Sachgrundlose Befristung nur bei Ersteinstellung: Auslegung im Wettstreit der Gerichte
Befristete Arbeitsverhältnisse, die mit ihnen verbundene Unsicherheit und die Prekarität waren wichtige Themen des Wahlkampfs im vergangenen Jahr – und laut Koalitionsvertrag vom 14. März 2018 ist es der SPD gelungen, einen „wirklichen Durchbruch“ zu erreichen: „Sachgrundlose Befristungen werden wieder zur Ausnahme, das unbefristete Arbeitsverhältnis soll wieder zur Regel werden in Deutschland. Endlose Kettenbefristungen werden abgeschafft.“
Tatsächlich ist die befristete Beschäftigung beim Einstieg in die Erwerbsarbeit der Regelfall geworden und für viele Beschäftigte ist es der Einstieg in eine prekäre und unsichere Erwerbstätigkeit, in der sie sich von einer Befristung zur nächsten hangeln und Familienplanung oder Weiterbildung in die ferne Zukunft verschieben. Es sind diese Ketten befristeter Arbeitsverhältnisse, die das eigentliche sozialpolitische Problem darstellen. Um sie geht es auch im Beschluss des BVerfG vom 6. Juni 2018.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Das BVerfG erklärt eine Gesetzesauslegung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), die eine wiederholte sachgrundlose Befristung mit ein und demselben Arbeitgeber ermöglichte, für verfassungswidrig. Den Materialien aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes sei ein „klar erkennbarer Wille des Gesetzgebers“ zu entnehmen, den das BAG nicht respektiert habe. Gleichzeitig entnimmt es der Verfassung, dass diese den Umgang mit wiederholten sachgrundlosen Befristungen bereits detailliert regele. Damit hat es wohl auch einen Baustein aus dem ausgefeilten Konzept des Koalitionsvertrags herausgebrochen.
Die gesetzliche Regelung und ihre Auslegung durch das BAG
Gegenstand war § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG. Dort geht es um die „sachgrundlose“ Befristung. Sie stellt in Deutschland den gesetzlichen Ausnahmefall dar. Hier ist die Teilzeit-Richtlinie 1999/70/EG, die Kettenbefristungen eindämmen soll, so umgesetzt, dass die Befristung von Arbeitsverhältnissen von einem Sachgrund abhängig gemacht wird. Dass es daneben überhaupt die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung gibt, geht auf ein wichtiges Projekt der ersten Kohl-Regierung zurück, die 1985 mit dem „Beschäftigungsförderungsgesetz“ (BeschFG) dieses Instrument einführte, zunächst befristet und unter Evaluationsvorhalt.
Anlässlich der Richtlinienumsetzung wurden diese Vorschriften im Jahre 2001 in § 14 TzBfG kodifiziert. Die sachgrundlose Befristung wurde dabei jedoch nicht nur hinsichtlich der Höchstdauer und Verlängerungsmöglichkeit beschränkt; es wurde auch eine zusätzliche Sicherung gegen Kettenverträge eingebaut: Während das BeschFG seit 1996 nach einer Unterbrechung von vier Monaten den erneuten Abschluss eines sachgrundlos befristeten Arbeitsvertrages mit demselben Arbeitgeber ermöglichte, sagt § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG: „Eine [sachgrundlose] Befristung […] ist nicht zulässig, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat.“
Man sollte meinen, dass diese Regelung hinreichend deutlich ist. Der Zweite Senat des BAG erklärte deshalb zunächst 2003 jede wiederholte sachgrundlose Befristung zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien für unwirksam; auf den zeitlichen Abstand zwischen dem früheren Arbeitsverhältnis und dem neuen befristeten Arbeitsverhältnis komme es „grundsätzlich“ nicht an. Im Jahre 2011 änderte es jedoch seine Meinung, oder genauer: Nachdem der Siebte Senat zuständig wurde, konkretisierte er die Einschränkung, die in dem Wort „grundsätzlich“ seiner Meinung nach enthalten war. Seither kann erneut sachgrundlos befristet werden, wenn das vorangegangene Arbeitsverhältnis mehr als drei Jahre zurückliegt.
