„Solid jurisdictional basis“?
Die fragile Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Verbrechen in Palästina
Am 5.2.2021 erging die langerwartete Entscheidung von Vorverfahrenskammer I (Pre-Trial Chamber I) zur Frage der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs [IStGH] für mögliche Kriegsverbrechen in den von Israel besetzen palästinensischen Gebieten1) seit 13.6.20142). Die Entscheidung erging auf Antrag der Anklagebehörde, die zwar von einem Anfangsverdacht iSv Art. 53 Abs. 1 IStGH-Statut [IStGHS] („reasonable basis to believe“) ausgeht3), vor der Fortführung der Ermittlungen die Zuständigkeitsfrage aber vorab geklärt haben wollte. Der Grund liegt darin, dass die Staatenqualität Palästinas höchst umstritten ist, irgendeine Form von Staatlichkeit aber Voraussetzung für die territoriale Zuständigkeit des Gerichtshofs ist. Wir kommen auf dieses Kernproblem zurück.
Im Ergebnis hat die Kammer die Zuständigkeit – bezogen auf das oben genannte Gebiet – mit einem knappen 2:1 Votum4) bejaht. Sie ist damit dem Antrag der Anklagebehörde (Entsch., para. 22 ff.) gefolgt. Neben ihr haben sich Israel und Palästina, zahlreiche Opferorganisationen und zahlreiche als amici curiae auftretende Staaten, Nicht-Regierungsorganisationen und Einzelpersonen geäußert (Entsch., para. 31 ff.). 22 der insgesamt 42 Amicus Curiae-Stellungnahmen richten sich gegen eine Zuständigkeit des Gerichtshofs (Entsch., para. 51 f.), darunter auch die der Bundesregierung. Ihrer Ansicht nach erfüllen die palästinensischen Gebiete nicht die völkerrechtlichen Voraussetzungen von Staatlichkeit und Palästina hätte deshalb dem Statut schon nicht (am 2.1.2015) beitreten dürfen. Deshalb werde Palästina auch nicht als Vertragspartei im Bundesgesetzblatt aufgeführt. Die Bundesregierung hat den Gerichtshof deshalb dazu aufgefordert, „to conduct an independent assessment of whether Palestine satisfies the normative criteria of statehood under international law“ (para. 23). Eine, speziell auf Palästina zugeschnittene Anpassung der völkerrechtlichen Voraussetzungen von Staatlichkeit „for the purposes of the Rome Statute“ lehnt die Bundesregierung ausdrücklich ab (para. 25).
Auch wenn die Kammer die beschränkte Wirkung ihrer Entscheidung mit Blick auf den völkerrechtlichen Status Palästinas, insbesondere dessen zukünftige Grenzen, betont (s. z.B. Entsch., para. 130) und dies sich schon aus Art. 10 IStGHS ergibt5), dürfte die Bundesregierung (wie auch zahlreiche weitere Regierungen) nicht glücklich über die Mehrheitsentscheidung sein6), denn sie lässt letztlich die schwierige Frage der Staatlichkeit Palästinas – gleichsam der Elefant im Raum – offen. Bevor wir uns damit näher befassen, sind einige Vorfragen zu klären.
