteitagen vollziehen? Gewiss lassen sich Repräsentation und Präsenz mit digitalen Hilfsmitteln virtualisieren. Das Delegiertensystem kann ohne weiteres in den „digitalen Raum“ übertragen werden. Die virtuelle Präsenz kann der körperlichen Anwesenheit mittels Videokonferenzsystemen, Breakout-Rooms und Chatfunktionen zumindest nahekommen. Damit wird zwar kein völlig gleichwertiger Kommunikationsraum geschaffen, aber doch einer, mit dem sich arbeiten lässt. Den Einbußen an Spontaneität und Verbindlichkeit, stehen Vorzüge des Digitalformats gegenüber, die nicht von der Hand zu weisen sind: Digitale Parteitage lassen sich ohne zeit- und kostenintensive Reisen durchführen und sind damit nicht nur klimafreundlicher, sondern auch inklusiver: Die Teilnahme am Parteitag wird nun auch den Parteimitgliedern möglich, deren Lebensentwürfe mit den traditionellen Präsenzformaten nur schwer in Einklang zu bringen sind (die Vereinbarkeit von Parteitätigkeit und/oder Beruf ist – zu Recht – ein zentrales Anliegen innerparteilicher Reformen). Diese erhöhte Inklusion ist zweifellos verlockend.
Wie kompromissfördernd das Digitalformat ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Gewiss hängt viel von der technischen Ausgestaltung ab. Wer mit den derzeit gängigen Videokonferenzsystemen vertraut ist, wird sich eine Szene wie die Kühnert-Heil-Episode im digitalen Raum aber nur schwer vorstellen können. Vielleicht hätten die Jusos den Parteivorstand „im Chat“ zur Rede gestellt, vielleicht durch Wortmeldungen oder „Daumen runter“ (falls vorhanden) mit ihrer Ablehnung konfrontiert. Aber hätte dies einen vergleichbaren Weg zu einem Kompromiss gewiesen? Ich möchte es bezweifeln. Am Ende hätte man wohl abgestimmt und mit Mehrheit entschieden, ohne an der Beschlussvorlage des Parteivorstands etwas zu ändern. Zu limitiert erscheinen die Möglichkeiten der digitalen Interaktion, zu gewollt die Formate des digitalen „Ausbrechens“, um vergleichbar kompromissfördernd zu wirken.
In der tendenziellen Kompromissaversion des Digitalformats kann freilich selbst eine Verlockung liegen – für diejenigen nämlich, denen der parteiinterne Kompromiss lästig ist. Man muss nicht Robert Michels „Ehernem Gesetz der Oligarchie“ anhängen, um anzuerkennen, dass vor allem die Parteielite ein geringes Interesse daran hat, Kompromisse mit Repräsentanten der „Basis“ auszuhandeln. Faktoren gering zu halten, die solche Kompromisse befördern, mag daher der Parteiführung durchaus gelegen kommen. Nicht zuletzt deshalb ordnet das Parteiengesetz an, dass Parteitage mindestens in jedem zweiten Kalenderjahr einmal zusammentreten müssen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 PartG). Der Parteitag soll der Oligarchisierung der Partei entgegenwirken, soll einen Ort für Irritationen bieten, soll die Parteispitze zu Kompromissen zwingen. Ein digitaler Parteitag kann das auch, aber er kann es nicht in gleicher Weise – verlockend, für die, die den Kompromiss scheuen.
Eine dritte Verlockung liegt in der Möglichkeit von Mitgliederparteitagen: Parteitage im traditionellen Präsenzformat laufen infolge beschränkter Raumkapazitäten beinahe zwangsläufig auf ein Delegiertensystem, also auf innerparteiliche Repräsentation hinaus. Selbst die AfD ist inzwischen vom Mitglieder- zum Delegiertenparteitag übergegangen. Im „digitalen Raum“ fallen solche räumlichen Begrenzungen weg. Die Möglichkeit digitaler Mitgliederparteitage ist lediglich eine Frage von Serverkapazitäten. Die innerparteiliche „Basisdemokratie“ rückt damit in greifbare Nähe, mit einem offensichtlichen Vorzug: Parteiprogramme, die von der „Basis“ verabschiedet werden, können ein ungleich höheres Maß an innerparteilicher „Legitimation“ für sich in Anspruch nehmen als Parteiprogramme, die „nur“ von ein paar hundert Delegierten beschlossen wurden.
Doch mit der Erweiterung des Parteitagspersonals wird die Kompromissfreudigkeit des Parteitags verringert. Auf den ersten Blick können nun zwar alle mitreden, zugleich aber sinkt die Wahrscheinlichkeit von Kompromissen. Mit tausenden Mitgliedern über einzelne Sätze in Beschlussvorschlagen zu verhandeln, erscheint praktisch ausgeschlossen. Am Ende werden die Mitglieder vor die Wahl gestellt: „Ja“ oder „Nein“. Der digitale Mitgliederparteitag steht damit vor dem allgemeinen Dilemma der direkten Demokratie, die besonders demokratisch sein will, aber aufgrund ihrer strukturellen Kompromissunfähigkeit besonders undemokratische Ergebnisse hervorbringt. Der Parteielite mag das Recht sein, darf sie doch bei gewöhnlichem Lauf der Dinge davon ausgehen, dass ihr Beschlussvorschlag die meisten „Ja“-Stimmen auf sich vereinen wird. Auf einzelne Delegierte oder Gruppierungen zuzugehen, wie Hubertus Heil es in der Konfrontation mit den Jusos getan hat, ist dann nicht mehr nötig: Der Zwang zum Kompromiss entfällt.
IV. Demokratische Kosten
Der Kompromiss als Wesensmerkmal der innerparteilichen Demokratie wird durch digitale Parteitage nicht beseitigt, wohl aber erschwert. Das bedeutet aber nicht, dass das Digitalformat verfassungswidrig wäre. Dem Gebot innerparteilicher Demokratie nach Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG ist keine Festlegung auf ein bestimmtes Parteitagsformat zu entnehmen. Der Gesetzgeber kann die erhöhte Inklusionskraft digitaler Formate durchaus zum Anlass nehmen, um es – gestützt auf seine Konkretisierungsbefugnis nach Art. 21 Abs. 5 GG – den Parteien freizustellen, ob sie ihre Parteitage in physischer Präsenz oder im digitalen Raum abhalten. Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG verlangt nur ein Mindestmaß an innerparteilicher Demokratie. Mit dem – vom Covid-19-Sonderrecht abgesehen – obligatorischen Präsenzformat hat der Gesetzgeber den Parteitag als einen Ort konzipiert, der für die innerparteiliche Kompromissfindung besonders geeignet ist. Dieses Format aufzugeben, verursacht demokratische Kosten, über die man sich zumindest im Klaren sein sollte, wenn man – wie im Koalitionsvertrag – fordert, das Parteiengesetz „auf den Stand der Zeit“ zu bringen. Digitalisierung ist kein Wert an sich. Demokratie schon.
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