Diese Rechtsprechung ist zu Recht auf heftigen Widerspruch gestoßen. Man mag dem BAG allerdings zugestehen: Ein „lebenslang“ geltendes Verbot erneuter Befristung kann praktische Schwierigkeiten verursachen; je länger die Vorbeschäftigung zurückliegt, desto weniger dürfte das Wissen darüber in Organisationen vorhanden sein. Auch sieht es nicht gerade nach dem klassischen Fall einer illegitimen Kettenbefristung aus, wenn eine sachgrundlose Befristung für das Lehramt an einer Berufsschule sechs Jahre nach Ende der Befristung als studentische Hilfskraft an einer Universität desselben Bundeslandes ansteht (wie im 2011 entschiedenen Fall). Dies rechtfertigt aber nicht die gerichtliche Festlegung einer festen zeitlichen Grenze von drei Jahren – auch wenn diese rechtssicherer sein mag als eine „ebenso in Betracht kommende[…] Anknüpfung an die Art und Dauer der Vorbeschäftigung“. Die feste zeitliche Grenze widerspricht dem, was man üblicherweise für die Aufgaben der Rechtsprechung im Verhältnis zur Legislative hält: Ein Gericht mag Rechtsfortbildung an Einzelfällen betreiben. In dem Einzelfall, den das BAG 2011 entschied, waren jedoch bereits sechs Jahre seit der Vorbeschäftigung vergangen. Der Fall bot unmittelbar keinerlei Anlass für die Aufstellung einer Zeitgrenze von ausgerechnet drei Jahren als allgemeiner Regel.
Auch das BVerfG meint jetzt, dass das BAG zu weit gegangen sei, und begibt sich mit diesem in einen Wettstreit um die richtige Auslegung von § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG.
Lehrbuchmäßige Entwicklung des verfassungsrechtlichen Rahmens
Zunächst aber wetteifert der Senat mit dem BAG darum, den verfassungsrechtlichen Rahmen der sachgrundlosen Befristung rechtsdogmatisch möglichst regelgerecht zu entwickeln.
Das BAG hatte seine Rechtsprechung damit begründet, dass – obwohl „die Gesetzesgeschichte […] „eher auf ein zeitlich unbeschränktes Verbot der Zuvorbeschäftigung [deute]“ – Normzweck, Gründe der Praktikabilität und Rechtssicherheit sowie „insbesondere verfassungsrechtliche Erwägungen“ für eine zeitliche Beschränkung des Verbots sprächen. Diese werden verfassungsrechtlich nach allen Regeln der juristischen Kunst ausgeführt. Ergebnis: Nach einer „die Wertordnung des Grundgesetzes berücksichtigende[n] ‚verfassungsorientierte[n] Auslegung‘“ sei „die mit einem lebenslangen Anschlussverbot verbundene Beschränkung der Privatautonomie und der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer unverhältnismäßig“, weil zur Verhinderung von Befristungsketten weder geeignet noch erforderlich.
Dem setzt das BVerfG nun eine ähnlich lehrbuchmäßige Darstellung des verfassungsrechtlichen Rahmens entgegen, einschließlich eines kurzen Absatzes zur formellen Verfassungsmäßigkeit. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass das BVerfG – im Unterschied zum BAG – die Zielsetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG nicht einfach für legitim erklärt, sondern betont, dass sie einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht Rechnung tragen, die sich aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebe. Die Beschränkung der sachgrundlosen Befristung sei insofern nicht allein im Kontext von Kettenbefristungen zu sehen; sie diene darüber hinaus dem allgemeinen sozialpolitischen Ziel, die „unbefristete Beschäftigung als Regelfall“ zu sichern (wobei wohl im Vordergrund die Sicherung eines normativen Regel-Ausnahme-Verhältnisses von unbefristeter und befristeter Beschäftigung steht und weniger der empirische Regelfall). Dieser Aspekt der Schutzpflicht des Art. 12 Abs. 1 GG wurde zwar schon in früherer Rechtsprechung angesprochen, aber selten so klar und prononciert formuliert wie hier. Ein Ausschluss der befristeten Anschlussbeschäftigung sei deshalb verfassungskonform.