Verfahrensrechtliche Grundlage der Entscheidung
Die wichtigste Vorfrage ist, ob der von der Anklagebehörde in Anspruch genommene Art. 19(3) IStGHS den Gerichtshof überhaupt zu einer Zuständigkeitsentscheidung in einem so frühen Verfahrensstadium berechtigt. Zwar spricht Absatz 3 nur von einem „ruling from the Court regarding a question of jurisdiction or admissibility“, der gesamte Artikel 19 bezieht sich aber auf Einwände gegen die Zuständigkeit oder die Zulässigkeit eines „Falles“ („case“) und damit eigentlich auf ein späteres Verfahrensstadium, in dem aus einer bestimmten makrokriminellen „situation“ (auf die sich Art. 18 bezieht) konkrete „cases“ gegen bestimmte Tatverdächtige extrahiert worden sind. Gleichwohl wird in der Literatur eine weite, teleologisch begründete Auslegung von Art. 19(3) vertreten, wonach das besagte „ruling“ auch schon in einem früheren Verfahrensstadium ergehen könne7). Die Kammer schließt sich dieser Ansicht an und zwar insoweit übereinstimmend (Entsch., para. 68, 69 ff.; abwM Kovács, para. 1). Sie argumentiert zunächst, dass anders als in der Rohingya/Myanmar-Situation die Anklägerin hier „in principle“ und „as a matter of law“ schon ein Ermittlungsverfahren iSv Art. 53(1)(a) IStGH-Statut eröffnet habe (Entsch., para. 65) – eine etwas überraschende Bewertung, will die Anklägerin ihre weiteren Ermittlungen, wie oben bereits gesagt, doch gerade von der Bejahung der Zuständigkeit abhängig machen. Hinsichtlich Art. 19 weist die Kammer zum einen darauf hin, dass sich aus dem Wortlaut von Abs. 3 eben gerade nicht die Beschränkung auf einen „Fall“ entnehmen lasse und deshalb im Umkehrschluss eine solche Beschränkung abzulehnen sei. Zum anderen gehe es darum, so früh wie möglich festzustellen, ob für ein bestimmtes Verfahren eine „sound jurisdictional basis“ existiere und zwar eben auch dann, wenn das Verfahren nicht von Amts wegen eingeleitet worden (wo ja eine frühe gerichtliche Kontrolle gem. Art. 15(4) IStGHS eingreift), sondern, wie hier, von einem Vertragsstaat überwiesen worden sei. Eine enge Auslegung würde gerade diesem praktischen Zweck von Art. 19(3) – als frühestmöglicher Zuständigkeitskontrolle – den Boden entziehen.
Man kann dieser weiten Auslegung von Art. 19(3) – insbesondere aus Gründen der Justizökonomie – in der Tat einiges abgewinnen, doch hat sie Richter Perrin de Brichambaut in einige Erklärungsnot gebracht, hat er doch in seiner abweichenden Meinung in der Rohingya/Myanmar-Situation gerade die umgekehrte, enge Auslegung vertreten8). Perrin de Brichambaut sah sich deshalb nun genötigt, ein erklärendes Sondervotum („Partly Separate Opinion“) abzugeben. Dort betont er den Unterschied zwischen der vorliegenden und der damals zu entscheidenden Situation und meint, seine damalige Ansicht mit dem Argument aufrechterhalten zu können, dass die Anklägerin im vorliegenden Verfahren ja schon mögliche Fälle identifiziert habe, was für Art. 19(3) ausreichend sei, denn dieser müsse mit Blick auf das entsprechende Verfahrensstadium in diesem Sinne gelesen werden. Überzeugend ist das nicht und es wäre aufrichtiger gewesen, wenn Perrin de Brichambaut seine frühere Ansicht aufgegeben hätte, statt nun einer weiten Auslegung durch die Hintertür das Wort zu reden.
Sonstige Vorfragen, insbesondere Justiziabilität trotz Politisierung
Das von einigen Verfahrensbeteiligten vorgebrachte Argument, dass die Palästina-Frage zu politisiert und deshalb nicht justitiabel sei, konnte von der Kammer mit wenigen Worten überzeugend zurückgewiesen werden (Entsch., para. 53 ff.): Wenn die Politisierung der dem IStGH unterbreiteten Situationen zum Maßstab ihrer Justitiabilität gemacht würde, so wären damit praktisch alle Verfahren betroffen, denn gerade bei völkerrechtlichen Verbrechen makrokriminellen Ausmaßes liegen politische Dimensionen in der der Natur der Sache. Dabei ist diese Politisierung keineswegs auf völkerstrafrechtliche Verfahren beschränkt, sondern sie ist völkerrechtlichen Streitigkeiten aller Art häufig immanent, ohne dass damit die zugrundeliegenden Rechtsfragen gerichtlicher Beurteilung entzogen wären. In den Worten des Internationalen Gerichtshofs in seinem Nuklearwaffengutachten: „[t]he fact that this question also has political aspects, as, in the nature of things, is the case with so many questions which arise in international life, does not suffice to deprive it of its character as a ‘legal question’ …” Damit ist, entgegen der Ansicht der Kammer, freilich nicht gesagt, dass die potentiellen Konsequenzen einer Entscheidung mit Blick auf den zugrundeliegenden politischen Kontext ausgeblendet werden müssten, wenn sie auch im engeren Sinne nicht dem richterlichen Mandat unterfallen („outside the scope of the Chamber´s mandate“, Entsch., para. 57).
Schwieriger ist es, den Einwand zu entkräften, dass sich aus dem sog. Monetary Gold-Grundsatz9) ein Verfahrenshindernis ergeben würde (Entsch., para. 58 ff.), betrifft die von der Kammer zu treffende Entscheidung doch vor allem Israel als nichtbeteiligten Drittstaat und scheint deshalb dessen Zustimmung notwendig. Allerdings ist die Anwendbarkeit dieses Prinzips im vorliegenden Fall a limine fraglich, denn dazu müsste das israelische Interesse den „very subject matter of the decision“ zum Gegenstand haben10). Das dürfte gerade vor dem Hintergrund der von der Kammer betonten beschränkten Wirkung ihrer Entscheidung eher abzulehnen sein (zweifelnd insoweit auch abwM Kovács, para. 376). Im Übrigen weist die Kammer zutreffend darauf hin, dass Israel an dem Verfahren als Beteiligter hätte teilnehmen können und, so ist hinzuzufügen, jedenfalls seine Ansicht mehrfach deutlich gemacht hat (s. z.B. hier) und diese auch über zahlreiche amicus curiae Stellungnahmen Berücksichtigung gefunden hat.
Die Ausführungen der Kammer zum Verhältnis von strafrechtlicher Zuständigkeit („criminal jurisdiction“) und Gebietshoheit („territory of States“) (Entsch., para. 61 f.) bleiben oberflächlich, sie deuten aber das später entfaltete Verständnis der Richtermehrheit zur gerichtlichen Zuständigkeit an. In der Sache behauptet die Kammer etwas apodiktisch, unter Bezugnahme auf die Lotus Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs [StIGH] (S. 20), die wiederum in der Myanmar-Entscheidung zitiert wird (para. 66), dass die „territoriality of criminal law … is not an absolute principle … and by no means coincides with territorial sovereignty“ (Entsch., para. 62). Die Kammer leitet daraus ab, dass “any territorial determination … for the purpose of defining … territorial jurisdiction for criminal purposes has no bearing on the scope of Palestine’s territory.“ Damit wird das StIGH-Zitat aber aus dem Zusammenhang gerissen. In Lotus ging es um die extraterritoriale Erweiterung der Strafgewalt durch Territorialstaaten, insoweit deckt sich die Strafgewalt nicht mit der Territorialhoheit. Damit wollte der StIGH aber nicht sagen, dass die Strafgewalt nicht aus der Territorialhoheit, also territorialer Souveränität, abgeleitet wird. Dies ist durchaus der Fall und wenn sich die Strafgewalt eines Staates aus seiner territorialen Souveränität ableitet, dann ist diese territoriale Souveränität zugleich Voraussetzung dieser Strafgewalt11). Diese Frage ist nicht zuletzt mit Bezug auf die beschränkte palästinensische Strafgewalt in den besetzten Gebieten aufgrund der Osloer Friedensverträge von größter Relevanz in diesem Verfahren.
Der Elefant im Raum: Die (nicht notwendige?) Staatlichkeit Palästinas
Die Kammermehrheit weicht der von Deutschland und anderen Verfahrensbeteiligten geforderten Überprüfung der Staatlichkeit Palästinas aus, indem sie zum einen – methodisch – im Ergebnis nur das Statut als Primärquelle iSv Art. 21(1)(a) IStGHS anwendet und einen Rekurs auf das allgemeine Völkerrecht (Art. 21(1)(b) und (c) IStGHS) für entbehrlich erachtet (Entsch., para. 88); zum anderen hält sie eine allgemeine Prüfung der Staatlichkeit Palästinas für die Feststellung der territorialen Zuständigkeit des Gerichtshofs i.S.v. Art. 12(2)(a)(erster Halbsatz) IStGHS – „State on the territory of which the conduct in question occurred” – nicht für notwendig (Entsch., para. 89 ff.).