Und was ist mit den Schwierigkeiten, die das BAG mit der „lebenslangen“ Geltung des Anschlussverbots hatte? Auf die praktischen Schwierigkeiten eines fehlenden organisatorischen Gedächtnisses auf Arbeitgeberseite geht das BVerfG nicht ein; das mag man ihm nicht verdenken, obwohl sich diese sicher verfassungsrechtlich besser hätten verorten lassen, als es das BAG getan hat. Das BVerfG gesteht aber zu, dass die Einschränkungen des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG unverhältnismäßig sein könnten, wenn sie für die Beteiligten „unzumutbar“ wären. Diese Ausnahme ist auf Fälle gemünzt, in denen tatsächlich der Schutzzweck der Norm gar nicht einschlägig ist, insbesondere keine Gefahr der Kettenbefristung besteht – „wenn eine Vorbeschäftigung sehr lang zurückliegt, ganz anders geartet war oder von sehr kurzer Dauer gewesen ist“ (wie zum Beispiel bei geringfügigen Nebenbeschäftigungen während der Schul- und Studien- oder Familienzeit, also auch in dem Fall, den das BAG im Jahre 2011 zu entscheiden hatte). Das BVerfG verlangt von den Arbeitsgerichten also eine teleologische Reduktion der Norm.
Die beste Auslegung – oder die einzig mögliche?
Eine teleologische Reduktion praktizierte zwar auch das BAG. Es hatte sich allerdings mit der Erfindung der Drei-Jahres-Frist auf das Feld der unmittelbaren Setzung abstrakter Regeln begeben, statt – wie es der Rechtsprechung ansteht – Rechtsfortbildung als case law am Einzelfall und damit mittelbar zu betreiben.
Dieses Vorgehen gefällt dem BVerfG ganz offensichtlich nicht. Mit seinem Vorwurf, das BAG „[ersetze] das gesetzliche Regelungskonzept der nur einmaligen sachgrundlosen Befristung durch ein Konzept einer wiederholt möglichen sachgrundlosen Befristung nach Einhaltung einer Karenzzeit“, spielt es indirekt sogar auf dieses Problem der Methode der Rechtsfortbildung an. Es benennt dies aber nicht explizit und versäumt es deshalb auch, die Frage im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips verfassungsrechtlich zu verorten.
Stattdessen begibt sich das BVerfG auf das glatte Eis einer Kritik an der konkreten Auslegung des BAG: Zwar sei es zutreffend, dass Wortlaut und Systematik kein „zwingendes Ergebnis der Auslegung“ vorgäben. „Die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte zeigen demgegenüber deutlich auf, welche gesetzgeberische Konzeption der Norm zugrunde liegt.“ Das Gewicht der Gesetzesmaterialien erhöht sich hier unter der Hand von „nicht unerhebliche[r] Indizwirkung“ bis zur Verbindlichkeit eines „klar erkennbaren Willens“.
Solche Auslegungsfragen sind das tägliche Brot der juristischen Arbeit; dies fängt schon im ersten Semester an. Jurist*innen haben an solchen Meinungsstreits besondere Freude. Dem BAG ging es genauso. In seinem Urteil von 2011 setzte es sich fast ebenso liebevoll wie jetzt das BVerfG mit den Gesetzesmaterialien auseinander. Es gab der historischen Auslegung aber im Gesamtsystem der Auslegungsmethoden geringeres Gewicht.
Wir sind nun eigentlich gewohnt, solche Streitfragen dann an der Frage zu entscheiden, wie „vertretbar“ eine bestimmte Auslegung ist. Die „Vertretbarkeit“ einer Auslegung ist letztlich ein verfassungsrechtlicher Begriff: Für die Frage, ob ein Gericht die Gesetze im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip ausgelegt und angewandt hat, ist entscheidend, ob sich die Rechtsprechung mit einer der „anerkannten Auslegungsmethoden“ rechtfertigen lässt bzw. ob sie sich „in den Grenzen vertretbarer Auslegung“ bewegt.
Beide Gerichte haben hier die entstehungsgeschichtliche Auslegung angewandt. Das BAG warnt davor, deren Gewicht zu „überschätzen“; das BVerfG meint, es habe sie damit „beiseite [geschoben]“. Und nun soll dieser Unterschied es rechtfertigen, gegen das BAG den Vorwurf einer Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze zu erheben? Soll künftig ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip immer schon dann angenommen werden, wenn die anerkannten Auslegungsmethoden in der Hand des BVerfG zu einem anderen Ergebnis führen als in der Hand der Fachgerichte? Dies machte die Abgrenzung zu einer Superrevisionsinstanz nicht einfacher. Das BVerfG behält sich jedenfalls die letzte Entscheidung über die Rechtsfortbildung der Fachgerichte vor.