Was diese fundamentale Frage angeht, so argumentiert die Kammermehrheit im Kern mit einer Kombination aus der Anerkennung Palästinas als „non-member observer State“ der Vereinten Nationen durch Resolution 67/19 der UN-Generalversammlung [GV] (und nachfolgender UN-Praxis) und dem daraufhin erfolgten Beitritt Palästinas zum Statut gem. Art. 125(3) IStGHS sowie seiner Integration in die Arbeit der Vertragsstaatenversammlung (Assembly of States Parties) als dem IStGH-Legislativorgan. Die nun gegen die Staatlichkeit Palästinas und damit die Zuständigkeit des IStGH Einwände erhebenden Staaten hätten damals geschwiegen und insbesondere auch nicht den Streitbeilegungsmechanismus des Art. 119 IStGHS (hier Abs. 2) aktiviert (Entsch., para. 101). Wenn aber die internationale Staatengemeinschaft, per Beschluss der UN-GV, Staatlichkeit zuerkenne und der so anerkannte Staat seinen Beitritt zum Statut ordnungsgemäß durchführe, so stehe es dem Gerichtshof nicht an, dies alles durch eine eigene juristische Beurteilung in Frage zu stellen: „…the Rome Statute insulates the Court from making such a determination … the Court ist not constitutionally competent to determine matters of statehood that would bind the international community“ (Entsch., para. 108). Im Übrigen sei ja auch eine solche völkerrechtliche Einschätzung gar nicht notwendig, denn Art. 12(2)(a) IStGHS verlange nur, dass das inkriminierte Verhalten auf dem Gebiet einer „Vertragspartei“ geschehen sei, auf völkerrechtliche Staatlichkeit komme es also gar nicht an: „It does not, however, require a determination as to whether that entity fulfils the prerequisites of statehood under general international law.” (Entsch., para. 93; i.E. zust. Talmon).
Dazu wäre nun sehr viel zu sagen und in der Tat beschäftigt sich Richter Kovács in seiner über 160 Seiten starken (!) abweichenden Meinung ganz überwiegend mit der Frage der Staatlichkeit Palästinas, weil er anders als seine Kollegen die Klärung dieser Frage für unentbehrlich hält. Für ihn handelt es sich dabei um die „real question“, nämlich ob die palästinensischen Gebiete „hic et nunc (in 2020-2021)“ als Hoheitsgebiet eines Staates „according to well-established notions of public international law“ angesehen werden können (abw.M., para. 26). Kovács wirft seinen Kollegen insoweit in unverblümter Sprache vor, dass sie sich mit der differenzierten Staatenpraxis seit GV-Resolution 67/19 nicht genug auseinandergesetzt hätten und die bloß formale Richtigkeit des Beitrittsverfahrens zum Römischen Statut nicht die Frage der Staatlichkeit des beitretenden Subjekts beantwortet (ebd., para. 53 und passim). Wenn aber die Staatlichkeit Palästinas Voraussetzung von Beitritt zum Statut und Zuständigkeit des Gerichtshofs ist, so gehe der Prüfungsrahmen durchaus über die in Art. 21(1)(a) IStGHS genannten IStGH-internen Quellen hinaus und verweise insbesondere auf das Allgemeine Völkerrecht (ebd., para. 97 ff.); auch seien alle Auslegungsmethoden der Wiener Vertragsrechtskonvention anzuwenden (ebd., para. 59).