Politische und praktische Folgen
Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb die Entscheidung des BVerfG rechtsstaatliche Fragen aufwirft. Zwar behauptet das Gericht nach wie vor, dass der Gesetzgeber „für die Herstellung des geforderten Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Interessen […] über einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum [verfügt].“ In der Frage, wie Ketten sachgrundloser Befristungen verhindert werden können, ergibt sich aus der Entscheidung aber nur eine einzige Regelungsmöglichkeit: Die des BVerfG. Aktuell erwartet es von den Arbeitsgerichten, dass diese den gesetzlichen Wortlaut in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG entsprechend teleologisch reduzieren.
Die aktuelle Regierung plant allerdings ausweislich des Koalitionsvertrags eine Reihe von Maßnahmen zur Begrenzung des Missbrauchs von Befristungen. Als ein Baustein ist eine Kodifizierung der bisherigen BAG-Rechtsprechung geplant; ein erneutes befristetes Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber soll erst nach Ablauf einer Karenzzeit von drei Jahren möglich sein.
Mit seinem Schlusssatz, „eine Karenzzeit von drei Jahren ist für sich genommen auch kein geeignetes Mittel, um unzumutbare Beeinträchtigungen der betroffenen Grundrechtspositionen zielgerichtet zu vermeiden“, stellt das BVerfG diesen Kompromiss ganz nebenbei verfassungsrechtlich in Frage. Man darf gespannt sein, wie sich dies im Gesetzgebungsverfahren auswirken wird.
Hier hatte sich das BAG auch zu wenig an den Gesetzeszweck orientiert. Denn von der Sache her ist die Problematik einfach: Nur wenn sachgrundlose Befristung wirklich zu mehr befristete Beschäftigung führt, ist sie sachlich vertretbar; andernfalls ist sie nur eine Möglichkeit, der AG-Seite das betriebliche Risiko auf die AN zu verlagern. Hier sah wohl das BVerfG mit Bedenken die Praxis, gerade junge Menschen meist nur noch befristet einzustellen. Es ging hier immer um die Bedeutung von Art. 12 GG für wen.
Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht ein so klares Bekenntnis zur subjektiven Auslegungstheorie abgegeben. Diese hat damit der objektiven Auslegungstheorie endgültig den Rang abgelaufen.(so schon Wedel, ZMR 2017,964 mwN; JurBüro 2014,122)
Die grundsätzlichen rechtsmethodischen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts stehen in voller Übereinstimmung mit meinen Aussagen aus dem Jahr 1988 (Die Rolle entstehungsgeschichtlicher Argumente in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, S.198-201) und aus dem Jahr 2014 (AuR 14,31 zur jetzt für verfassungswidrig erklärten Rechtsprechung des BAG):
BVerfG: Die Beachtung des aus den Gesetzesmaterialien klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung Rechnung und verwirklicht auch die in Art. 20 Abs.3 und Art. 97 Abs.1 GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das Gesetz.
Wedel (1988): Aus den Gesetzesmaterialien klar erkennbare gesetzgeberische Vorstellungen sind verbindlich, da dadurch das Prinzip der Gewaltenteilung geachtet wird, insbesondere das Rechtssetzungsvorrecht des Gesetzgebers und die Gesetzesbindung des Richters.
Wedel (2014): Wenn die Gesetzesmaterialien eine unmittelbare Antwort auf die zu entscheidende Rechtsfrage geben, kommt diesem Argument ein erhebliches, von weiteren Überlegungen entlastendes Gewicht zu. Der Wortlaut der Materialien birgt dann die Lösung.
Das Bundesverfassungsgericht hat im übrigen auch ausdrücklich benannt welchen Gesetzesmaterialien der höchste Stellenwert unter allen Materialien zuzuerkennen ist, nämlich der Begründung des Gesetzentwurfs und den Ausschussberichten. Genau dies habe ich schon vor 30 Jahren in: Die Rolle entstehungsgeschichtlicher Argumente .. auf S.93 ausgeführt.