Kovács‘ Analyse ist zweifellos umfassend und detailliert – besonders lesenswert sind seine Ausführungen zur Unzulänglichkeit der Montevideo-Kriterien zur Staatlichkeit (para. 120 ff., 189 f.), seine Unterscheidung zwischen dem von der UN-GV zuerkannten „non-member observer State status“ und tatsächlicher Staatlichkeit (para. 219, 220 ff.) und seine gründliche Analyse der Osloer Friedensabkommen (para. 282 ff., dazu auch sogleich) –, doch muss auch er konzedieren, dass Palästina jedenfalls Vertragspartei des Statuts ist (abw.M., para. 267), weshalb es eben, wie schon angedeutet, entscheidend darauf ankommt, ob dies für die Zwecke der Bestimmung der territorialen Zuständigkeit des IStGH ausreicht. Kann also, mit anderen Worten, aus der „Vertragsstaatlichkeit Palästinas auf dessen Staatlichkeit im Sinne des Zuständigkeitsregimes“ des IStGHS geschlossen werden12), kann es die von der Anklagebehörde insinuierte und von der Kammermehrheit goutierte Sonderstaatlichkeit „for the sole purposes of the Rome Statute“13) geben?
Die Antwort ergibt sich aus Art. 12(2) IStGHS. Wenn dort im ersten Satz von „following States are Parties to this Statute“ die Rede ist, so kann darin, entgegen der Kammermehrheit (Entsch., para. 93), nicht eine Reduzierung des Staatsbegriffs über die Verknüpfung („connects“) mit Vertragsparteien („Parties…“) gesehen werden, zumal der folgende Halbsatz („or have accepted…“) auf die Annahme der Zuständigkeit durch einen „Staat“ (iSv Art. 12(3)) Bezug nimmt14) und auch Art. 12(2)(a) vom „State on the territory…“ spricht. Im Übrigen spricht Art. 12(2), anders als die Kammermehrheit nahelegt (Entsch., para. 93), begrifflich gar nicht von Vertragsstaaten („States Parties“), sondern von Staaten, die Parteien sind15) (zutr. abwM Kovács, para. 61), weshalb die Annahme einer Vertragsstaatlichkeit als separate Kategorie jedenfalls nicht unmittelbar in Art. 12 angelegt ist (eher schon in Art. 13(a), 14 IStGHS, die sich aber auf die Ausübung der Zuständigkeit beziehen und auch nicht von der Kammermehrheit angeführt werden).
Kovács ist also darin Recht zu geben, dass eine Prüfung der Staatlichkeit Palästinas unentbehrlich ist, doch scheint er mir diese vorschnell abzulehnen – Staat in statu nascendi (abw.M., para. 267 und passim) – und damit die in der GV-Resolution 67/19 liegende kollektive Anerkennung in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unterzubewerten. Dies ist überzeugend von Akande begründet worden, der zum Ergebnis kommt, dass „there are good reasons for arguing that Palestine is indeed a State under international law because of collective recognition“16). Es ist erstaunlich, dass Kovács (der im Übrigen Akande zitiert; anders als die Entsch.) gerade diese Stellungnahme übersieht.
Zwar erkennt Kovács das Selbstbestimmungsrecht – als „uncontested“ (abwM, para. 277) – an, aber für ihn ist es irrelevant zur Bestimmung der Staatlichkeit (die für ihn vor allem mit anerkannten Grenzen zu tun hat, ebd. und passim). Die Mehrheitsmeinung hingegen betont die Bedeutung dieses Rechts zur Bestimmung des konkreten palästinensischen Territoriums (als das in den Grenzen von 1967) und leitet daraus, über die Menschenrechtsklausel des Art. 21(3) IStGHS (Entsch., para. 119), die konkrete territoriale Zuständigkeit bezüglich dieses Territoriums ab (Entsch., para. 114 ff.). Insoweit hätte es nicht allzu viel argumentativen Aufwands bedurft, die Staatlichkeit Palästinas mit Blick auf die kollektive Anerkennung durch die GV in Verbindung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker herzuleiten, doch bleibt die Mehrheitsmeinung in der oberflächlichen Lektüre der GV-Resolution 96 und der formalen Überbetonung des Beitrittsverfahrens stecken.
Dies erklärt schließlich auch, dass die Kammermehrheit den Osloer Friedensabkommen, obwohl diese explizite Regelungen zur (auch strafrechtlichen) Zuständigkeit in den besetzten Gebieten enthalten, keinerlei Bedeutung beimisst (Entsch., para. 124 ff.). Sie zitiert zwar die nemo dat quod non habet rule, wonach man nicht mehr geben kann als man besitzt, doch sieht sie darin kein Zuständigkeits-, sondern ein reines Kooperationsproblem (i.S.v. Art. 97 und 98 IStGHS). Das ist nicht überzeugend, wenn man davon ausgeht, dass das IStGH-Zuständigkeitssystem auf delegierter Zuständigkeit aufgrund Vertragsbeitritt (Art. 12(2) IStGHS) oder aufgrund einer ad hoc-Unterwerfungserklärung (Art. 12(3) IStGHS) beruht. Dann muss man nämlich fragen, welche strafrechtliche Zuständigkeit der Territorialstaat überhaupt zu delegieren in der Lage ist.
Richter Kovács weist insoweit darauf hin, dass die Osloer Abkommen die palästinensische (strafgerichtliche) Zuständigkeit erheblich einschränken (abw.M., para. 372 ff.), weshalb auch nur diese eingeschränkte Zuständigkeit an den IStGH delegiert werden könne. In der Logik der Delegationstheorie ist dies zutreffend und es entspricht der in diesem Zusammenhang vertretenen funktionalen Interpretation von Art. 12 IStGHS17). Was die strafrechtliche Zuständigkeit angeht, so ist insoweit auf Art. I des Interim Agreement (Annex IV) hinzuweisen, wonach die palästinensische Autonomiebehörde insbesondere keine strafrechtliche Zuständigkeit über israelische Staatsangehörige besitzt, die Siedlungen und militärische Installationen von der Zuständigkeit ausgenommen sind und im Übrigen nach den unterschiedlichen Bereichen A, B und C zu differenzieren ist. Für israelische Staatsangehörige kann damit die Autonomiebehörde überhaupt keine Zuständigkeit an den IStGH delegieren und auch darüber hinaus ist ihre Delegationsbefugnis erheblich eingeschränkt. Etwas anderes könnte sich insoweit nur ergeben, wenn man die Delegationstheorie ablehnt und – aufgrund eines genuin völkerstrafrechtlichen ius puniendi (s. hier) – von einer bestehenden Zuständigkeit des IStGH ausgeht, die nur noch aktiviert werden muss. Denn eine solche Aktivierung kann durch die Überweisung einer Vertragspartei erfolgen (Art. 13(a), 14 IStGHS), würde also den von der Kammermehrheit vertretenen vertragsstaatlichen Ansatz stützen. Dieses Argument sucht man aber vergebens.
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Schon diese knappe Analyse dürfte deutlich gemacht haben, dass die Frage der Zuständigkeit des IStGH für die palästinensischen Gebiete noch nicht endgültig geklärt ist und uns im Verlaufe dieses Verfahrens weiter beschäftigen wird. Dies auch deshalb, weil die Kammermehrheit ihre Entscheidung explizit auf das „current stage of the proceedings“, also die Eröffnung förmlicher Ermittlungen durch die Anklagebehörde gem. Art. 13(a), 14 und 53(1) IStGHS, beschränkt hat (Entsch., para. 131). Eine weitere Klärung durch die fünfköpfige Rechtsmittelkammer wäre wünschenswert, steht aber nicht zu erwarten, weil die Anklagebehörde als rechtsmittelberechtigte Antragstellerin ihr Ziel, jedenfalls im Ergebnis, erreicht hat; es ist fraglich, ob die betroffenen Staaten, insbesondere Israel, überhaupt rechtsmittelberechtigt (aktivlegitimiert) sind18). Die außerordentlich große Beteiligung von Staaten und zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Kontroverse innerhalb der Richterschaft machen zugleich deutlich, dass sich die Kammer die Entscheidung keineswegs leicht gemacht hat, weshalb politische Diffamierungen jeder Art („purer Antisemitismus“) an der Sache vorbeigehen.
References